Na gut, der Titel ist vielleicht sowohl etwas irreführend als auch inkorrekt, schon alleine, weil „The Lord of the Rings“ nicht wirklich eine Trilogie ist. Tolkien teilte seinen Roman in sechs Bücher auf, hatte aber nie vor, es in mehreren Teilen zu publizieren. Die Entscheidung ging vom Verlag aus, da ein Schinken mit tausend Seiten aufgrund der Papierknappheit in den 50ern nicht wirklich profitabel gewesen wäre. Also schufen Tolkien und sein Verlag Allan & Unwin mehr aus Not und Zufall DAS bevorzugte Format der Fantasy. Aber darum soll es nicht gehen. Mit der anderen Trilogie meine ich drei Werke, die lange nach J. R. R. Tolkiens Ableben erschienen: „The Children of Húrin“, „Beren and Lúthien“ und „The Fall of Gondolin“. Wer sich bereits tiefergehend mit Mittelerde beschäftigt hat, dem dürften diese drei Bücher mit Sicherheit ein Begriff sein, auch wenn manch einer vielleicht enttäuscht war, sofern er hoffte, auf den Seiten dieser Werke etwas LotR-artiges zu finden.
Ein kleiner Guide der posthumen Tolkien-Veröffentlichungen
Der Schöpfer von Mittelerde verstarb im September des Jahres 1973. Zu diesem Zeitpunkt hatte er lediglich zwei Werke publiziert, die seine Kunstmythologie einer breiten Leserschaft nahe bringen konnten (zumindest, sofern man nicht den Gedichtband „The Adventures of Tom Bombadil“ mitrechnet). Das eigentliche Hauptwerk, an dem Tolkien seit spätestens 1916 in der einen oder anderen Version arbeitete, hatte nie das Licht der Öffentlichkeit gesehen. Auch nach der Veröffentlichung des „Lord of the Rings“ hörte Tolkien nicht auf, weiter an seiner Mythologie zu feilen, mit der festen Absicht, sie irgendwann zu publizieren – die Nachfrage war zweifellos vorhanden. Doch so blieb das, was als „Book of Lost Tales“ begonnen und schließlich den Titel „The Silmarillion“ erhalten hatte, unvollendet. Tolkiens Sohn Christopher, der bereits zu Lebzeiten seines Vaters stark mit Mittelerde involviert war und testamentarisch auch offiziell zum literarischen Nachlassverwalter bestimmt wurde, nahm es schließlich auf sich, das „Silmarillion“ nicht nur zu vollenden, sondern auch den restlichen literarischen Nachlass seines Vaters zu publizieren. Christopher Tolkien verstarb im Januar diesen Jahres im Alter von 95 Jahren – dieser Artikel ist auch meine Würdigung seiner beeindruckenden Arbeit.
Anders als viele spätere Schriften seines Vaters, die er als kommentierte Ausgaben in zum Teil unvollendetem Zustand veröffentlichte, bemühte er sich, das „Silmarillion“ als in sich geschlossenes Werk zu publizieren, weshalb er durchaus Veränderungen vornahm und unfertiges Material mithilfe des Fantasy-Autors Guy Gavriel Kay fertigstellte. Manche der Entscheidungen, die er in diesem Kontext traf, bereute er später, nicht zuletzt, weil das „Silmarillion“ unter Zeitdruck entstand. Dennoch erschien es schließlich 1977 und war vielleicht nicht alles, was sich Fans des LotR wünschten (was primär ein neuer Roman in eben diesem Stil war, nicht unbedingt eine Mythensammlung verfasst in archaischer Diktion), bot aber doch einen guten Überblick über alle drei Zeitalter von Tolkiens Mythologie – wobei der Fokus natürlich auf dem Ersten liegt. Trotz erster negativer Reaktionen aus dem oben genannten Grund war das Interesse groß genug, um weitere Publikationen zu rechtfertigen. 1980 folgte „Unfinished Tales of Númenor and Middle-earth“, was man am ehesten mit dem Bonusmaterial einer DVD oder BluRay vergleichen kann. Im Grunde handelt es sich um Alternativversionen von Geschichten der bereits publizierten Werke, „Outtakes“, die es nicht die Anhänge des LotR geschafft haben sowie Essays, die Hintergründe erläutern (zum Beispiel zu den Istari oder den Palantíri).
