Ensel und Krete

Ensel und Krete von Walter Moers
„Ensel und Krete“ ist der zweite Zamonien-Roman – und nach wie vor, selbst jetzt, nach so vielen weiteren, einer der faszinierendsten. Nach dem Erfolg von „Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär“ entschloss sich Moers, seine berühmteste Schöpfung von Zamonien wieder zu trennen. Die zweiten 13 ½ Leben (Seebären haben ja bekanntlich 27 davon) hat er bis heute nicht erzählt. Dennoch ist „Ensel und Krete“ der Zamonien-Roman, der einer direkten Fortsetzung am nächsten kommt, zumindest auf gewisse Weise, denn immerhin setzt er genau dort an, wo der Vorgänger aufhörte. Blaubär wird zwar nicht einmal mehr namentlich erwähnt, aber sein Wirken ist deutlich zu spüren, denn die Gemeinde, die er im Großen Wald gegründet hat, blüht und gedeiht; sie ist zu einem berühmten zamonischen Ferienzielort geworden. Zu den vielen Urlaubern gehören auch die beiden Fhernhachen-Kinder Ensel und Krete von Hachen, die zusammen mit ihren Eltern ihre Ferien in Bauming verbringen. Der Urlaub ist den beiden allerdings zu langweilig, weshalb sie einen Abstecher, nur einen kleinen, in den verbotenen, unzivilisierten Teil des Waldes machen. Natürlich kommt es, wie es kommen muss: Die beiden verirren sich im Wald. Die Waldspinnenhexe, die dort früher hauste, ist zwar gestorben (ebenfalls in „Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär“), aber ihre Spuren sind immer noch zu finden…

Besonders faszinierend an „Ensel und Krete“ ist, dass dieser Roman, obwohl er deutlich dünner ist als der Vorgänger, es schafft, so viele Dinge gleichzeitig zu sein; u.a. eine Neuerzählung des Märchens „Hänsel und Gretel“, eine indirekte Fortsetzung zu „Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär“, mitunter auch fast schon eine kosmische Horrorgeschichte und natürlich einer der metafiktionalsten Romane der deutschen Sprache. Schon mit Blaubär als Autor seiner Autobiografie spielte Moers mit dem unzuverlässigen Autor, mit „Ensel und Krete“ hebt er diese Thematik jedoch auf eine ganz andere Ebene, denn es handelt sich hierbei um ein Werk von Hildegunst von Mythenmetz. Dieser schriftstellernde Dinosaurier tauchte durch seine Werke bereits mehrfach im Vorgänger auf, mit „Ensel und Krete“ wird er ins Zentrum gerückt. Oder besser gesagt, er rückt sich selbst ins Zentrum, denn als Autor dieses Märchens unterbricht er den Fluss der Geschichte immer wieder im Rahmen der Mythenmetz’schen Abschweifungen, die dazu dienen „zu kommentieren, zu belehren, zu lamentieren, kurzum: abzuschweifen“. Durch dieses Vehikel schafft Moers eine völlig neue Handlungsebene, hebt das Konzept des unzuverlässigen Erzählers auf eine neue Ebene und führt den „Tod des Autors“ gekonnt ad absurdum.

Die Mythenmetz’schen Abschweifungen sind teilweise von der eigentlichen Handlung separiert und dienen dazu, Hildegunst von Mythenmetz als Figur zu etablieren, auch für das weitere Auftauchen in späteren Zamonien-Romanen. Eine nicht geringe Zahl der Abschweifungen kreist um Mythenmetz selbst; hier zeigt Moers seine Vorliebe für die Satire auf den Literaturbetrieb und den Autorenberuf, die in „Die Stadt der Träumenden Bücher“ noch weitaus stärker zutage tritt. Zugleich nutzt Moers die Abschweifungen aber auch, um die Dramaturgie der Haupthandlung zu unterstützen und den Leser in die Irre zu führen. Im ersten Drittel des Romans ist die scheinbar totalitäre Natur Baumings beispielsweise ein immer wiederkehrendes Thema (Stichwort „Brummli“). Das gipfelt in der Enthüllung der Geheimförsterei, mit der Mythenmetz‘ Vorwürfe scheinbar bestätigt werden – das alles kommentiert er eher wie ein Beobachter denn der tatsächliche Autor. Als sich dann jedoch herausstellt, dass die gesamte Episode eine Halluzination war, verschwindet die Thematik „totalitäres Bauming“ völlig, da sie eben nur dazu da war, den Leser zu täuschen. Somit ist Hildegunst von Mythenmetz nicht einfach nur ein unzuverlässiger Erzähler, er ist ein unzuverlässiger Autor.

