Rumo & die Wunder im Dunkeln

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Walter Moers‘ dritter Zamonien-Roman, „Rumo & die Wunder im Dunkeln“, markiert einen interessanten Wendepunkt in der Konzeption der Reihe und verfügt zudem über ein äußerst faszinierendes Alleinstellungsmerkmal. Beginnend mit „Rumo“ ändert sich der Tonfall der Romane deutlich – „Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär“ und „Ensel und Krete“ wiesen noch einen deutlich humortischten bzw. parodistischen Tonfall auf. Während Moers‘ Humor in den späteren Zamonien-Romanen zwar keinesfalls verloren geht und auch parodistische Elemente erhalten bleiben, wird der Tonfall in „Rumo“ deutlich düsterer, grimmiger und ernster. Eine vergleichbare Entwicklung lässt sich bei den Illustrationen beobachten: Waren diese in den beiden Vorgängern noch stärker an Moers‘ Comicstil angelehnt, so sind sie ab „Rumo“ deutlich detaillierter und geerdeter.

Zudem ist „Rumo“ der letzte Roman der Reihe, der als direktes Spin-off von „Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär“ verstanden werden kann. „Ensel und Krete“ arbeitete noch sehr direkt mit diversen Elementen aus dem Erstling und griff Handlungsfäden auf, etwa die Buntbären, die Waldspinnenhexe und natürlich Hildegunst von Mythenmetz, dessen Werke Blaubär immer wieder konsumiert. Auch der Titelheld des dritten Romans durfte sein Debüt bereits in „Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär“ feiern, ebenso wie die sekundäre Hauptfigur Volzotan Smeik. Trotz dieses Umstandes setzte Moers die in „Ensel und Krete“ begonnene Separierung von Zamonien und Käpt’n Blaubär fort. Im Roman des Seebären taucht Rumo zu Beginn auf, dort wird er von Blaubär und dem Rettungssaurier Mac gerettet, und später in Atlantis, wo er als Bodyguard der mafiösen Haifischmade Volzotan Smeik fungiert, seinen Arbeitgeber aber verrät, um Blaubär zu helfen. In der Theorie spielt „Rumo“ komplett zwischen diesen Ereignissen, wobei Ersteres weder erwähnt noch angedeutet wird und Letzteres nicht zu den Ereignissen des Romans passen will. Das erlaubt die Theorie, dass der chronische Lügner Blaubär Rumo und Volzotan Smeik vielleicht in Wahrheit überhaupt nicht begegnet ist, sondern lediglich von ihnen gehört oder über sie gelesen und anschließend in sein Seemannsgarn eingebaut hat. Vor allem Smeik ist in „Rumo“ eine radikal andere Figur als in „Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär“. Subtile Anspielungen finden sich dennoch, vor allem beim Auftritt von Professor Dr. Abdul Nachtigaller, der auf der Kirmes sehen will, ob es sich bei der vollmundig angekündigten Fredda tatsächlich um eine Berghutze handelt. Besagte Fredda ist im Zamonien-Erstling eine Schülerin in Nachtigallers elitärer Nachtschule.

Neben Rumo, Smeik und Nachtigaller tauchen natürlich noch diverse weitere Elemente aus den ersten beiden Zamonien-Romanen auf. Hildegunst von Mythenmetz ist ebenfalls präsent, wenn auch indirekt durch die mehrfache Erwähnung diverser Werke. Zudem macht es sich Moers zur Gewohnheit, Dinge, die in vorherigen Romanen kurz angerissen werden, ausführlich zu schildern. Die diversen Belagerungen der Lindwurmfeste werden in „Ensel und Kretel“ sehr knapp erwähnt und in „Rumo“ von einem Beteiligten detailliert erläutert. Im Gegenzug deutet Moers bereits Inhalte von „Die Stadt der träumenden Bücher“ an, nicht nur fällt Colophonius Regenscheins Name, der Eydeet Dr. Oztafan Kolibril liest den Roman (eigentlich die ersten beiden Kapitel von Hildegunst von Mythenmetz‘ ausufernder Autobiographie „Reiseerinnerungen eines sentimentalen Dinosauriers“) tatsächlich innerhalb der Narrative und gibt eine kurze Zusammenfassung des Inhalts. Im Gegensatz dazu sagt ihm „Der sprechende Ofen“, ein weiterer Mythenmetz-Roman, der in „Ensel und Krete“ thematisiert wird, überhaupt nicht zu.

In diesem Kontext kommen wir auch gleich zum Alleinstellungsmerkmal des dritten Zamonien-Romans: Es ist der einzige ohne einen diegetischen Erzähler oder einen fiktiven Autor. Bei „Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär“, „Die Stadt der träumenden Bücher“, „Das Labyrinth der träumenden Bücher“ und dem im September 2023 erscheinenden Roman „Die Insel der 1000 Leuchttürme“ handelt es sich um autobiografische Werke, „Weihnachten auf der Lindwurmfeste“ ist ein Brief und „Ensel und Krete“, „Der Schrecksenmeister“, „Prinzessin Insomnia und der alptraumfarbene Nachtmahr“ sowie „Der Bücherdrache“ sind von Hildegunst von Mythenmetz verfasste Romane. Die Thematik des unzuverlässigen Erzählers ist eine, die sich durch sämtliche Zamonien-Romane zieht. Auch in „Rumo“ ist sie vorhanden, wird aber nicht, wie sonst, über die Erzählinstanz des Romans oder eine Autorenfiktion vermittelt. Der extradiegetische Erzähler von „Rumo“ ist tatsächlich allwissend (Erzähler mit Nullfokalisierung) und er hält, ähnlich wie es in Tolkiens „The Lord of the Rings“ der Fall ist, immer wieder die eigentliche Handlung an, um Hintergründe zu erläutern und dem Leser Dinge zu erklären, die die Figuren nicht wissen bzw. nicht wissen können. Zudem hat er die Angewohnheit, in die Köpfe fast aller Figuren hineinzusehen, ein erzählerischer Kniff, der mich sonst eher stört, hier aber ziemlich gut zur Natur des Romans passt. Neben den Erläuterungen des extradiegetischen Erzählers haben zudem die Figuren die Tendenz, einander Geschichten zu erzählen und so Binnenerzählungen zu eröffnen, wobei sie dabei oft selbst als unzuverlässige Erzähler fungieren. Das beste Beispiel ist Volzotan Smeik, der Rumo von der Belagerung der Lindwurmfeste erzählt, seine eigene Rolle bei diesem Ereignis allerdings verschweigt. Die eigentliche Geschichte der Titelfigur ist eine recht geradlinige Angelegenheit, durch die ganzen Binnenerzählungen, die Geschichten innerhalb der Geschichten, gewinnt der Roman allerdings eine beeindruckende Komplexität, nicht zuletzt, da jede Binnenerzählung für die Gesamthandlung wichtig ist und im Finale Auswirkungen hat. Extrem beeindruckend ist zugleich, wie Moers es dabei gelingt, den Leser an diesen Roman zu binden. Gerade in Bezug auf atemlose Spannung waren sowohl „Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär“ als auch „Ensel und Krete“ vielleicht nicht unbedingt Idealbeispiele, bei Ersterem bedingt durch die episodische Natur, bei Letzterem durch die Mythenmetz’schen Abschweifungen. Eine gewisse Episodenhaftigkeit findet sich bei „Rumo“ zwar auch, aber durch die Dynamik von Moers‘ Stil bleibt man hier regelrecht an den Seiten kleben.

Walter Moers ist bekannt dafür, in seinen Romanen mit Genres zu spielen und diese im Kontext von Zamonien auszuprobieren. Natürlich sind alle Zamonien-Romane in irgendeiner Form Fantasy, in dem Sinn, dass sie in einer Sekundärwelt mit vielen absonderlichen Kreaturen spielen, das Sub-Genre wechselt allerdings. „Rumo & die Wunder im Dunkeln“ ist klassischer Fantasy tatsächlich am nächsten, da Moers mit seinem dritten Zamonien-Roman explizit eine Abenteuergeschichte verfassen wollte, nicht unbedingt angelehnt an zeitgenössische Fantasy, aber sehr wohl an deren Vorbilder, etwa die mittelalterliche Helden- und Artusepik und diverse Sagen und Mythologien im Allgemeinen. Natürlich wäre es nicht Walter Moers, würde er diese Vorbilder nicht dekonstruieren, ironisch brechen und durch seine eigene Linse betrachten. Ein weiterer großer Unterschied zwischen „Rumo“ und den restlichen Zamonien-Romanen ist der eigentliche Protagonist. Moers selbst gab in einem Interview zu Protokoll, die meisten seiner Protagonisten seien „nur mit dem Maul sportlich“, oft sind sie Trickster (Blaubär, Echo), Intellektuelle (Hildegunst von Mythenmetz) oder körperlich auf die eine oder andere Weise beeinträchtigte oder schwache Charaktere (Ensel und Krete, Prinzessin Insomnia). Zwar werden diese Figuren durchaus in Action verwickelt, aber stets unfreiwillig und meist zu ihrem Nachteil. Rumo ist der einzige Protagonist, der tatsächlich als Actionheld fungiert und die meisten Kämpfe, in die er verwickelt wird, auch gewinnt oder zumindest eine ernsthafte Chance auf den Sieg hat. Zugleich ist er aber auch der charakterlich am wenigsten ausgeprägte Moers-Protagonist. Rumo fungiert als Handlungsträger, in besagtem Interview nennt Moers ihn „eine kleine Lokomotive, die nicht viel reflektiert“. Das geht soweit, dass Rumo im Verlauf der Handlung ein telepathisches Schwert (bzw. Käsemesser) erhält, in dem zwei Persönlichkeiten stecken, die das Reflektieren gewissermaßen für ihn übernehmen. Im Sinne vieler klassischer Geschichten ist Rumo somit eher Projektionsfläche denn komplexer Charakter, es sind die Figuren um ihn herum, die eigentlich interessant sind. Ähnlich wie viele typische Sagen-Helden, sei es Siegfried, Parzival oder Herakles, ist Rumo ein recht passiver Charakter, der selten eine eigene Agenda hat und Ziele verfolgt, er agiert meistens nicht, sondern reagiert. Selbst Rumos zentrale Motivation, der silberne Faden, fällt in diese Kategorie, es ist ein Instinkt, dem er zu Anfang folgt, ohne zu wissen, was das Ganze zu bedeuten hat. Und selbsr als er es weiß, folgt er diesem Instinkt weiter und hinterfragt ihn nicht. Trotzdem funktioniert dieser klassische Handlungsaufbau sehr gut, da wir als Leser zu Beginn genauso viel über die Welt, in die Moers uns hineinwirft, wissen wie Rumo selbst, nämlich fast nichts. Als Leser lernt man alle Schauplätze, Gegebenheiten und Hintergründe zusammen mit Rumo kennen, von den Teufelsfelsen über Wolperting bis hin zu Hel. Rumos Weg durch Zamonien orientiert sich ebenfalls an der Handlungsstruktur klassischer Sagen und Mythologien, die Elemente der Campbell’schen Heldenreise lassen sich problemlos ausmachen. Wie so viele andere Helden, etwa Orpheus oder Herakles, muss auch Rumo in die Unterwelt hinabsteigen und eine metaphorische Hölle durchqueren, wobei deren metaphorische Natur durchaus diskutabel ist, heißt die Hauptstadt von Untenwelt doch tatsächlich Hel.

Ein weiterer Aspekt der Artus-Epik und höfischer Literatur des Mittelalters findet sich in dem zentralen, aus Rumo und der Wolpertingerin Rala bestehenden Pärchen. Eine tatsächliche Beziehungsdynamik gewährt Moers den beiden nicht, da sie den kompletten Roman brauchen, um überhaupt zum Paar zu werden, stattdessen kreiert er ein lang andauerndes „Minne-Verhältnis“, da Rumo praktisch den gesamten Roman bewusst oder unbewusst um die Angebetete wirbt oder zumindest zu ihr gelangen möchte. Es ist Rala, die den silbernen Geruchsfaden aussendet, dem Rumo von Anfang an folgt und der zugleich als roter Faden fungiert. Bei seinen Minne-Bemühungen stellt sich Rumo freilich so ungeschickt an, dass Moers damit das ganze Konzept praktisch ad absurdum führt. Ein weiteres Element der Heldenepik ist die Brutalität – gerade bezüglich der Gewalt geht es in „Rumo“ deutlich heftiger zu als in den beiden Vorgängern, auch das natürlich in bester Genre-Tradition. Man erinnere sich nur an, sagen wir, das Gemetzel am Ende des „Nibelungenlieds“. Wer sich eine wirklich ausführliche Auseinandersetzung mit dieser Thematik wünscht, dem kann ich den Aufsatz „‚Blut! Blut! Blut‘ Die Artusepik als Erbgut wortkarger Wolpertinger“ von Maren J. Konrad, erschienen in der Aufsatzsammlung „Walter Moers‘ Zamonien-Romane. Vermessung eines fiktionalen Kontinents“, herausgegeben von Gerrit Lembke, nur ans Herz legen.

Damit hören die literarischen Anspielungen und Referenzen natürlich nicht auf. Eine äußerst ironische Brechung der Heldenepik findet sich in der Figur des Uschan DeLucca, seines Zeichens Fechtlehrer der Wolpertinger, der sich einen Fechtgarten geschaffen hat. Dieser nimmt gnadenlos jedes Klischee der klassischen Mantel-und-Degen-Filme aufs Korn, die ja oft ihrerseits wiederum Adaptionen von Heldenepen und mittelalterlichen Sagen sind. Eine der Binnenhandlungen, das Tagebuch Oztafan Kolibrils, erinnert zudem sowohl an das Buch von Mazarbul (die Zwergenaufzeichnung, die Gandalf den Gefährten in Moria vorliest) aus „The Lord of the Rings“ als auch an die Werke H. P. Lovecrafts. Smeiks Situation gleicht der der Gefährten, er findet sich in einer Falle wieder und erfährt dort über ein Schriftstück vom Schicksal seines Vorgängers, während ihm dasselbe Schicksal droht, während der Aufbau und die Atmosphäre besagten Tagebuchs sich an Lovecraft orientieren. Die Einwohner Hels schließlich rufen bei mir gewisse Erinnerungen an die Drow (Dunkelelfen) aus „Dungeons and Dragons“ wach; zwar sind die Hellinge nicht matriarchalisch organisiert (und auch deutlich weniger attraktiv), aber davon abgesehen finden sich diverse Parallelen in Lebensweise und Gesellschaft. Gaunab, ihr Herrscher, scheint schließlich eine Parodie des stereotypen Caesarenwahnsinns zu sein, historisch personifiziert durch Caligula und Nero und in diversen fiktionalen Werken natürlich ordentlich ausgeschlachtet.

Fazit: „Rumo & die Wunder im Dunkeln“ ist nicht nur ein grandioses, postmodernes und metafiktionales Heldenepos, sondern auch ein „Page Turner“ im wahrsten Sinn des Wortes. Dieses Werk hätte problemlos Moers‘ Opus Magnum und das Highlight der Zamonien-Romane sein können, gäbe es da nicht noch „Die Stadt der träumenden Bücher“…

Bildquelle (Copyright: Penguin-Random House)

Siehe auch:
Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär
Ensel und Krete
Der Bücherdrache
Art of Adaptation: Die Nibelungen (Roman Wolf)

Art of Adaptation: Die Nibelungen (Roman Wolf)

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Während Hollywood alle paar Jahre eine, meistens zum Scheitern verurteilte, Neuadaption der Geschichten um Robin Hood oder König Artus herausbringt und selbst die Sagen der griechischen Mythologie es immer wieder auf die Leinwand schaffen, sind Filme, die den Nibelungenstoff, praktisch das deutsche Gegenstück, umsetzen, äußerst rar geworden. Die letzte Produktion, an die ich mich erinnern kann, war der zweiteiliger Fernsehfilm „Die Nibelungen“ aus dem Jahr 2004; Regie führte Uli Edel, Benno Fürmann spielte Siegfried, Kristanna Loken Brunhild und ein Prä-Harry-Potter Robert Pattinson war als Giselher zu sehen. Trotz der Namensgleichheit ist dieser Zweiteiler allerdings nicht Sujet dieses Artikels, denn im Gegensatz zu Filmemachern greifen Autoren nur allzu gerne auf den Nibelungenstoff zurück – schließlich müssen sie sich nicht mit Budgetfragen beschäftigen. Die neueste Prosadaption des Stoffes ist der Romanerstling des Berliner Autoren Roman Wolf und zugleich auch der Grund, weshalb ich mich aktuell mal wieder mit dem Sagenkomplex beschäftige.

Konzept und Handlung
Bei einer Adaption des Nibelungen-Stoffes gibt es eine Reihe von Ansätzen, die man als Autor verfolgen kann. Der amerikanische Schriftsteller Stephan Grundy konzentriert sich in seinem Roman „The Rhinegold“ (1992) beispielsweise auf die nordische Version der Sage, während Wolfgang Hohlbein die ganze Angelegenheit in seinem Frühwerk „Hagen von Tronje“ (1986) aus der Sicht des vermeintlichen Schurken schildert. Roman Wolf hingegen orientiert sich sehr stark am „Nibelungenlied“, dem mittelalterlichen Versepos, bemüht sich aber, die Anachronismen auszumerzen. Technisch gesehen spielt das „Nibelungenlied“ während der Zeit der Völkerwanderung, was sich allein an der Präsenz Attilas des Hunnen (alias Etzel) zeigt. Der ursprüngliche Sagenstoff oder die historische Grundlage (die zu erläutern deutlich zu viel Platz einnehmen würde, nicht zuletzt, da es hier ebenso viele unbestätigte Vermutungen wie Kontroversen gibt) stammt wohl aus der Zeit der Völkerwanderung und entwickelte sich in verschiedene Richtungen. Während die nordischen Versionen, etwa die Völsunga saga oder die Thidrekssaga, noch mit „heidnischer Mythologie“ verknüpft sind, ist das „Nibelungenlied“ christianisiert und zeigt Worms, den primären Handlungsort, als mittelalterlich-höfische Welt. Diesen Umstand „korrigiert“ Wolf: Die Handlungsentwicklung ist dieselbe wie im „Nibelungenlied“ (mit diversen Anpassungen und Abänderungen, versteht sich), aber wir haben es mit einem eindeutig spätantiken Setting in der frühen Völkerwanderungszeit zu tun, inklusive eines Subplots, in dem ein schwächer werdendes und inzwischen christianisiertes römisches Imperium eine Rolle spielt. Dieser hat im Gesamtkontext des Romans zwar nur eine relativ geringe Bedeutung, sorgt aber sofort für eine völlig andere Zuordnung.

Davon abgesehen verlässt Wolf selten die vertrauten Handlungselemente: Siegfried von Xanten besiegt zu Beginn einen Drachen und bringt einen gewaltigen Schatz an sich, landet nach weiteren Abenteuern in Worms, verliebt sich in die königliche Schwester Kriemhild und hilft dem Burgundenherrscher Gunther dabei, die enigmatische Brunhild als Ehefrau zu gewinnen, die nur den heiratet, der sie besiegt, was Siegfried unter Vorspiegelungen falscher Tatsachen für Gunther erledigt. Dies wiederum führt zum Konflikt zwischen Kriemhild und Brunhild, während der intrigante Berater Gunthers, Hagen von Tronje, einen Weg sucht, um an den Schatz zu kommen. Er nutzt die Intrige um Brunhilds Brautwerbung, um Siegfried anzuklagen und ihn schließlich zu töten. Daraufhin schwört Kriemhild, inzwischen Siegfrieds Ehefrau (bzw. Witwe), Rache. Zu dieser verhilft ihr Jahre später Attila, der ihr zweiter Ehemann wird: Ihre Verwandtschaft wird an Attilas Hof geladen, und was als Feier beginnt, artet zum brutalen Gemetzel aus, das kaum eine Figur überlebt. Diese knappe Handlungszusammenfassung (eine ausführlichere Besprechung des Versepos findet sich hier im Wissenstagebuch) funktioniert sowohl für Wolfs Roman als auch für das Versepos. In einem Roman wie „Die Nibelungen“ kommt es weniger darauf an, was passiert, die Handlung ist schließlich bereits seit vielen Jahrhunderten bekannt, sondern wie es passiert und wie Wolf den Plot und die Figuren interpretiert. Im Großen und Ganzen inszeniert er die Geschichte als historischen Roman, während fantastische und mythische Elemente kaum eine Rolle spielen.

Stilistisch ist der Roman insgesamt recht geerdet und angenehm, nicht unbedingt allzu anspruchsvoll und ohne größere Experimente, aber auch nicht zu simpel. Ein Aspekt, der mich allerdings doch ein wenig gestört hat, ist der Umstand, dass Wolf recht häufig die Perspektive wechselt und recht abrupt vom Kopf des einen Charakters in den des nächsten „springt“. Das ist freilich persönliche Präferenz, ich ziehe diesbezüglich eine stärkere Separierung, bspw. durch Kapitel vor und finde es auch besser, wenn es eine Reihe von Figuren gibt, deren Gedanken man als Leser nicht kennt. Vielleicht bin ich da zu sehr durch George R. R. Martin und seine PoV-Kapitel in „A Song of Ice and Fire“ geprägt. Apropos George R. R. Martin, da ich den Roman in Hörbuchform konsumiert habe, hat er bei mir durchaus ASoIaF-Vibes ausgelöst, da Reinhard Kuhnert als Sprecher fungiert. Kuhnert ist praktisch Martins deutsche Hörbuchstimme und hat neben ASoIaF sowie den diversen Zusatzwerken auch „Tuf Voyaging“ (dt. Titel „Der Planetenwanderer“) und „Fevre Dream“ eingelesen.

Magie und Mythos
Wie erwähnt ist „Die Nibelungen“ primär als historischer Roman konzipiert. Die größte Ausnahme ist der Drache, dem Siegfried seinen Titel als Drachentöter verdankt. Besagter Drache spielt vor allem in den nordischen Versionen und in Wagners Opernzyklus „Der Ring des Nibelungen“ eine wichtige Rolle. Dort trägt er den Namen Fafnir bzw. Fafner und ist zumeist ein Riese, der sich aus dem einen oder anderen Grund in einen Drachen verwandelt. Im „Nibelungenlied“ ist der Drache hingegen lediglich Teil von Siegfrieds Vorgeschichte, gehört aber nicht zur eigentlichen Handlung. Zu Beginn des Werkes ist er bereits durch Siegfrieds Hand gefallen, bleibt namenlos und spielt auch keine Rolle mehr. Wolf setzt mit der Handlung früher ein als das Versepos, sodass die Drachentötung und Schatzgewinnung eines der Eröffnungsereignisse des Romans ist, mit den Hintergründen der Kreatur oder selbst ihrem Aussehen beschäftigt er sich allerdings nicht groß und bleibt sehr vage. Ähnlich verhält es sich mit Siegfrieds Unverwundbarkeit und der Tarnkappe; Erstere kommt hier nicht vom Bad im Drachenblut, sondern von einer Rüstung, die vielleicht übernatürlich ist, vielleicht auch nicht, aber definitiv am Rücken eine Schwachstelle hat, während die „Tarnkappe“ lediglich ein das Gesicht verbergender Helm ist, mit dem Brunhild getäuscht wird.

Die heidnischen Götter spielen, anders als im „Nibelungenlied“, durchaus eine gewisse Rolle, bei weitem aber nicht dieselbe wie in Wagners „Ring des Nibelungen“ als handelnde Personen. Stattdessen inszeniert Wolf hier einen Konflikt zwischen alter und neuer Religion, zwischen dem Glaube an Wodan, Donar und die germanischen Götter auf der einen und dem von Rom gebrachten, noch jungen Christentum auf der anderen Seite. Siegfried, die Xantener und auch Brunhild und die Ihren sind Anhänger der alten Götter, während die Burgunder sich im Zwiespalt befinden, Kriemhild und ihre Mutter Ute haben das Christentum angenommen, viele andere Burgunder hängen aber noch dem alten Glauben an, was immer wieder zu Konflikten führt, mit denen sich Gunther und seine Brüder auseinandersetzen müssen. Diesem Konflikt wird vor allem zu Beginn eine größere Rolle zugewiesen, mit fortschreitender Handlung tritt er allerdings immer weiter in den Hintergrund.

Siegfried und Brunhild
In den nordischen Versionen der Nibelungensage spielt Siegfrieds Familie eine nicht zu unterschätzende Rolle, die Völsunga saga ist gar nach seinem Geschlecht, den Völsungen bzw. Wölsungen bzw. Wälsungen (es existieren sehr viele Schreibweisen) benannt. Dort fungiert Odin persönlich als Stammvater, die Linie setzt sich mit den mythischen Königen Sigi und Rerir fort, Rerirs Sohn (und damit Odins Urenkel) ist schließlich der namensgebende Wölsung, dessen Sohn Sigmund wiederum Vater des Drachentöters Sigurd, der nordischen Version von Siegfried ist. Wagner dampfte diesen umfassenden Stammbaum ein, machte aus Odin bzw. Wotan und Wälse (also Wälsung) dieselbe Person, sodass nun Siegmund (bei Wagner in der Schreibweise des „Niebelungenlieds“) der Sohn des Göttervaters ist. Dessen drei andere Söhne werden aus der Geschichte getilgt, nicht aber der Inzest, den Sigmund mit seiner Zwillingsschwester Signey (bei Wagner Sieglinde) begeht – nur dass in der Völsunga saga nicht Sigurd, sondern Sinfiötli aus dieser Verbindung hervorgeht. Lange Rede, kurzer Sinn, in „Die Nibelungen“ spielt das alles keine Rolle, Siegmund und Sieglinde sind wie im „Nibelungenlied“ das Herrscherpaar von Xanten und spielen nach dem Anfang des Romans keine große Rolle mehr. Ein Element, das dagegen eine sehr große Rolle spielt, ist die Beziehung zwischen Siegfried und Brunhild, bei der sich Wolf eher an der nordischen Auslegung bzw. Wagner orientiert.

Im „Nibelungenlied“ bleibt es sehr vage, ob Siegfried und Brunhild, die hier Königin von Island ist, eine wie auch immer geartete Vorgeschichte haben, zweifellos weiß Siegfried mehr über sie als Gunther und seine Mannen, hat jedoch anscheinend kein Problem damit, Gunther dabei zu helfen, sie in einer Reihe von Wettkämpfen zu besiegen. In den nordischen Quellen und bei Wagner hingegen ist Brunhild eine Walküre und hat eine Beziehung mit Siegfried, bevor ihn Gunther (bzw. ähnlich konzipierte Figuren) dazu bringen, die Angebetete mithilfe eines Zaubertranks zu vergessen. Auf diese Weise entsteht die noch deutlich problematischere Variante, in der Brunhild (ihrer Sicht nach) von ihrer großen Liebe verraten wird. Im „Nibelungenlied“ hingegen ist es primär eine Statusfrage und keine derart persönliche Angelegenheit. In keiner dieser Versionen kommt Siegfried besonders gut weg, aber es gibt doch immer zumindest gewisse mildernde Umstände, entweder fehlt die Beziehung zu Brunhild, oder aber Siegfried wird per Zaubertrank bearbeitet. Wolf entscheidet sich in „Die Nibelungen“ dafür, Siegfried die volle Bürde aufzuladen: Nicht nur hat er zuerst eine Beziehung zu Brunhild, bevor er sich nach Worms begibt, ihm wird auch kein magischer Trank verabreicht, stattdessen betrügt er seine Angebetete mit Kriemhild und wird anschließend von Gunther erpresst.

Brunhild ist hier weder eine Walküre noch Königin von Island, sondern stattdessen Herrscherin des Suavawaldes, der laut Nachwort des Romans im Harz liegt. Mehr noch, sie posiert als ihre eigene (nicht existente) Zwillingsschwester, um ihrer heimlichen Leidenschaft, dem Schmieden nachgehen zu können. In dieser Funktion ist sie für die Erschaffung von Siegfrieds Schwert und seiner Rüstung verantwortlich. Dies kann als Anspielung auf Wagner verstanden werden, dort ist es ebenfalls nicht das Drachenblut, das Siegfried unverwundbar macht, sondern Brunhilds Zauberkraft. Um ihre Gunst zu gewinnen, muss Gunther sie, anders als im „Nibelungenlied“, nicht in einer Reihe von Wettkämpfen, in welchen ihm der durch die Tarnkappe unsichtbare Siegfried unter die Arme greift, sondern im Zweikampf besiegen. Auch der zweite Kampf gegen Brunhild wird in „Die Nibelungen“ deutlich anders inszeniert als im „Nibelungenlied“, in welchem diese sich nach der Hochzeit mit Gunther weigert, die Ehe zu vollziehen. So muss Siegfried mit Tarnkappe erneut Brunhild bändigen, damit Gunther sie entjungfern kann, wodurch sie letztendlich ihre übernatürliche Stärke verliert. Da Siegfried Brunhild Gürtel und Ring abnimmt, um sie später Kriemhild zu schenken, entsteht das Gerücht, in Wahrheit habe Siegfried, nicht Gunther die Ehe vollzogen. Eine derartige Handlungsentwicklung wird inzwischen freilich als recht problematisch wahrgenommen, weshalb Wolf zwar eine ähnliche Situation schafft, Brunhild dabei aber nicht nur deutlich aktiver agieren, sondern sie überhaupt die Bedingungen dafür diktiert lässt, dass sie die brave Ehefrau spielt.