Auch mit der Märchenthematik hat Moers seine Freude. Märchen zeichnen sich in der allgemeinen Wahrnehmung durch eine geradlinige, einfach Handlung, eine klare Moral und ein Happy-End aus. Gerade diese Wahrnehmung unterläuft Moers meisterhaft, u.a., in dem er die Handlung von „Ensel und Krete“ durch Abschweifungen und Halluzinationen enorm vielschichtig aufbaut und Mythenmetz verkünden lässt, dass sich zamonische Märchen vor allem dadurch auszeichnen, dass sie gerade kein Happy-End haben. Tatsächlich finden sich Happy-Ends nur in Trivialromanen wie der beliebten Serie „Prinz Kaltbluth“. Auch das klare Gut/Böse-Schema des Märchens unterläuft Moers, in dem er die „Hexe“ dieses Märchens als etwas inszeniert, das fast schon an eine Wesenheit Lovecrafts erinnert, eine zurückgebliebene Präsenz der Waldspinnenhexe, die ihrerseits von einem anderen Planeten kommt – nicht von ungefähr erinnert die Konzeption dieser „Hexe“ an Lovecrafts „The Colour out of Space“.

Am Ende von „Ensel und Krete“ findet sich noch die halbe Biographie von Hildegunst von Mythenmetz, über die Moers dem Roman noch eine weitere, dritte Erzählebene hinzufügt, über die Mythenmetz keine Kontrolle hat. Hier greift er das Konzept auf, dass es sich bei „Ensel und Krete“ um einen Roman handelt, den er lediglich aus dem Zamonischen übersetzt hat; somit schafft er zusätzlich zur fiktiven Autorenfigur Hildegunst von Mythenmetz die fiktive Übersetzerfigur Walter Moers. Dieser bewundert Mythenmetz und sein literarisches Genie einerseits und möchte es dem deutschen Publikum zugänglich machen, sieht ihn aber auch kritisch, was sich u.a. daran zeigt, dass die Werke, die in besagter Biographie zitiert werden, primär Mythenmetz-kritisch sind. Es muss wohl nicht extra erwähnt werden, dass Moers in dieses halbe Leben des zamonischen Großschriftstellers so ziemlich jedes denkbare Autorenklischee hineinpackt und genüsslich auswalzt.

Fazit: Im Vergleich zu „Ensel und Krete“ war „Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär“ in gewissem Sinne lediglich eine Fingerübung – mit diesem Roman findet Moers zu seinem Stil und treibt die metafiktionalen Spielereien und die erzählerische Doppelbödigkeit auf eine neue Ebene. „Ensel und Krete“ hätte Moers‘ Meisterwerk sein können, wären da nicht die beiden folgenden Zamonien-Romane…

Bildquelle

Siehe auch:
Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär
Der Bücherdrache

2 Gedanken zu “Ensel und Krete

  1. Echt coole Analyse. Hab es in der Hörbuch-Form konsumiert. Bin allerdings kein Fan vom Finale, zieht sich sehr und ist so Klischeemäßig. Und dann hat er es für Schrecksenmeister kopiert, was mich wirklich mit den Augen hat rollen lassen. Immerhin geht es in Schrecksenmeister nicht über 20 Seiten… Moers hat des Öfteren Probleme damit, seine Bücher gut zu beenden.

    1. Die Hörbuchversionen von Dirk Bach sollte ich unbedingt auch nochmal erwähnen. Ich bin (bzw. war) ja kein allzugroßer Fan von ihm, aber die ersten vier Zamonien-Romane hat er wirklich exzellent gelesen. Wobei Andreas Fröhlich bei den neueren seine Sache auch sehr gut macht.

      Ja, das Finale ist wahrscheinlich der schwächste Teil des Romans. Immerhin wird man danach mit der halben Biographie entschädigt. Zur Not kann man ja immer noch beim Fake-Ende abbrechen 😉

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