Kriemhilds Rache
Zwar wird gemeinhin Siegfried als Protagonist des „Nibelungenlieds“ wahrgenommen, das ist jedoch eine Fehleinschätzung, schließlich stirbt er bereits in der Mitte des Werkes. Die eigentliche Hauptfigur ist Kriemhild, nicht nur ist sie im zweiten Teil diejenige, die gnadenlos die Handlung vorantreibt, sie ist auch die Figur, die als erste, direkt in der ersten Aventiure vorgestellt wird, während Siegfried erst in der zweiten auftaucht. Ein zentrales Element des „Nibelungenlieds“ ist die Parallelentwicklung von Kriemhild und Brunhild. Kriemhild beginnt als fest in der höfischen Welt verwurzelte Figur, die Gewöhnliche, die Unspektakuläre, im Vergleich zu Brunhild, der übernatürlichen und exotischen Außenseiterin. Nachdem Brunhild allerdings zwei Mal besiegt wird, wird sie erst Teil der höfischen Welt und versinkt nach Siegfrieds Tod in der Bedeutungslosigkeit. Im zweiten Teil des Versepos spielt sie keine Rolle mehr, während Kriemhild sich zum Racheengel entwickelt, die höfische Welt verlässt, Etzel/Attila zu ihrem Werkzeug macht und schließlich ein Massaker an ihren Anverwandten, denen sie nicht zu Unrecht die Schuld an Siegfrieds Tod gibt, inszeniert. Diese doch sehr krasse Parallelentwicklung ist ein Element, das Wagner beispielsweise überhaupt nicht interessiert, weshalb seine Versionen von Brunhild und von Kriemhild (die in der „Götterdämmerung“ den Namen Gutrune trägt) sie auch nicht durchmachen, stattdessen ist und bleibt Brunhild die zentrale Weibliche Figur der Opern-Tetralogie – und das, obwohl sie im „Rheingold“ nicht einmal auftaucht. Wolf schien diese Parallelentwicklung wohl ebenfalls ein wenig zu krass bzw. zumindest für ein modernes Publikum zu unbefriedigend. Während sich Kriemhild in „Die Nibelungen“ ziemlich genauso entwickelt wie im Versepos, räumt Wolf Brunhild doch ein wenig mehr Platz ein, zeigt auf, wie sie sich nach Siegfrieds Tod als Figur entwickelt und gewährt ihr gewissermaßen das letzte Wort mit einem Epilog, der an Brunhilds finale Szene im „Ring des Nibelungen“ erinnert.

Obwohl es falsch wäre zu sagen, dass Wolf die zweite Hälfte des „Nibelungenlieds“ stiefmütterlich behandelt, fällt doch auf, dass er ihr und Kriemhilds Rache deutlich weniger Platz einräumt, als es bei der ersten Hälfte der Fall war. Zwar ist Kriemhild auch hier ohne Zweifel die eigentliche Hauptfigur des gesamten Romans, zugleich scheint es aber, als habe ihn die erste Hälfte des Versepos deutlich mehr interessiert als die zweite. Dies zeigt sich nicht zuletzt an den Ausgestaltungen und Eigeneinfällen, die in diesem Teil des Romans deutlich spärlicher ausfallen. Auffällig ist zudem, dass Wolf aus historischen Gründen auf den gemeinhin mit dem Ostgotenkönig Theoderich gleichgesetzten Dietrich von Bern verzichtet, der im „Nibelungenlied“ beim finalen Massaker zugegen ist. Gewissermaßen als Ersatz ist der römische Heermeister Flavius Aëtius präsent, der als Hauptrepräsentant des römischen Subplots fungiert.

Zum Abschluss noch eine Beobachtung bezüglich des Romantitels: Die Bedeutung des Wortes „Nibelungen“ bzw. die Identität besagter Gruppe ändert sich von Version zu Version, mal ist die Rede von einer familiären Abstammung, im „Nibelungenlied“ ist König Nibelung beispielsweise der ursprüngliche Besitzer des Nibelungenschatzes, seines Nachkommen sind dementsprechend die Nibelungen. Zumeist handelt es sich bei den Nibelungen um übernatürliche Wesen, primär Zwerge, gerne werden aber auch die Gibichungen, also Gunther, Hagen und Co. in letzter Konsequenz als Nibelungen identifiziert. Im Roman, der diesen Namen trägt, handelt es sich bei den Nibelungen allerdings nur um Brunhilds Leibgarde, deren Anführer den Namen Nibel trägt, weshalb seine Mannen als Nibelungen bezeichnet werden. Diese Konstruktion erscheint mit persönlich ein wenig antiklimatisch.

Fazit: In seinem Roman „Die Nibelungen“ inszeniert Roman Wolf das „Nibelungenlied“ als historischen Roman, der fest in der Zeit der Völkerwanderung verwurzelt ist. Dabei folgt er dem Plot des mittelalterlichen Versepos recht genau, nimmt aber größere und kleinere Feinjustierungen an den Figuren vor, um diese einem modernen Publikum zugänglicher zu machen. Alles in allem eine gelungene Neuinterpretation des „Nibelungenlieds“ vor spätantikem Hintergrund.

Bildquelle (Copyright: Rütten & Loening)

Siehe auch:
Wagner: Der Ring ohne Worte
Art of Adaptation: Der Ring des Nibelungen – RBB-Hörspiel
Art of Adaptation: Der Ring des Nibelungen – Comic von P. Craig Russel
Götterdämmerung

Art of Adaptation: Strider

Das zehnte Kapitel des „Lord of the Rings“ beinhaltet einen weiteren, ziemlich langen Dialog, der in der Jackson-Verfilmung deutlich reduziert wurde – die gesamte Angelegenheit umfasst auf der Leinwand gerade einmal etwa eine Minute und wurde zudem noch deutlich zügiger inszeniert – Jackson und Co. verliehen der Szene eine Dringlichkeit, die im Roman nicht vorhanden ist, nicht zuletzt, weil die Nazgûl auch hier noch eine ferne, schwer einzuschätzende Bedrohung sind und primär durch Spitzel und Häscher handeln, während sie im Film zu diesem Zeitpunkt schon deutlich aktiver sind und selbst Hand anlegen.

Ein Brief und ein Spaziergang
Bei Tolkien begeben sich die Hobbits und der Waldläufer ruhig und gesittet in den Privatraum zurück, während Frodo im Film von Aragorn recht aggressiv ins Nebenzimmer gedrängt wird und die anderen drei Hobbits hintherkommen, bereit, es mit dem einschüchternden und deutlich größeren Waldläufer aufzunehmen. Die meisten Dialogzeilen, die im Film ausgetauscht werden, stammen zwar von Tolkien, der Löwenanteil der Gespräche dieses Kapitels fiel allerdings der Schere zum Opfer. Aragorn verspricht Informationen, fordert dafür aber eine Belohnung, woraufhin Frodo befürchtet, einem Erpresser in die Hände gefallen zu sein. Zudem enthüllt Aragorn, dass er den Hobbits bereits folgt, seit sie sich von Tom Bombadil getrennt haben.

Nicht unerwähnt bleiben sollte Butterblume, der zwar erst später hinzukommt, aber einen ziemlich großen Anteil am Gespräch hat, da er über einen Brief von Gandalf verfügt. Diesen hätte er ursprünglich bereits zustellen lassen sollen, hat es aber gewissermaßen verbummelt, weshalb er nun ein äußerst schlechtes Gewissen hat. Derartige Querverbindungen existieren im Film nicht, Butterblumes Rolle wurde sehr stark reduziert. Während die Hobbits im Film Aragorn mehr oder weniger aus der Not heraus blind vertrauen müssen, bekommen sie im Roman durch diesen Brief deutlich mehr Informationen an die Hand, inklusive eines Gedichts über Aragorn, das dieser zitiert, ohne den Brief gelesen zu haben, was zusätzliche Sicherheit gibt.

Während der Geschehnisse in der Schankstube fehlt Merry vollkommen; er taucht erst in der zweiten Hälfte dieses Kapitels wieder auf und berichtet, dass er auf eigene Faust einen Abendspaziergang in Bree unternommen hat und dabei auf mehrere Nazgûl gestoßen ist, um zum ersten, aber nicht letzten Mal mit ihrer verheerenden Wirkung Bekanntschaft zu machen. Diese Episode fehlt im Film völlig, abermals zeigt sich, dass die Ringgeister bei Tolkien deutlich subtiler vorgehen und sich ungesehen einschleichen, während sie bei Jackson schlicht das Eingangstor samt Torwächter umreiten. Nachdem Merry wieder sicher bei der Gruppe ist, werden Vorbereitungen getroffen, um etwaige nächtliche Angreifer in die Irre zu führen; u.a. stopft man die Betten mit Kissen aus. Aus dramaturgischen Gründen wird dieser Umstand im Film erst später enthüllt. Einige der markanten Zitate tauchen ebenfalls erst später auf. Aragorn verspricht Frodo: „‚ […] if by life or death I can save you, I will.’” (FotR, S. 224), ein ähnliches Versprechen gibt Aragorn in Bruchtal bei Elronds Rat. Auch Frodos Einschätzung bezüglich Streicher „‚I think one of [the Enemy’s] spies would – well, seem fairer and feel fouler, if you understand.’” (FotR, S. 224) findet sich leicht abgewandelt etwas später, während der Fünfertrupp bereits auf Wanderschaft ist.

Der König im Exil
Dieser Zeitpunkt eignet sich ganz gut, um die Romanversion von Aragorn mit ihrem Filmgegenstück zu vergleichen, denn hier gibt es einige gewaltige Unterschiede. Tolkiens Aragorn ist im wahrsten Wortsinn ein König im Exil, er hat seine Bestimmung erkannt und strebt ihr entgegen. Trotz seines abgehalfterten Äußeren lässt er den König immer wieder durchblitzen. Die Figur bleibt über den Verlauf des Romans recht statisch, bereits zu Beginn hat sie ihr Ziel und arbeitet daran, es zu erreichen, macht aber ansonsten nur wenige mentale oder emotionale Veränderungen durch. Im Gegensatz dazu ist Film-Aragorn deutlich weniger selbstsicher und will eigentlich nicht König werden, er zweifelt immer wieder an sich und seiner Befähigung und befürchtet, dieselben Fehler zu machen wie sein Vorfahr Isildur, wie er im Gespräch mit Arwen in Bruchtal enthüllt – eine Szene, die in dieser Form nicht im Roman zu finden ist. Das spiegelt sich natürlich auch in Viggo Mortensens Performance wider; ich könnte mir vorstellen, dass ein Charakter mit größerem innerem Konfliktpotential und mehr Selbstzweifeln auch eine interessantere Herausforderung darstellt, gerade für einen Schauspieler von Mortensens Kaliber.

Diese Sachlage zeigt sich an mehreren kleinen Details. Nicht nur wird Aragorns Name bereits im Kapitel „Strider“ enthüllt, durch den Brief bzw. das enthaltene Gedicht erfahren wir zusammen mit den Hobbits, dass dieser Waldläufer irgendeinen königlichen Anspruch hat, wenn auch noch nicht, welchen. Im Gegensatz dazu bleibt Film-Aragorn bis zum Rat von Elrond nur Streicher. Und während Aragorn bei Tolkien die Bruchstücke von Narsil als Erkennungszeichen mit sich herumträgt und als sein Eigentum betrachtet, werden sie in der erzählten Welt des Films in Bruchtal aufbewahrt und deutlich später zu Anduril verarbeitet, als es im Roman der Fall ist. Jackson, Walsh und Boyens wollten Aragorn eine traditionellere Entwicklung geben, die eher den Hollywood-Konventionen entspricht – die Entwicklung der Figur soll für den Zuschauer greifbarer und nachvollziehbarer erscheinen.

Apropos Entwicklung, zum Schluss noch eine amüsante Anekdote: Aragorn begann sein literarisches Leben als eigenwilliger Hobbit namens „Trotter“ statt Streicher („Strider“), dessen markantestes Merkmal der Umstand war, dass er über hölzerne Fußprothesen verfügte, nachdem er in Mordor gefoltert wurde. In früheren Entwürfen des „Lord of the Rings“ nahm er Aragorns Rolle in Bree und später bei den Gefährten ein. Sein tatsächlicher Name in diesen Entwürfen lautete Peregrin Boffin. Irgendwann wurde aus diesem Hobbit der Waldläufer, den wir heute kennen, er behielt den Spitznamen „Trotter“ allerdings noch ziemlich lange, erst 1948 wurde aus Trotter Strider. Nachzulesen ist dieser durchaus amüsante Fun Fact in „The Return of the Shadow”, dem sechsten Band der „History of Middle-earth”.

Zitiert nach:
Tolkien, J. R. R.: The Lord of the Rings Part 1: The Fellowship of the Ring. London 2007 [1954]

Siehe auch:
Art of Adaptation: A Long-expected Party
Art of Adaptation: The Shadow of the Past
Art of Adaptation: Three Is Company
Art of Adaptation: A Shortcut to Mushrooms
Art of Adaptation: The House of Tom Bombadil
Art of Adaptation: At the Sign of the Prancing Pony
Art of Adaptation: Tolkiens Erzählstruktur und Dramaturgie
Art of Adaptation: Saruman der Weiße
Art of Adaptation: Die Nazgûl

The Fall of Númenor

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Christopher Tolkien mag 2020 verstorben sein, aber andere führen sein Werk fort; seit seinem Tod erschienen zwei weitere Tolkien-Veröffentlichungen. Während „The Nature of Middle-earth“ (2021), herausgegeben von Carl F. Hostetter, tatsächlich neues bzw. bislang nicht publiziertes Material enthält – primär kleinere Texte, Spekulationen und Essays zu allen möglichen Themen rund um Mittelerde, weshalb in der Rezeption mitunter vom inoffiziellen „13. Band der ‚History of Middle-earth” gesprochen wird – lässt sich Brian Sibleys „The Downfall of Númenor“ eher mit Veröffentlichungen wie „The Children of Húrin“ oder „Beren and Lúthien“ vergleichen, indem es sich um eine Kompilation bereits veröffentlichter Texte handelt.

Brian Sibley ist Tolkien-Fans kein Unbekannter. Von den 70ern bis in die 90er arbeitete er primär für das Radio und machte sich einen Namen mit diversen hochkarätigen Hörspieladaptionen, darunter auch die BBC-Umsetzung des „Lord of the Rings“ aus dem Jahr 1981. Zu seinen späteren, gedruckten Werken gehören u.a. diverse Begleitbücher zu den beiden Jackson-Trilogien sowie Bücher mit Mittelerde-Karten, zumeist in Zusammenarbeit mit John Howe. Zudem fungierte er bei den Filmtrilogien als Berater und ist recht häufig in den diversen Dokumentationen zu sehen. In einem Interview verriet Sibley, dass HarperCollins explizit keinen Literaturwissenschaftler oder Tolkien-Forscher, sondern eher einen Geschichtenerzähler bzw. Dramaturgen für dieses Unterfangen wollte.

In seiner Konzeption unterscheidet sich „The Fall of Númenor“ durchaus von jenen bisherigen Publikationen Christopher Tolkiens, die man als „Zweitauswertung“ bezeichnen könnte. Während dieser im Rahmen der „History of Middle-earth“ die chronolgische Entwicklung der Sekundärewelt seines Vaters nachzeichnete, mit dem „Silmarillion“ und „The Children of Húrin“ in sich geschlossene Narrativen vorlegte und in „Beren and Lúthien“ und „The Fall of Gondolin“ die Evolution einer bestimmten Geschichte zeigte, sammelt Sibley in „The Fall of Númenor“ alle relevanten Texte Tolkiens zum Zweiten Zeitalter. Somit enthalten sind Entnahmen aus dem „Lord of the Rings“, primär natürlich aus den Anhängen, die beiden Kapitel „Akallabêth“ und „Of the Rings of Power and the Third Age“ aus dem „Silmarillion“ sowie diverse Texte aus der „History of Middle-earth“, den „Unfinished Tales of Númenor and Middle-earth“ sowie „The Nature of Middle-earth”. Besagte Texte werden allerdings nicht einfach so reproduziert, wie sie in den oben genannten Werken erschienen, stattdessen bemüht sich Sibley, wo möglich, um eine chronologische und für die „kanonischen“ Werke relevante Aufteilung; will heißen, es finden sich keine bzw. nur wenige Frühformen, die inzwischen überholt sind. Die Anordnung erfolgt nach der in Anhang B des „Lord of the Rings“ auffindbaren Chronologie des Zweiten Zeitalters Die große Ausnahme bezüglich der „Gültigkeit“ sind zwei Kapitel aus Tolkiens unvollendetem Zeitreiseroman „The Lost Road“, in denen diverse Figuren mit veränderten Namen auftauchen. Dementsprechend finden sie sich als Anhang am Ende des Buches. Wo sich bei Tolkien Widersprüche finden, etwa bei der Datierung von Ereignissen, dem Alter von Figuren etc. weist Sibley im Rahmen der Endnoten darauf hin.

Der Untertitel „And Other Tales from the Second Age“ sollte, nebenbei bemerkt, unbedingt beachtet werden, denn Númenor ist zwar primärer, aber nicht ausschließlicher Fokus des Buches, die Entwicklung der Elbenreiche, Khazad-dûms und natürlich Mordors im Zweiten Zeitalter wird ebenfalls thematisiert, wobei Sauron und das Schmieden der Ringe der Macht natürlich besonders viel Platz eingeräumt bekommt. In diesem Kontext beschränkt sich Sibley nicht nur darauf, die entsprechenden Texte und Essays zu sammeln, sondern zitiert auch hin und wieder aus dem Erzähltext des „Lord of the Rings“, wenn es thematisch passt, etwa wenn Elrond beim Rat in Bruchtal von seinen Erlebnissen im Zweiten Zeitalter berichtet.

Dennoch sollte klar sein, dass es sich bei „The Fall of Númenor“ um alles Mögliche, nur nicht um tatsächliche erzählende Texte, geschweige denn eine wirkliche Romanhandlung handelt. Dem am nächsten kommt noch „Aldarion and Erendis: The Mariner’s Wife“, mehr oder weniger der einzige, tatsächlich ausgearbeitete narrative Text; zudem eine für Tolkien eher untypische Geschichte. Dieses unvollendete Werk wurde ursprünglich im Rahmen von „Unfinished Tales of Númenor and Middle-earth“ publiziert, thematisiert im Grunde das Scheitern einer Ehe und hätte vielleicht eine deutlich interessantere Grundlage für Amazon Primes „The Rings of Power“ abgegeben, hätte man dafür die Rechte gehabt… Wie dem auch sei, wie viele andere derartige Werke liest sich „The Fall of Númenor“ eher wie ein Geschichtsbuch. Da Sibley mit den Texten arbeiten muss, die Tolkien verfasst hat, ist die Gewichtung mitunter ein wenig gewöhnungsbedürftig. Viele der wirklich essentiellen Ereignisse werden nur sehr knapp behandelt, während der bereits erwähnten und im Gesamtkontext relativ insignifikanten Geschichte von Aldarion und Erendis sehr viel Platz eingeräumt wird. Aber bei einem Projekt wie diesem lässt sich das natürlich nicht vermeiden.

Auch wenn der oben verwendete Begriff „Zweitauswertung“ abwertend klingend mag, ist „The Fall of Númenor“ in der Tat ein äußerst nützliches Werk. Selbst wer sämtliche ursprünglichen Bücher sein Eigen nennt, kann mit Sibleys Kompilation einiges an Mühe und Zeit sparen, und wer nicht über eine erschöpfende Mittelerde-Bibliothek verfügt und ausschließlich am Zweiten Zeitalter interessiert ist, macht mit „The Fall of Númenor“ sowieso nichts falsch. Unbedingt hervorzuheben sind natürlich die abermals extrem gelungenen Artworks von Tolkien-Künstler Alan Lee, die das Ganze noch einmal ungemein aufwerten.

Die Hörbücher der älteren Tage: Ein Update
Seit meinem Artikel über die „Great Tales“ hat sich im Mittelerde-Hörbuch-Bereich doch das Eine oder Andere getan. Nicht nur hat Andy Serkis inzwischen sowohl den „Hobbit“ als auch den „Lord of the Rings“ komplett eingelesen, auch einige der posthum veröffentlichten Tolkien-Werke wurden hörbar gemacht. Die „Unfinished Tales of Númenor and Middle-earth“ erhielten sowohl ein englisches als auch ein deutsches Hörbuch, Ersteres wurde, wie schon „Beren and Lúthien“ und „The Fall of Gondolin“, eingelesen von Timothy und Samuel West, Letzteres (natürlich unter dem deutschen Titel „Nachrichten aus Mittelerde“) von Tolkien-Stammsprecher Gert Heidenreich und Timmo Niesner, seines Zeichens deutsche Stimme von Elijah Wood. Niesner übernimmt die erläuternden Parts von Christopher Tolkien, während Heidenreich die eigentlichen Tolkien-Texte liest. „The Nature of Middle-earth“ hat leider weder auf Deutsch noch auf Englisch ein Hörbuch bekommen, aber wer sich für „Beren and Lúthien“ interessiert, kann dies nun ebenfalls auf Deutsch mit derselben Sprecherkonstellation wie „Nachrichten aus Mittelerde“ hören. „The Fall of Númenor“ wurde zumindest auf Englisch inzwischen auch eingelesen, Samiel West übernimmt abermals die Tolkien-Texte, während Brian Sibley seine Erläuterungen selbst liest.

Fazit: Brian Sibleys Tolkien-Kompilation „The Fall of Númenor“ passt nicht nur vorzüglich zu den letzten Veröffentlichungen Christopher Tolkiens, sondern ist auch eine nützliche Abkürzung für alle, die sich für die Mysterien des Zweiten Zeitalters interessieren – ein Bedürfnis, das durch Amazons „The Lord of the Rings: The Rings of Power“ durchaus in stärkerem Maße aufkommen könnte…

Bildquelle

Siehe auch:
Interview mit Brian Sibley
The Great Tales: Die „andere” Tolkien-Trilogie
The Hobbit: Theatrical Audiobook
The Lord of the Rings: Soundscape Audiobook
The Lord of the Rings: The Rings of Power – Staffel 1

Hellraiser: The Toll

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„The Scarlet Gospels“, Clive Barkers persönliche Abrechnung mit seiner Schöpfung Pinhead, bzw. wie Barker es vorzieht, dem „Hell Priest“, wurde und wird immer wieder gerne als Fortsetzung zur ursprünglichen Novelle „The Hellbound Heart“ bezeichnet. Diese ist zwar die Vorlage zu „Hellraiser“, beinhaltet aber bestenfalls eine Art Proto-Pinhead, der wenig mit seinem späteren Film-Gegenstück zu tun hat und nur eine sehr untergeordnete Rolle spielt. Zudem finden sich auch kaum inhaltliche oder thematische Anknüpfungspunkte. Die 2018 erschiene Novelle „Hellraiser: The Toll“ von Mark Alan Miller, nach einer Idee von Barker, klärt final auf, in welcher Beziehung „The Hellbound Heart“ zu „The Scarlet Gospels“ steht: In keiner. In meiner Rezension zu Barkers Roman schrieb ich, dass dieser am ehesten den ersten Hellraiser-Film als Grundlage verwendet, und tatsächlich erwies sich das als richtig.

In „Hellraiser: The Toll“ schildert Miller, was mit Kirsty in den 30 Jahren nach ihrem Zusammentreffen mit den Cenobiten getrieben hat. Da sie hier eindeutig als Kirsty Cotton identifiziert wird und zudem die Verwandtschaftsverhältnisse und Namen der Filminkarnationen der Figuren verwendet werden, ist eindeutig, dass es sich bei „The Scarlet Gospels“ um die Fortsetzung von „Hellraiser“ und nicht „The Hellbound Heart“ handelt. „The Toll“ miteingerechnet existieren inzwischen drei unterschiedliche Kontinuitäten, in denen sich Kirsty mit der Affäre um Frank, Julia und den Cenobiten auseinandersetzen darf. Zum einen hätten wir die diversen Hellraiser-Sequels, in zumindest zwei davon spielt Kirsty eine zentrale Rolle: In „Hellbound: Hellraiser II“ kommt sie durch die Machenschaften von Dr. Channard ein weiteres Mal mit Pinhead und Co. in Kontakt und, mehr noch, bekommt die „Gelegenheit“, die Hölle, bzw. das Labyrinth, zu erforschen. Schließlich opfert sie in „Hellraiser: Deader“ ihren untreuen Ehemann Trevor den Cenobiten. Die von Clive Barker mitkonzipierten Hellraiser-Comics des Verlags Boom! Studios ignorieren alles nach „Hellbound: Hellraiser II“, integrieren aber die dort inszenierte Version des Labyrinths und Leviathans und zeigen, wie Kirsty selbst zur Urlaubsvertretung für Pinhead wird.

In „The Toll“ verlaufen die Jahrzehnte hingegen äußerst ereignisarm; Kirsty scheint sich mental in einem ähnlichen Zustand wie in den Comics zu befinden, führt aber keinen „Privatkreuzzug“ gegen die Spuren der Hölle und die diversen Puzzleboxen überall auf der Welt, wie es in den Comics der Fall ist. Stattdessen reist Kirsty umher, versucht ihrem Trauma zu entkommen und landet schließlich doch wieder im Haus in der Ludovico Street. Natürlich kommt es zu einer weiteren Begegnung mit Pinhead, der von Kirsty mit einem eigenen Spitznamen bedacht wird: „The Cold Man“. Als Leser von „The Scarlet Gospels“ erfährt man, dass Harry D’Amour nicht der erste Zeuge von Pinheads Machtergreifung in der Hölle werden sollte; ursprünglich wollte der Cenobit Kirsty selbst in dieser Rolle sehen. Kirsty ist allerdings mehr als unwillig, und es gelingt ihr tatsächlich ein weiteres Mal, sich dem Einfluss ihres Widersachers zu entziehen. Der Epilog der Novelle schildert schließlich, sehr knapp, Kirstys Sicht auf die Ereignisse des Pinhead-Romans.

Da ich ohnehin kein allzu großer Fan von „The Scarlet Gospels“ bin, hatte ich auch an „Hellraiser: The Toll“ keine hohen Erwartungen, und tatsächlich: Es handelt sich um kaum mehr als ein Tie-in, das quasi nichts Neues anzubieten hat und lediglich einige Kontinuitätsfragen klärt. Mehr noch, ähnlich wie Barkers Roman greift Miller auch kaum die Thematik der ursprünglichen Novelle auf und selbst die Handlung von „The Scarlet Gospels“ wird nicht bereichert. Stilistisch ist das kleine Büchlein zwar kompetent, aber auch sehr anonym gestaltet; wirklich Spannung kommt selten auf und auch die Elemente, die kleinen subtilen Eigenheiten, die „The Hellbound Heart“ zu etwas Besonderem machten, fehlen.

Fazit: „Hellraiser: The Toll“ ist kaum mehr als ein redundantes Tie-in, im Grunde nur geeignet für absolute Fans von „The Scarlet Gospels“, die genau wissen wollen, in welchem Verhältnis Barkers Pinhead-Roman zum Rest des Franchise steht. Wer nach einer literarischen Anknüpfung an Barkers Novelle sucht, ist mit der Kurzgeschichtensammlung „Hellbound Hearts“ deutlich besser bedient.

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Siehe auch:
Art of Adaptation: The Hellbound Heart
The Scarlet Gospels
Hellbound Hearts
Sherlock Holmes and the Servants of Hell

Sherlock Holmes and the Servants of Hell

Spoiler!
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Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes wird nur allzu gerne in Crossovern verwendet – ich besprach bereits das eine oder andere im Rahmen dieses Blogs. Zumeist paaren Autoren den Meisterdetektiv mit anderen Figuren aus dem viktorianischen Umfeld – Dracula, Dr. Jekyll/Mr. Hyde etc. Auch mit anderen legendären Detektiven wie Batman durfte er schon interagieren und selbst in den Gefilden des „Cthulhu-Mythos“ sind Holmes und Watson keine Fremden mehr, mit den Horror-Ikonen der 80er interagieren sie allerdings eher selten, doch auch hier finden sich Ausnahmen. Die vielleicht bemerkenswerteste Pastiche dieser Art ist ein Roman mit dem Titel „Sherlock Holmes and the Servants of Hell“ von Paul Kane. Die Prämisse ist ebenso so simpel wie faszinierend: Was geschieht, wenn man Sherlock Holmes auf die Cenobiten aus Clive Barkers „Hellraiser“ treffen lässt?

Paul Kane ist für ein derartiges Projekt sicher die geeignetste Wahl, vor allem wegen seiner intimen Kenntnis des Hellraiser-Franchise; so verfasste er unter anderem das Sachbuch „The Hellraiser Films and Their Legacy“ und fungiert zusammen mit seiner Frau Marie O’Regan als Herausgeber der Kurzgeschichtensammlung „Hellbound Hearts“. Das Verfassen eines passenden Romans scheint da der nächste logisch Schritt. Die Kombination von Holmes und „Hellraiser“ scheint auf den ersten Blick ein wenig gewöhnungsbedürftig zu sein, passt aber deutlich besser, als es etwa bei vergleichbaren Horror-Filmreihen der 80er der Fäll wäre. Sowohl in den Filmen als auch in Comics und sonstigen Fortführungen zeigten Autoren bereits, dass eine Hellraiser-Geschichte auch sehr gut in vergangenen Epochen funktionieren kann. Richtet man sich allerdings nach dem etablierten Kanon der Filme, steht die Franchise-Ikone Pinhead während des viktorianischen Zeitalters noch nicht zur Verfügung, da sein menschliches Alter Ego Elliot Spencer erst 1921 in den Besitz der Lament Configuration gelangt, um im Anschluss zum Cenobiten zu werden – auch das ein Problem, mit dem Paul Kane in diesem Kontext umgehen muss und für das er eine sehr kreative Lösung findet.

In jedem Fall zeigt Kane mit „Sherlock Holmes and the Servants of Hell”, dass er zu deutlich mehr in der Lage ist als nur einem simplen Crossover, denn der Roman ist tatsächlich eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem Franchise, die dessen Entwicklung kommentiert, aber zugleich auch die Holmes-Aspekte nicht aus den Augen verliert. Aus diesem Grund lässt Kane Holmes und Watson nicht einfach „nur“ die Lament Configuration lösen und auf Cenobiten treffen, sondern integriert verschiedene Elemente der Filme in den Roman. Zu Beginn befinden sich Holmes und Watson nicht unbedingt im besten emotionalen Zustand: Letzterer trauert um seine verstorbene Ehefrau Mary, während Ersterer nach den Ereignissen an den Reichenbach-Fällen und seinem vermeintlichen Tod nicht mehr derselbe ist: Holmes gibt sich mehr denn je seinem alten Laster, den bewusstseinsverändernden Drogen hin, und wird regelrecht zum Adrenalinjunkie. Vielleicht verschafft ja ein neuer Fall Ablenkung: Mehrere Personen sind unter mysteriösen Umständen verschwunden, und in jedem dieser Fälle spielt eine mysteriöse Puzzlebox eine Rolle. Die Namen der verschwundenen Personen lassen den Hellraiser-Fan sofort aufhorchen: Francis Cotton, James Philip Monroe und Howard Spencer. Hier beginnen die Handlungselemente der Hellraiser-Filme mehr oder weniger subtil in die Holmes-Geschichte einzudringen, indem Kane viktorianische Pendants zu Figuren der ersten drei Hellraiser-Filme als Nebenfiguren auftreten lässt. Francis Cottons Bruder Lawrence und seine Frau Juliet sind diejenigen, die Holmes und Watson beauftragen, und natürlich hat Lawrence eine Tochter namens Kirsten aus erster Ehe – Fank, Larry, Julia und Kirsty Cotton sind da nicht allzu weit entfernt. Dennoch begnügt sich Kane nicht damit, die Handlung des ersten Films im London des späten 19. Jahrhunderts noch einmal durchzuexerzieren, die Cottons sind nur ein kleines Puzzelstückchen. James Philip Monroe verweist natürlich auf den Clubbesitzer J. P. Monroe aus „Hellraiser III: Hell on Earth“ und bei Howard Spencer handelt es sich um den Vater von Elliot Spencer, der später zu Pinhead werden soll – auf diese Weise integriert Kane jeweils ein Opfer der Lament Configuration aus den ersten drei Filmen in seinen Roman. Auch weitere Figuren erhalten, was man als „Pseudo-Cameos“ bezeichnen könnte, darunter eine Reporterin namens Summerskill (Joe Summerskill aus „Hellraiser III: Hell on Earth“), ein Polizist namens Thorndyke (Joseph Thorne aus „Hellraiser: Inferno“) und eine junge Frau namens Kline (Amy Kline aus „Hellraiser: Deader“). Natürlich stoßen Holmes und Watson bei ihren Ermittlungen schließlich auf Gerüchte um den „Orden der klaffenden Wunde“ („Order of the Gash“). Holmes weiß zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits deutlich mehr, als er mit Watson teilen möchte. Um ihn vor weiteren Gefahren zu schützen, schickt er ihn nach Frankreich, um dort über die Herkunft der Puzzlebox nachzuforschen. Wie nicht anders zu erwarten, stößt Watson dort auf ein Mitglied der Lemarchand-Familie und trifft zudem auch einen gewissen Henri D’Amour, Vorfahre des von Clive Barker geschaffenen okkulten Detektivs Harry D’Amour, der u.a. Protagonist des Romans „The Scarlet Gospels“ ist und auch in diversen Hellraiser-Comics auftritt. Holmes macht sich derweil an den finalen Schritt zur Aufklärung des Falls: Die Lösung der Lament Configuration…

Es sollte erwähnt werden, dass Kane nicht nur im Hellraiser-, sondern auch im Sherlock-Holmes-Bereich sehr kompetent ist. Stilistisch baut er definitiv auf Doyle auf und vermittelt sofort die richtige Atmosphäre, auch die Beziehung zwischen Holmes und Watson gelingt ihm sehr gut. Große Teile des Romans sind zudem, in bester Tradition, als Bericht Watsons konzipiert, bei den restlichen Kapiteln fungiert Holmes selbst als PoV-Charakter, aber nicht als Ich-Erzähler. Nach einem stark an den Anfang von „Hellraiser“ und „Hellbound: Hellraiser II“ erinnernden Prolog, in welchem ein Individuum, das sich im letzten Satz als Sherlock Holmes herausstellt, die Lament Configuration löst, folgt ein erster Teil, der ausschließlich aus Watsons Perspektive verfasst ist, im zweiten Teil folgen wir ausschließlich Holmes und im dritten wechseln sich die Holmes- und Watson-Kapitel ab. Kenner beider Franchises werden viele Anspielungen und Referenzen entdecken, neben den oben erwähnten Gastauftritten dürfen natürlich auch Mycroft Holmes und Mrs. Hudson auftauchen, zudem werden viele vergangene Fälle erwähnt. Auch „The Hellbound Heart“ wird nicht ausgespart, wo immer Cenobiten aktiv waren, kann beispielsweise ein Vanille-Duft festgestellt werden.

Trotz der Hellraiser-Elemente ist „Sherlock Holmes and the Servants of Hell” bis zu dem Moment, in dem der Titelheld selbst die Lament Configuration löst, eine relativ „normale“ Holmes-Geschichte, ab dann begeben wir uns allerdings in völlig andere Gefilde. Auch sorgt Kane dafür, dass sein Roman die Tendenzen der Filmreihe widerspiegelt. Die ersten zwei Drittel erinnern stärker an „Hellraiser“, sind geerdeter und subtiler, während das letzte Drittel eher „Hellbound: Hellraiser II“ gleicht, und das nicht nur, weil das Labyrinth zum primären Handlungsort wird, auch inhaltlich finden sich einige deutliche Parallelen. Wir erfahren, dass – wie könnte es anders sein? – James Moriarty ein weiteres Mal hinter allem steckt. Anstatt, wie in „Victorian Undead“, eine Zombieseuche loszulassen, ist er dieses Mal zum Cenobiten geworden und trachtetet danach, mit seinen eigenen Horden die Macht im Labyrinth zu übernehmen. Diese „handgemachten“ Häscher erinnern bezüglich ihrer Beschreibung an Steampunk-Cenobiten und werden ähnlich behandelt wie Pinheads Fußsoldaten in „Hellraiser III: Hell on Earth“. Kane verwendet sogar dieselbe Bezeichnung für sie, „Pseudo-Cenobiten“. Moriartys Rolle gleicht der von Dr. Channard in „Hellbound: Hellraiser II“, auch er wird als Emporkömmling, als neuer Cenobit, der den Status Quo aufmischt, dargestellt. Er steht im Kontrast zu den „alten“ Cenobiten, dem Quartett, das erscheint, als Holmes die Lament Configuration löst und das stark an jenes aus den ersten beiden Hellraiser-Filmen erinnert, auch wenn sich der Anführer DIESER Vierertruppe durch Glasscherben statt durch Nägel im Kopf auszeichnet, weshalb Watson ihm den Spitznamen „Glass“ verpasst. Wie Pinhead in „Hellbound: Hellraiser II“ wird er allerdings äußerst unelegant abserviert. Mitunter wirkt es anschließend fast, als wolle Kane Channard eher unbefriedigendes Ableben ausgleichen, denn nun wird Holmes selbst zum Cenobiten, um die Ordnung in der Hölle wieder herzustellen und gegen den Empokömmling zu kämpfen. Gerade hier scheint Kane die Entwicklung des Franchises zu kommentieren: der Moriarty-Cenobit mit seinen megalomanischen Absichten erinnert nicht nur an Channard, sondern auch an den eindeutig bösen Pinhead des dritten und vierten Hellraiser-Films, während der Holmes-Cenobit mehr an die stoische, die Regeln befolgende Inkarnation der ersten beiden Filme gemahnt. Wie ich selbst scheint auch Kane eindeutig diesen ursprünglichen Hell Priest, „demon to some, angel to others“ dem eindeutig satanischen Pinhead späterer Filme vorzuziehen. Obwohl die Franchise-Ikone bis auf einen kurzen Cameo-Auftritt in einer Vision in Kanes Roman nicht vorkommt, ist der Schatten, den er voraus (bzw. zurück) wirft, stets wahrnehmbar, nicht zuletzt, da sein Kommen bereits kryptisch angedeutet wird.

Das Finale des Romans ist für Fans der Filmreihe und der zugehörigen Druckerzeugnisse natürlich ein gefundenes Fressen, nicht zuletzt, weil Kane noch einmal eine ganze Menge Referenzen unterbringt. Die diversen Cenobiten und Dämonen, die Teil von Holmes‘ Armee werden, könnten mitunter aus den Hellraiser-Comics der 90er stammen, da ich davon nur einige wenige gelesen habe, bin ich mir diesbezüglich allerdings nicht sicher. Der Dämon, der als „Our Lord of Quarters“ bezeichnet wird, stammt aber definitiv aus der gleichnamigen Kurzgeschichte, die in „Hellbound Hearts“ erschienen ist. Trotz allem muss allerdings erwähnt werden, dass Kane die Subtilität im Finale eindeutig dem Spektakel unterordnet, und zudem erinnert der Plot einer höllischen Machtübernahme nicht nur an „Hellbound: Hellraiser II“, sondern auch an „The Scarlet Gospels“ und die Hellraiser-Comics von Boom!-Studios. Zudem passt Holmes als Opfer der Box thematisch weniger gut ins Raster als die oben erwähnten Figuren aus den Filmen, da es bei ihm keine hedonistischen Triebe im engeren Sinne sind, die ihn dazu verleiten, die Cenobiten zu beschwören, sondern eher Wissendurst und die innere Leere nach seinem Beinahe-Tod. Dennoch bemüht sich Kane, diese Aspekte miteinander zu verknüpfen bzw. einander gleichzusetzen. In Bezug auf die Polarität von Lust und Schmerz, die im Kern des Hellraiser-Franchise liegt, bleibt Watson eher außen vor und gewissermaßen distanziert, auch wenn er natürlich emotional stark involviert ist.

Fazit: „Sherlock Holmes and the Servants of Hell” ist ein gelungenes, mit viel Liebe zum Detail versehenes Crossover, dem es gelingt, beiden Hälften der Gleichung gerecht zu werden. Autor Paul Kane schafft es, sowohl den Doyle-Tonfall zu treffen als auch die sadomasochistischen Elemente Clive Barkers zu vermitteln. Im letzten Drittel nimmt das Spektakel vielleicht ein wenig zu sehr Überhand weshalb auch dieser Roman eher dem Genre „Dark Fantasy“ statt „Horror“ zuzuordnen ist, aber alles in allem ist diese Pastiche ein deutlich besserer Hellraiser-Roman als „The Scarlet Gospels“.

Bildquelle

Siehe auch:
Art of Adaptation: The Hellbound Heart
The Scarlet Gospels
Hellbound Hearts
Lovecrafts Vermächtnis: A Study in Emerald
Victorian Undead

Art of Adaptation: Pickman’s Model

Halloween 2022

Dass Guillermo del Toro ein gewisses Faible für H. P. Lovecraft hat, ist nun wirklich kein Geheimnis: Immer wieder finden sich Anspielungen in seinen Filmen und natürlich hat wahrscheinlich kein Lovecraft-Fan del Toros gescheiterte Adaption von „At the Mountains of Madness“ vergessen. So verwundert es kaum, dass der Schriftsteller aus Providence auch in der neuen Horror-Anthologieserie „Guillermo del Toro’s Cabinet of Curiosities“ eine Rolle spielt, und das nicht nur in einzelnen Anspielungen (die natürlich auch vorhanden sind), sondern in Form von zwei Episoden, die sich als direkte Adaptionen von Lovecraft-Geschichten präsentieren. Das Konzept der Netflix-Serie erinnert an „Alfred Hitchcock Presents“: Zu Beginn jeder Episode gibt es ein paar einleitende Worte von del Toro, darauf folgen die von verschiedenen Regisseuren inszenierten Horror-Geschichten. Bei Folge 5, Regie führt Keith Thomas, handelt es sich um eine, wenn auch ziemlich freie, Umsetzung der Geschichte „Pickman’s Model“, was sie zu einem interessanten Sujet für mich macht.

Die Lovecraft-Geschichte
Lovecraft verfasste „Pickman’s Model“ 1926, ein Jahr später wurde die Kurzgeschichte auf den Seiten des Magazins „Weird Tales“ publiziert. Gemessen an vielen der späteren und populäreren Storys wie „The Call of Cthulhu“ oder „The Shadow Over Innsmouth“ ist „Pickman’s Model“ eine eher konventionelle Geschichte, die eigentlich nicht wirklich dem „Cthulhu-Mythos“ oder dem Sub-Genre des kosmischen Horrors zuzurechnen ist, auch wenn Elemente der Geschichte, sei es Richard Upton Pickman selbst oder die Ghule, die er abbildet, in Mythos-Geschichten anderer Autoren nur allzu gerne auftauchen.

Erzählerisch ist die Geschichte recht simpel aufgebaut, wie so oft bei Lovecraft haben wir es mit einem Ich-Erzähler zu tun, der allerdings ausnahmsweise einmal keinen Bericht über erschreckende Ereignisse hinterlässt; stattdessen ist die Geschichte als „einseitiger Dialog“ aufgebaut. Der Erzähler Thurber (in der Geschichte ohne Vornamen, in der Adaption heißt er Will) berichtet seinem Freund Eliot von seinen Erlebnissen mit dem Maler Richard Upton Pickman, wobei der Text Eliots Antworten und Erwiderungen ausspart, sodass der Leser gewissermaßen als Dialogpartner fungiert. Thurber berichtet, dass seine Angst vor der U-Bahn, Kellern und dem Untergrund im Allgemeinen von einem Erlebnis mit dem kürzlich verschwundenen Maler Richard Upton Pickman herrührt, der wie Thurber und Eliot Mitglied des Kunstvereins von Boston ist bzw. war. Pickman eckte dort mehrmals wegen seiner ebenso grausigen wie realistischen Gemälde an, die viele andere Mitglieder verschreckten, während sie Thurber nachhaltig beeindrucken und faszinieren – trotz seines Traumas hält er an der Meinung fest, dass es sich bei Pickman um einen außergewöhnlichen Künstler handelt.

Pickman, der sich von Thurbers Bewunderung offenbar geschmeichelt fühlt, lädt ihn in sein „geheimes Atelier“ in den heruntergekommenen Norden Bostons ein, in welchem er Thurber Gemälde von blutrünstigen Monstrositäten zeigt, gegen die jene, die im Kunstverein schon ausgestellt wurden, regelrecht harmlos sind. Merkwürdige Geräusche veranlassen Pickman, mit einem Revolver das Zimmer zu verlassen, angeblich um Ratten zu verscheuchen – tatsächlich fallen Schüsse. Pickman und Thurber trennen sich hastig. Später stellt Thurber fest, dass er bei Pickman ein Stück Papier eingesteckt hat, bei welchem es sich um eine Fotografie handelt, die eines jener grausigen Wesen zeigt, die Pickman gemalt hat. So muss Thurber feststellen, dass diese Kreaturen keinesfalls der Fantasie entstammen, sondern dass es sich bei Pickmans Gemälden „nur“ um realitätsnahe Wiedergaben handelt.

„Pickman’s Model“ ist eine Geschichte, die heute zugegebenermaßen in dieser Form nicht mehr allzu viele Neuleser besonders beeindrucken dürfte, im Vergleich zu anderen Enthüllungen, besonders Enthüllungen kosmischen Schreckens, ist die hiesige relativ zahm. Wie viele andere Geschichten Lovecrafts ist sie in ihrem Aufbau und in ihren Andeutungen deutlich stärker als in ihrer tatsächlichen Auflösung. Der interessanteste Aspekt dürften wahrscheinlich die immer wieder eingestreuten Diskussionen zum Thema Kunst sein, Thurber dient hier zweifellos als Avatar für Lovecrafts eigene Meinung zum Thema „erschreckende Gemälde“. Tatsächlich funktioniert „Pickman’s Model“ für mich persönlich in der Hörspieladaption der Reihe „Gruselkabinett“ von Titania Medien mit Abstand am besten, da sie unheimlich stimmig inszeniert ist und von dem großartigen Zusammenspiel von Dietmar Wunder (dt. Stimme von Daniel Craig) und Sascha Rotermund (dt. Stimme von Benedict Cumberbatch) profitiert. Dabei bleibt das Hörspiel nah am Text und schafft es, allein durch die Performance der Sprecher das Grauen zu vermitteln. Kaum weniger gelungen ist zudem die GM-Factory-Lesung von Gregor Schweitzer. Eine visuelle Adaption hat es da natürlich schwerer – dementsprechend verwundert es kaum, dass Keith Thomas und Drehbuchautor Lee Patterson sich vom Text sehr weit entfernen.

Die Umsetzung
Zumindest auf handwerklicher Ebene kann man dieser Folge, wie der gesamten Serie (zugegeben, ich habe noch nicht alle Folgen gesehen) wenig vorwerfen. „Guillermo del Toro’s Cabinet of Curiositys“ sieht definitiv sehr gut aus und ist durchweg enorm atmosphärisch. Die Handschriften der einzelnen Regisseure sind sehr wohl präsent, zugleich haftet allen Folgen aber auch eine gewisse, nennen wir es „Del-Toro-haftigkeit“ an, sei es in der Atmosphäre oder im Design der Kreaturen. Inhaltlich ist es leider eine etwas andere Geschichte: Wie bereits zu erwarten war, wird eher die grobe Prämisse als die tatsächliche Geschichte adaptiert: Thurber (Ben Barnes) und Pickman (Crispin Glover) sind beide Schüler einer Kunstakademie. In einer Sitzung beobachtet Thurber zufällig, wie das gewöhnliche Modell, das gemalt werden soll, auf Pickmans Bild vier Arme hat und blutet. Wie in der Geschichte übt Pickman eine gewisse Faszination auf Thurber aus, man unterhält sich und Pickman erzählt Thurber ein wenig von seinen Hintergründen – eine Vorfahrin namens Lavinia (Megan Many) war laut Pickman in diverse kultische bzw. schwarzmagische Handlungen verwickelt, setzte Gästen ihren gekochten Ehemann vor und wurde dafür als Hexe verbrannt – dieses kannibalistische Motiv taucht in der Episode immer wieder auf. Gewisse Andeutungen diesbezüglich finden sich tatsächlich in Lovecrafts Geschichte, auch hier werden Verbindungen zu den Hexenprozessen von Salem erwähnt und eines von Pickmans Werken trägt den Titel „Leichenfresser beim Fraße“, diese sind allerdings weit weniger spezifisch. Der Lovecraft-Kenner wird bei dem Namen Lavinia zudem sofort hellhörig und muss an „The Dunwich Horror“ denken.

Die Werke Pickmans, die Thurber in Kombination mit der Familiengeschichte gezeigt bekommt, haben einen verstörenden Einfluss auf den jungen Maler, er scheint zu halluzinieren und Elemente aus Pickmans Gemälden in der Realität zu sehen, was zur Folge hat, dass seine Geliebte Rebecca (Oriana Leman) glaubt, er sei Betrunken auf ihrer Party erschienen, woraufhin sie die Beziehung beendet. Als Thurber Pickman erneut in seiner Wohnung aufsucht, sind sowohl der Maler als auch seine Gemälde verschwunden. An dieser Stelle macht die Handlung einen Sprung von 17 Jahren, Thurber und Rebecca sind inzwischen verheiratet und haben einen gemeinsamen Sohn. Zudem ist Thurber inzwischen ein einflussreicher Künstler. Da taucht, recht unverhofft, Richard Upton Pickman wieder auf – und mit ihm und seinen Gemälden kehren auch die Visionen und Alpträume zurück, die sich nun direkt auf Thurber und seine Familie auswirken. Pickman taucht schließlich sogar bei Thurber zuhause auf und beteuert, er wolle nur, dass seine Bilder gesehen werden. Abermals lädt er den Kollegen zu sich ein, bei Pickman kommt es allerdings zum Handgemenge, das schließlich mit Pickmans Tod endet. Um ganz sicher zu gehen, verbrennt Thurber die unheilvollen Bilder, doch es stellt sich heraus, dass der unheilvolle Einfluss bereits von Thurbers Frau und Sohn Besitz ergriffen hat, sodass sich Lavinias Tat wiederholt…

Wie bereits erwähnt: „Pickman’s Model“ ist eine Geschichte, die so, wie sie Lovecraft erzählt, weder besonders furchterregend, noch besonders filmisch ist. Thomas und Patterson ließen sich für diese Folge der Anthologie eher von der Prämisse und der Figurenkonstellation inspirieren, entwickelten sie dann jedoch in eine völlig andere Richtung. Gewisse Reste der ursprünglichen Geschichte sind noch vorhanden, so wird Thurber unter anderem auch mit dem tatsächlichen Ghul konfrontiert, anstatt nur dessen Foto zu sehen, ironischerweise hätte man diese Szene jedoch problemlos entfernen können. Wo sich die eigentliche Story auf die Ghule und deren Abbildung konzentriert, schaffen Regisseur und Drehbuchautor aus Implikationen und Andeutungen einen kultischen Überbau, der ironischerweise an „Dreams in the Witch House“ erinnert – zufällig handelt es sich hierbei um die zweite Lovecraft-Geschichte, die im Rahmen des „Cabinet of Curiosities“ verfilmt wird. Das Problem bei der Sache ist, dass die ganze Angelegenheit ziemlich holprig erzählt ist, die einzelnen Bestandteile wollen nicht ineinandergreifen. Es wirkt, als hätten Thomas und Patterson versucht, das Grauen der ursprünglichen Kurzgeschichte zu erweitern, um sie für ein modernes Horror-Publikum ansprechender zu machen, diese Bemühungen sorgen allerdings dafür, dass das Ergebnis recht generisch daherkommt und sich nicht mehr recht nach Lovecraft anfühlen will – man fühlt sich eher etwas an „The Conjuring“ erinnert. Dementsprechend fand ich persönlich die finale Realwerdung eines der Bilder auch nicht allzu überraschend oder schockierend. Hinzu kommt, dass leider auch die beiden Hauptdarsteller ihn ihren Rollen nicht völlig überzeugen können, was primär damit zusammenhängt, dass sie mit ihrem Akzent kämpfen: Sowohl Ben Barnes (dessen Mitwirken angesichts der Tatsache, dass er in „The Picture of Dorian Gray“ die Hauptrolle spielte, wohl als Casting-Gag verstanden werden kann) als auch Crispin Glover scheinen mit dem Bostoner Sprach-Duktus nicht völlig zurechtzukommen. Während das bei Barnes nicht allzu viel ausmacht, ist Glovers Akzent wirklich merkwürdig und klingt eher wie die Parodie eines Iren. Vielleicht bin ich durch Sascha Rotermund, der Pickman sehr charismatisch anlegt, zu sehr vorgeprägt, aber ich persönlich finde Glovers autistisch anmutendes Overacting hier ziemlich fehl am Platz.

Fazit: Die Umsetzung von „Pickman’s Model“ im Rahmen von „Guillermo del Toro’s Cabinet of Curiosities“ kann zwar nicht wirklich als misslungen bezeichnet werden, vor allem auf technischer und atmosphärischer Ebene weiß sie durchaus zu überzeugen. Allerdings scheitern Regisseur Keith Thomas und Drehbuchautor Lee Patterson an einer wirklich effektiven Modernisierung der Lovecraft-Geschichte, die zudem an Fokusproblemen und Crispin Glovers Darstellung von Richard Upton Pickman leidet.

Siehe auch:
Hörbuch: Pickman’s Model bei GM Factory
Lovecraft im Gruselkabinett
Lovecrafts Vermächtnis: Der Cthulhu-Mythos

Art of Adaptation: Frankenstein – Mary Shelleys Roman

Halloween 2022
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Während Dracula beständiger Gast meines Blogs ist, habe ich mich mit der anderen großen, klassischen Horror-Ikone deutlich seltener bzw. bislang so gut wie gar nicht beschäftigt: Frankenstein. Das hängt natürlich einerseits mit meiner wahrscheinlich nicht völlig gesunden Fixierung auf Vampire zusammen, allerdings boten sich in den letzten Jahren auch deutlich weniger Gelegenheiten. Mary Shelleys Roman wurde zwar ebenfalls unzählige Male adaptiert, aber doch deutlich seltener als Stokers Graf, der nicht nur regelmäßig alle paar Jahre in einer neuen Adaption zu sehen ist, sondern auch in allen möglichen und unmöglichen Werken Gastauftritte absolviert und sich nach wie vor mit Sherlock Holmes um die Krone der am häufigsten adaptierten literarischen Figur streitet. Vielleicht hängt das auch damit zusammen, dass im Zentrum von „Frankenstein, or the Modern Prometheus“ zwei Figuren und nicht eine stehen. Zwar denken die meisten bei der Erwähnung des Titels an die von Boris Karloff dargestellte Version des Monsters, aber, wie Klugscheißer wie ich nicht müde werden immer wieder anzumerken, bezieht sich der Titel auf den Schöpfer des Monsters und nicht auf das Monster selbst. Gerade im Hinblick auf Adaptionen ist diese Doppelung faszinierend. Es existieren zwei mehrere Filme umfassende Frankenstein-Filmreihen, die von Universal konzentriert sich stärker auf das Monster (wenn auch nicht immer von Boris Karloff dargestellt), während der Dreh- und Angelpunkt der Hammer-Frankenstein-Filme der von Peter Cushing gespielte Doktor ist. Tatsächlich bekommt man das ursprüngliche Monster (Christopher Lee) nach dem ersten Film nicht mehr zu sehen. Aber darum soll es in diesem Artikel (noch) nicht gehen, stattdessen werde ich erst einmal den eigentlichen Roman unter die Lupe nehmen, bevor in den Folgeartikeln die diversen Adaptionen an der Reihe sind.

Entstehung
Die Entstehungsgeschichte des Romans (oder zumindest ein essentielles Element) ist tatsächlich ziemlich bekannt und wurde ihrerseits schon das eine oder andere Mal filmische umgesetzt, etwa im Kontext eines biografischen Films wie „Mary Shelley“ (2017) mit Elle Fanning in der Titelrolle, häufiger ist aber tatsächlich eine Adaption des auslösenden Ereignisses, wie sie in „Gothic“ (1986) mit Natasha Richardson oder „Haunted Summer“ (1988) mit Alice Krige zu finden ist. Im Jahr 1816, dem „Jahr ohne Sommer“ (ausgelöst durch einen Vulkanausbruch) befanden sich die damals 18-jährige Mary Wollenstonecraft Godwin, ihre Verlobter Percy Bysshe Shelley, ihre Stiefschwester Claire Clairmont sowie der berühmte Poet Lord Byron und dessen Leibarzt John William Polidori in der Villa Diodati am Genfer See in der Schweiz, wo sie ihren Urlaub verbrachten, aufgrund des schlechten Wetters aber drinnen bleiben mussten. Also beschäftigten sie sich mit einem Band deutscher Geistergeschichten und kamen schließlich auf die Idee, sich selbst am Abfassen einer derartiger Storys zu versuchen. Während Byron und Shelley nicht allzu weit kamen, erdachte Mary Godwin hier die Grundlage für „Frankenstein“, die, nach eigener Aussage, auf einem Traum basierte. Zudem fanden viele Elemente aus Shelleys bisherigem Leben Eingang in den Roman, die nach und nach sterbenden Verwandten und Angehörigen des Titelhelden erinnern beispielsweise an die Tragödien, die Mary Shelley selbst durchleben musste, vom Tod der Mutter (der auch zu Beginn von Frankensteins Erzählung steht) bis hin zum Tod ihres ersten Kindes kurz nach der Geburt im Jahr 1815.

Es sollte zudem erwähnt werden, dass Polidori ebenfalls mit seinem Vorhaben durchaus erfolgreich war, denn seine Kurzgeschichte „The Vampyre“ entstand ebenfalls in diesem Kontext – die Kurzgeschichte, die dem adeligen und scheinbar zivilisierten Vampir, den wir heute kennen, zu seinem Debüt verhalf, ein ganzes Subgenre des Horrors begründete und in letzter Konsequenz auch „Dracula“, „Interview with the Vampire“ und so viele andere direkt oder indirekt inspirierte. Somit war der Sommer 1816 für die Horrorliteratur zweifelsohne ein Wendepunkt – das aber nur am Rande.

„Frankenstein“ wurde schließlich bis zum Jahr 1818 fertiggestellt und auch veröffentlicht, zuerst anonym, weshalb der Roman zu Anfang Percy Shelley zugeschrieben wurde, vielleicht auch, weil er es war, den die Verträge mit dem Verlag aushandelte. 1931 erschien eine von Mary Shelley stark überarbeitete Version des Romans – in literaturwissenschaftlichen Kreisen wird mitunter heftig diskutiert, ob die Ausgabe von 1818 oder die von 1931 als primäre Forschungsgrundlage dienen sollte, generell ist es allerdings die neuere Auflage, die häufiger in Umlauf ist, eine ganze Reihe an Forschern und Literaturwissenschaftlern, beispielsweise Leslie S. Klinger, der Verfasser bzw. Herausgeber von „The New Annotated Frankenstein“, zieht die ursprüngliche Version vor.

Handlung und Struktur
„Frankenstein“ besitzt drei unterschiedliche Erzählebenen mit drei unterschiedlichen Ich-Erzählern. Der erste ist Captain Robert Walton, der sich an Bord eines Expeditionsschiffes befindet, das Richtung Nordpol fährt und der dabei seiner Schwester Margaret Walton Saville Briefe schreibt, in denen er ihr von seinen Erlebnissen berichtet. Eines Tages sehen Walton und die Crew aus der Ferne einen übergroßen Mann auf einem Hundeschlitten. Einige Stunden später nehmen sie einen beinahe erfrorenen Schiffbrüchigen an Bord, der sich als Victor Frankenstein vorstellt. Walton und Frankenstein verstehen sich sofort gut, sind sie doch beide Männer der Wissenschaft, Frankenstein warnt Walton allerdings vor dem, was ungebremster Wissensdurst anrichten kann und beginnt, dem Captain seine Geschichte zu erzählen. Diese Geschichte macht den Hauptteil des Romans aus. Frankenstein berichtet von seiner Jugend in Genf und seiner Familie – besonders zu seinem Bruder William und seiner Stiefschwester Elizabeth hat er ein inniges Verhältnis. Schließlich beginnt er, von wissenschaftlicher Neugier getrieben, sein Studium an der Universität Ingolstadt.

Schon bald ist er faszinierte von der Idee, selbst Leben schaffen zu können und beginnt schließlich, mit Hilfe von Leichenteilen und anatomischen Studien einen Humanoiden zu schaffen, dem er mit einer speziellen, nicht näher erläuterten Technik Leben einhauchen möchte. Dies gelingt auch, doch beim Anblick des monströs aussehenden Wesens ist Frankenstein schockiert und flieht aus seinem Labor. Als er mit seinem Freund Henry Clerval zurückkehrt, ist seine Schöpfung allerdings verschwunden. Die Erfahrungen sorgen für eine mehrmonatige Krankheit Frankensteins, während der er von Clerval gepflegt wird. Erst ein Brief aus der Heimat, der vom Tod seines Bruders William berichtet, reißt ihn aus der Katatonie. In Genf erhascht Victor einen kurzen Blick auf die von ihm erschaffene Kreatur und hat sie sofort als Täter im Verdacht. Die Gerichtsbarkeit hat allerdings eine andere Schuldige gefunden Justine Moritz, die nicht nur Williams Kindermädchen, sondern auch eine gute Freundin von Frankenstein und Elizabeth ist, wird des Mordes beschuldigt und schließlich hingerichtet. Victor macht sich daraufhin in die Berge auf, um die Wahrheit in dieser Sache herauszufinden.

Und tatsächlich findet Victor Frankenstein die von ihm geschaffene Kreatur, die sich als äußerst gesprächig erweist und Frankenstein bittet, sich ihre Geschichte anzuhören. Hier setzt die dritte Erzählebene ein und Frankensteins künstlicher Mensch berichtet von seinem Schicksal seit seiner Erschaffung, von seiner Zeit in der Wildnis und der ersten Begegnung mit Menschen, die ihn aufgrund seines abstoßenden Äußeren zurückweisen, weshalb er verbittert und zynisch wird. Wie nicht anders zu erwarten ist die Kreatur auch für den Mord an William verantwortlich, ebenso wie für die Verhaftung Justines. Schließlich bittet die Kreatur ihren Schöpfer, ihr eine Gefährtin zu machen und verspricht als Gegenleistung, Frankenstein und alle Menschen in Ruhe zu lassen.

Zuerst ist Victor einverstanden, begibt sich nach Irland und beginnt mit der Arbeit, schreckt dann allerdings vor dem Gedanken zurück, hier eine neue Spezies monströser Wesen zu schaffen und zerstört seine Arbeit schließlich. Die Kreatur ist außer sich und nimmt blutige Rache, indem sie Victors Freund Clerval tötet. Frankenstein selbst wird für den Mord verantwortlich gemacht, kann jedoch seine Unschuld beweisen und kehrt nach Genf zurück. Bereits seit langem planten Frankensteins Eltern, Victor mit seiner Stiefschwester Elizabeth zu verheiraten, doch noch in der Hochzeitsnacht tötet die Kreatur nun auch Elizabeth. Der Schreck über den Tod der Adoptivtochter kostet auch Victors Vater das Leben. Daraufhin verfolgt Frankenstein seine Schöpfung durch ganz Europa – so haben sowohl er als auch die Kreatur den Polarkreis erreicht. Kurz nachdem er seine Erzählung beendet hat, stirbt Frankenstein an Entkräftung. Daraufhin erscheint die Kreatur, betrauert den Tod ihres Schöpfers und verschwindet mit dem Leichnam, um nie wieder aufzutauchen.

Deutung und Wirkung
Zumindest mit dem groben Konzept von „Frankenstein“ sind die meisten Menschen ebenso vertraut wie mit dem von „Dracula“: Verrückter Wissenschaftler erschafft ein Monster aus Leichenteilen – diese groben, wenn nicht gar unzutreffende Handlungsbeschreibung ist der Aspekt, der sich in der Popkultur festgesetzt und am häufigsten reproduziert wird, nicht zuletzt bedingt durch die frühen filmischen Adaptionen von Universal. Von Lovecrafts „Herbert West – Reanimator“ bis hin zu Tim Burtons „Frankenweenie“ finden sich unzählige Verarbeitungen, Parodien oder Pastichen. Wenn Mary Shelleys Roman dann tatsächlich gelesen wird, sind die meisten, die die Geschichte durch die Filme oder popkulturelle Osmose kennen, zumeist darüber verblüfft, wie eloquent die Kreatur ist oder wie sehr sich der eigentliche Horror zurückhält, zumindest der Horror, den man vielleicht erwarten würde. Tatsächlich verwendet Mary Shelley nicht allzu viel Platz für die Beschreibung der Erschaffung oder des Äußeren der Kreatur. Bezüglich seiner Forschungen hält sich Frankenstein als Erzähler bewusst zurück, da er fürchtet, diese könnten reproduziert werden. Das Monster hat laut Beschreibung im Roman gelbe Haut, die Muskeln und Adern nur unzureichend verbirgt, schwarze Lippen und Haare sowie wässrige Augen. Den genauen Entstellungsgrad schildert Shelley nicht und überlässt vieles der Vorstellungskraft; keine Spur vom viereckigen Schädel, den Narben oder den Schrauben im Hals, die Boris Karloffs Version der Figur unsterblich machen sollten.

Weder ist Frankenstein der tatsächlich verrückte Wissenschaftler, als der er zumeist wahrgenommen wird, noch ist seine Schöpfung ein Monster im eigentlichen Sinn, und schon gar kein tumbes Wesen, das nicht einmal weiß, was es tut, wie es in Universals Filmen der Fall war. Sowohl Frankenstein als auch die Kreatur sind zutiefst fehlerhafte, aber auch tragische Figuren, in beiden Fällen allerdings nicht, weil sie naiv wären oder sich der Konsequenzen ihrer Taten nicht bewusst sind. Beiden gelingt es allerdings nicht, ihre eigene Perspektive außen vorzulassen. Zwar erkennt Frankenstein schließlich seine Verantwortung an, kann sich aber nicht dazu durchringen, seiner Schöpfung Empathie entgegenzubringen. Die Kreatur fungiert in diesem Aspekt als Spiegelbild Frankensteins – zurecht ist sie wütend auf ihren Schöpfer, tötet und vernichtet dann aber völlig unschuldige Menschen, um sich an Frankenstein rächen zu können. Tatsächlich ist William einer der wenigen Menschen, die der Kreatur Mitgefühl entgegenbringt. Der eigentliche Horror von „Frankenstein“ entstammt nicht einem Monster aus Leichenteilen, sondern der konsequenten Uneinsichtigkeit und des Empathiemangels zweier Personen, die dabei so viele andere mit in den Abgrund reißen.

Natürlich ist „Frankenstein“ für das Science-Fiction-Genre mindestens ebenso essentiell wie für das Horror-Genre, vielleicht sogar noch essentieller. Nicht nur das gesamte Konzept des künstlichen Menschen lässt sich zumindest in großen Teilen auf diesen Roman zurückführen, auch die Art und Weise, wie ein Sci-Fi-Element, hier die Erschaffung eines künstlichen Menschen, zu sehr menschlichem Drama führt, bereitet die Klassiker der Science-Ficition-Literatur und natürlich die daraus entshenden Filme und Serien vor. Thematisch ist ein Film wie „Ex Machina“ (2014) deutlich näher an Shelleys Roman als Action-Trash wie „I, Frankenstein“ (ebenfalls 2014), obwohl Letzterer sich direkt auf den Titel beruft.

Vermächtnis
Wie bereits erwähnt wurde „Frankenstein“ unzählige Male adaptiert, von der kleinen Billigproduktion bis hin zum großen Studioprojekt mit vielen Stars. Und ebenso wie bei „Dracula“ haben die Verfilmungen die Wahrnehmung des Romans massiv beeinflusst – das trifft natürlich vor allem auf die Universal-Adaption aus den 1930ern zu, vielleicht sogar noch mehr, als es bei Stoker der Fall war. Neben den tatsächlichen Umsetzungen des Romans finden sich natürlich auch unzählige Gastauftritte des Monsters und (nicht ganz so häufig) seines Schöpfers. Gerade in Crossover-Projekten, ernsten wie parodistischen, ist Frankensteins Monster ein gern gesehener Gast. Das geht zurück zu Universal Filmen wie „Abbott and Costello Meet Frankenstein“ (1948) über „The Munsters“ (Originalserie 1964 bis 1966) bis hin zu moderneren Crossovern wie „Van Helsing“ (2004) oder „Penny Dreadful“ (2014 bis 2016). Natürlich werde ich im Rahmen dieser Artikelreihe nicht alle Adaptionen besprechen, der Fokus soll zuerst einmal auf den „drei großen Filmen“ liegen: Universals „Frankenstein“ (1931), Hammers „Curse of Frankenstein“ (1957) und „Mary Shelley’s Frankenstein“ (1994). Zudem möchte ich den Fokus auf die eine oder andere Comicadaption legen, die nicht aus dem anglo-amerikanischen Raum stammt.

Wie üblich folgt an dieser Stelle die obligatorische Empfehlung der Gruselkabinett-Adaption von „Frankenstein“, besonders für alle, die mit über hundert Jahre alten Romanen vielleicht so ihre Probleme habe. Wie gewohnt handelt es sich beim zweiteiligen Hörspiel von Marc Gruppe und Stephan Bosenius um eine ebenso atmosphärische wie hochwertige und Vorlagengetreue Umsetzung von Mary Shelleys Geschichte. Besonders zu überzeugen wissen Peter Flechtner (deutsche Stimme von Ben Affleck) als Victor Frankenstein und Klaus-Dieter Klebsch (deutsche Stimme von Hugh „Dr. House“ Laurie und Josh Brolin) als Kreatur – beiden gelingt es, die tragischen, vielschichtigen Figuren des Romans angemessen stimmlich darzustellen.

Bildquelle

Siehe auch:
Geschichte der Vampire: The Vampyre
Geschichte der Vampire: Dracula – Bram Stokers Roman
Penny Dreadful Staffel 1

The Dracula Tape

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So richtig populär wurde der Vampirprotagonist bzw. der „sympathische Vampir“ erst in den 90ern, allerdings finden sich bereits in den 60ern und 70ern erste Vorreiter, etwa in Gestalt von Barnabas Collins in der Fernsehserie „Dark Shadows“ (1966 bis 1971). Literarisch salonfähig wurde das Konzept schließlich dank zweier Romane, die beide in den 70ern erschienen. Der eine ist natürlich Anne Rice‘ „Interview with the Vampire“, zweifelsohne ein essentieller Meilenstein der Vampirliteratur, aber Dracula selbst hatte auch einen gewissen Anteil an der sich abzeichnenden Entwicklung. Während der Vampirgraf in den in diesem Zeitraum erscheinenden Hammer-Filmen noch als typischer böser Vampire unterwegs war, beschloss der bekannte Fantasy- und Science-Fiction-Autor Fred Saberhagen (1930 bis 2007) in seinem Roman „The Dracula Tape“, ausnahmsweise einmal Draculas Sicht auf die Dinge zu schildern.

Ironischerweise hat „The Dracula Tape“, erschienen 1975, also gerade mal ein Jahr vor Rice‘ Roman, einige andere interessante Gemeinsamkeiten mit „Interview with the Vampire“: In beiden erzählt ein Vampir nicht nur aus seinem Leben, sondern versucht auch, viele Dinge bzgl. der vampirischen Natur „richtig zu stellen“. Während „Interview“ aber eine völlig eigenständige Geschichte erzählt, hangelt sich Saberhagen an Stokers Roman entlang. Konzipiert ist das Ganze als Abschrift einer Tonbandaufnahme (daher der Titel, in der deutschen Übersetzung lautet er stattdessen „Die Geständnisse des Grafen Dracula“). Die Handlung ist freilich dieselbe wie bei Stoker, zumindest vordergründig: Mithilfe des Anwalts Jonathan Harker möchte Dracula nach London umsiedeln und erwirbt zu diesem Zweck das heruntergekommene Anwesen Carfax. Harker findet heraus, dass sein Gastgeber ein Vampir ist und bleibt auf dem Schloss des Grafen zurück, während dieser auf dem russischen Schoner Demeter nach England übersetzt und schließlich in Whitby ankommt. Dort entsteht ein Kontakt zu Lucy Westenra, der besten Freundin von Jonathan Harkers Verlobter Mina Murray – beide machen zufällig gerade in Whitby Urlaub. Über Lucy geraten, wie üblich, ihr Verlobter Arthur Holmwood, dessen Freunde Quincey Morris und John Seward sowie Sewards Lehrmeister Abraham Van Helsing in die Angelegenheit. Nachdem Lucy zur Vampirin geworden ist, macht man gemeinsam Jagd auf sie und schließlich, nach ihrem endgültigen Tod, auf den Grafen. So weit, so bekannt.

Aus Draculas eigener Perspektive ergeben sich allerdings völlig andere Charakterisierungen und Motivationen der Figuren. Der Graf selbst zeichnet sich in seinem Geständnis zwar nicht als völlig „guter“, aber doch als nobler und deutlich weniger böswilliger Vampir, der vor allem im ersten Drittel von Jonathan Harker konsequent falsch verstanden und interpretiert wird. Der Vorfall mit „Draculas Bräuten“, die hier die Namen Anna, Wanda und Melisse tragen, ist zwar „authentisch“, aber alles andere nicht. Dracula hat hier deutlich weniger Kontrolle über sie, als es eigentlich den Anschein hat – tatsächlich versuchen die drei am Ende, ihn durch eine Intrige zu töten. Während Jonathan Harker in diesem Kontext noch halbwegs gut wegkommt und Dracula sogar zähneknirschenden Respekt äußert, ist Van Helsing hier das wahre Monster, ein zum Teil inkompetenter Fanatiker, der bereits zuvor „unschuldige“ Vampire vernichtete und seinem Feldzug alles und jeden opfert.

Lucy und Mina dagegen gehen echte Romanzen mit Dracula ein. Ursprünglich hat Dracula überhaupt nicht vor, Lucy zur Vampirin zu machen, zur Tragödie kommt es überhaupt erst, weil Van Helsing sich an einer Bluttransfusion versucht. Tatsächlich war diese Methode zu Stokers Zeit gerade konzipiert worden, das Konzept der Blutgruppen hatte man allerdings noch nicht entdeckt, dies geschah erst 1900 durch Karl Landsteiner, also drei Jahre nach Erscheinen des Romans. Saberhagen schildert die korrekten Folgen einer fehlerhaften Bluttransfusion, als Folge verwandelt Dracula Lucy, um sie vor dem Tod zu retten. Dieser ereilt sie natürlich trotzdem in Form eines Holzpfahls. Auch Mina kann Dracula von seinen eigentlich hehren Absichten überzeugen, sodass sie gemeinsam mit dem Grafen eine Intrige ausheckt, um die Vampirjäger konsequent in die Irre zu führen. Dies gipfelt schließlich in einer gefakten Tötung Draculas, die zur Folge hat, dass der Graf viele Jahre später seine Geschichte erzählen kann.

Saberhagens Roman ist eine Mischung aus Parodie und liebevoller Hommage, bei der der Horror-Aspekt natürlich verloren geht, da wir die ganze Geschichte aus der Perspektive des vermeintlichen Monsters erleben. Ein derartiges Werk verlangt intime Kenntnisse von Stokers Roman, die zweifelsohne gegeben sind. Dabei muss allerdings angemerkt werden, dass die Umdeutung der Ereignisse nicht immer gleich gut funktioniert. Gerade im ersten Drittel wirkt es mitunter recht bemüht: Saberhagen behält die Dialoge aus Stokers Roman eins zu eins bei, wandelt sie aber in immer neue Missverständnisse um, die oft allzu gekünstelt wirken. Deutlich besser kann er in Whitby und London arbeiten: Hier tritt der Graf in Stokers Roman kaum auf, sondern arbeitet lediglich hinter den Kulissen, dementsprechend hat Saberhagen hier viel mehr Freiheit und ist nicht mehr völlig an den Text des Romans gebunden. Dieser wird, nebenbei bemerkt, immer wieder zitiert, da Dracula Zugang zu den „gesammelten Aufzeichnungen“ der Vampirjäger (sprich: Stokers Roman) hat und diesen immer wieder auf äußerst amüsante Weise kommentiert. Saberhagen baut in diesem Kontext immer wieder ironische Brechungen ein, etwa wenn Dracula sich darüber mokiert, dass er in England ständig und scheinbar zufällig Bekannten Jonathan Harkers über den Weg läuft.

Es sollte zudem erwähnt werden, dass Dracula hier ganz eindeutig als Vlad Țepeș identifiziert wird. Das kommt wohl nicht von ungefähr, 1972 erschien „In Search of Dracula“ von Radu Florescu und Raymond T. McNally, wodurch die These, Stoker sei von Vlad Țepeș zu Dracula inspiriert worden, populär wurde. Obwohl Forscher wie Elizabeth Miller das inzwischen widerlegten, hält sich die Gleichsetzung Draculas mit Vlad III. hartnäckig in der Popkultur und gehört in diesem Kontext mehr oder weniger zum guten Ton – auch diesbezüglich könnte Saberhagen ein Vorreiter gewesen sein.

Wer sich von „The Dracula Tape“ eine ähnlich tiefgründige Erforschung des Vampirzustands erhofft, die „Interview with the Vampire“ bietet, wird wohl enttäuscht werden. Dieser Dracula ist zwar einerseits weit entfernt vom fast absoluten Bösen seines Stoker-Gegenstücks, hadert aber auch nicht besonders mit seiner Vampirnatur und scheint wenig Probleme damit zu haben, sich von Tierblut zu ernähren bzw. seine Opfer nicht zu töten. Saberhagen vermittelt nur selten ein Gefühl dafür, wie es sich anfühlt, ein Vampir zu sein, etwas, das Anne Rice wie keine andere Autorin vermitteln kann.

Dennoch erwies sich „The Dracula Tape“ als sehr einflussreich. Nicht nur verfasste Fred Saberhagen eine ganze Reihe von Fortsetzungen, in denen Dracula u.a. auf Sherlock Holmes trifft, wann immer der Graf positiver dargestellt wird, meint man, Saberhagens Einfluss zu spüren – das trifft besonders auf „Bram Stoker’s Dracula“ zu. Coppolas Adaption stellt quasi einen Kompromiss zwischen Stokers und Saberhagens Dracula dar, was den Verantwortlichen durchaus nicht entging, weshalb sie Saberhagen baten, die Romanadaption des Films zu verfassen. Schon ein wenig merkwürdig, wenn man bedenkt, dass Fred Saberhagen der Autor eines Buches mit dem Titel „Bram Stoker’s Dracula“ ist…

Fazit: „The Dracula Tape“ ist nicht nur eine amüsante Parodie von Stokers Roman, die aus dem monströsen Vampirgrafen einen Antihelden macht, sondern auch ein enorm einflussreicher Vampirroman.

Bildquelle

Siehe auch:
Geschichte der Vampire: Bram Stokers Roman
Geschichte der Vampire: Secret Origin
Dracula: Sense & Nonsense

Art of Adaptation: At the Sign of the Prancing Pony

Mit „At the Sign of the Prancing Pony”, dem neunten Kapitel von „The Fellowship of the Ring”, kehren wir zur Filmhandlung zurück und lernen mit Bree gleich einen neuen Handlungsort kennen. Im Vergleich zu den Auslassungen und Abänderungen, die sich in den Auenlandkapiteln finden, kann man hier getrost von kleineren Anpassungen sprechen.

Bree und das Pony
Wie man es von Tolkien gewohnt ist, beginnt auch dieses Kapitel mit ein wenig Exposition und Hintergrundinformationen bezüglich des neuen Handlungsortes, die ein Film auf diese Weise nur schwer vermitteln kann. Weder wird deutlich, dass zum Breeland neben Bree selbst noch drei weitere Dörfer gehören, noch gehen Jackson und Co. auf die genauen Bevölkerungsverhältnisse ein. Allerdings scheinen im Film kein Hobbits gezeigt zu werden, obwohl diese einen signifikanten Teil der Bevölkerung Brees ausmachen – tatsächlich sind Bree und die zugehörigen Dörfer Archet, Schlucht (Comb) und Stadel (Staddle) relativ einzigartig darin, dass Hobbits und Menschen hier Seite an Seite leben und man zudem auch Elben und Zwerge häufiger antrifft – es handelt sich quasi um einen multikulturellen Sammelpunkt. Natürlich ist das Tänzelnde Pony das Vorbild für das archetypische Gasthaus der Fantasy-Literatur, in dem man als Abenteurer herumhängt, bis es wieder losgeht. Erst in „The Desolation of Smaug“ bekommen wir dann auch tatsächlich die Hobbit-Bewohner des Ortes zu sehen.

Besonders bemerkenswert ist, dass Bree im Film als deutlich ungemütlicher und feindseliger dargestellt wird als im Roman – das beginnt bereits beim Wetter. Bei Tolkien ist die Nacht ausdrücklich sternenklar, während es bei Jackson ordentlich schüttet. Auch Bree selbst wirkt groß, düster, dreckig und einschüchternd. Diese Wahrnehmung ist nicht völlig aus der Luft gegriffen, entspricht aber primär Sams Perspektive, der allem, was nicht zum Auenland gehört, sehr kritisch gegenübersteht und deshalb Bree auf diese Art und Weise sieht. Er hat auch Hemmungen, ins Gasthaus zu gehen, während Frodo damit keine Probleme zu haben scheint. Im Tänzelnden Pony werden die Hobbits erst in einem separaten Raum bewirtet, bevor sie sich in die Schankstube begeben. Der Wirt, Gerstenmann Butterblume (Barliman Butterbur) taucht im Film natürlich auf, gespielt von David Weatherley, seine beiden Hobbit-Hilfskräfte Nob und Bob allerdings nicht. Nur Frodo, Sam und Pippin begeben sich im Roman schließlich auf Bitten Butterblumes in den Schankraum, Merry hingegen bleibt zurück, um später noch einen Spaziergang zu machen, während im Film alle vier direkt im Schankraum landen.

Wirtshausumtriebe
Wo die Hobbits bei Jackson größten Teils für sich bleiben, geben sich Frodo, Sam und Pippin deutlich geselliger und kommen u.a. mit lokalen Hobbits ins Gespräch, darunter einige, die Frodos Decknamen „Unterberg“ („Underhill“) teilen und der Meinung sind, er müsse ein entfernter Verwandter sein, da sie sich pure Namensgleichheit nicht vorstellen können. Im Film wie im Roman wird Frodo auf eine ominöse, im Schatten sitzende Gestalt aufmerksam und erkundigt sich bei Butterbier nach ihr. Und in beiden Versionen der Geschichte erklärt ihm Butterbier, es handle sich um einen Waldläufer, der als „Streicher“ bekannt ist: Aragorns Debüt fällt in beiden Medien sehr ähnlich aus. Im Roman kommt es allerdings bereits an dieser Stelle zu einem ersten kurzen Gespräch zwischen Frodo und Aragorn, in welchem der Waldläufer darauf hinweist, dass Pippin eine zu große Klappe hat. Hier plappert der jüngste Hobbit allerdings nicht direkt Frodos tatsächlichen Nachnamen aus, sondern erzählt stattdessen von Bilbos Geburtstagsparty, was natürlich ebenfalls Aufmerksamkeit erregt, besonders unter potentiellen Spitzeln der Ringgeister. Wo Frodo sich im Film einfach nur ins Gespräch einmischt, stolpert und fällt, wobei der Ring auf höchst dramatische Weise auf seinem Finger landet, setzt sein Roman-Gegenstück erst zu einer kleinen Rede an und stimmt dann, angefeuert von den Wirtshausgästen, ein kleines Liedchen an. Dieses trägt den Titel The Man in the Moon Stayed up too Late und wurde von Bilbo komponiert. An dieser Stelle taucht das Lied in der Filmversion von „The Fellowship of the Ringc nicht auf, allerdings gibt Bofur (James Nesbitt) in der Extended Edition von „The Hobbit: An Unexpected Journey“ einige Strophen in Bruchtal zum Besten. Das lädt natürlich zur Spekulation ein: Hat Bilbo ihm dieses Lied in der erzählten Welt des Films beigebracht, hat er es vielleicht sogar während der Reise geschrieben, oder ist es in Wahrheit tatsächlich ein Zwergenlied?

Als Frodo den Ring im Film auf den Finger bekommt, ist der Effekt sofort massiv, er bekommt Einblick in die Zwielichtwelt der Nazgûl und sieht sogar Saurons Auge, das seiner gewahr wird. Im Roman passiert nichts dergleichen, derartige Effekte tauchen erst weit später auf. Bei Jackson ist diese Szene deutlich dramatischer, Frodo wird von Aragorn sofort ins Nebenzimmer gebracht, während er bei Tolkien im Schankraum verleibt, versucht die Situation zu erklären und sich eine Standpauke von Butterblume anhören muss. Das Kapitel endet mit Butterblumes Bitte, sich in Kürze mit den Hobbits in ihren Räumlichkeiten zu treffen, da er ihnen noch etwas wichtiges mitzuteilen habe.

Siehe auch:
Art of Adaptation: A Long-expected Party
Art of Adaptation: The Shadow of the Past
Art of Adaptation: Three Is Company
Art of Adaptation: A Shortcut to Mushrooms
Art of Adaptation: The House of Tom Bombadil
Art of Adaptation: Tolkiens Erzählstruktur und Dramaturgie
Art of Adaptation: Saruman der Weiße
Art of Adaptation: Die Nazgûl
Lovecrafts Vermächtnis: Cthulhu in Mittelerde