Auch hier erwies sich das Interesse als groß genug, um weitere derartige Projekte in Angriff zu nehmen – um nicht zu sagen, DAS Mummutprojekt, das man zweifelsohne als Christopher Tolkiens Opus Magnum im Bereich der posthumen Werk-Publikationen seines Vaters bezeichnen könnte. Die Rede ist natürlich von der zwölfbändigen Reihe „The History of Middle-Earth“ (13, wenn man den Index-Band mitrechnet), erschienen zwischen 1983 und 1996 (bzw. 2002, abermals unter Einbeziehung des Index). Die Detailversessenheit, mit der Christopher Tolkien die Schriften seines Vaters aufbereitete, ist wirklich enorm beeindruckend, auch wenn der Grad an Relevanz schwankt. Vieles, das sich auf den Seiten der „History“ findet, dürfte auch für den „Casual Fan“ durchaus interessant sein, während anderes tatsächliche nur für Literaturwissenschaftler Bedeutung hat. In den ersten beiden Bänden, „The Book of Lost Tales“ Teil 1 und 2, findet sich die früheste Version des „Silmarillion“ bzw. der darin enthaltenden Geschichten des Ersten Zeitalters, die den finalen Fassungen zum Teil schon verblüffend ähnlich sind, sich zum Teil aber auch massiv von ihnen unterscheiden. Besonders interessant ist der Umstand, dass die „Lost Tales“ eine Rahmenhandlung haben, innerhalb derer sie erzählt werden, etwas, das später völlig verloren ging.
Band 3, „The Lays of Beleriand“, enthält noch einmal einige der Silmarillion-Geschichten, allerdings in Form unvollendeter Gedichte. In Band 4, „The Shaping of Middle-Earth“ dokumentiert Christopher Tolkien die Wandlung von der Frühform des Legendarium zur späteren Gestalt – Kernstück dabei ist „Sketch of the Mythology“, eine kompakte Neufassung und Überarbeitung der „Lost Tales“. Der fünfte Band trägt den Titel „The Lost Road“ und beinhaltet diverse Schriften, die primär in den 30ern entstanden, unter anderem Tolkiens angefangener und wieder abgebrochener Zeitreise-Roman „The Lost Road“. In „The Lost Road“ und dem Essay „The Fall of Númenor” tauchte außerdem besagtes Inselkönigreich zum ersten Mal auf, das später noch äußerst wichtig werden sollte.
Die Bände 6 bis 9, „The Return of the Shadow”, „The Treason of Isengard“, „The War of the Ring“ und „Sauron Defeated“, beschäftigen sich mit der Entstehung des „Lord of the Rings” und enthalten Ideen und Evolutionsstufen dieses Romans, etwa Texte zu einem Hobbit mit dem Spitznamen „Trotter“, der sich später zu „Strider“ entwickelte und aus dem schließlich Aragorn wurde. Die letzten drei Bände schließlich, „Morgoth’s Ring“, „The War oft he Jewels“ und „The Peoples of Middle-Earth“ dokumentieren die weitere Entwicklung des „Silmarillion“ bis zu J. R. R. Tolkiens Tod sowie andere angefangene und unvollendete Projekte, etwa „Tal-Elmar“, eine Geschichte über die Kolonisationsaktivitäten der Númenorer aus der Sicht der Kolonisierten sowie „The New Shadow“, eine Fortsetzung des „Lord of the Rings“, die jedoch nie über ein paar wenige Seiten hinauskam.
Es sollte noch erwähnte werden, dass Christopher Tolkien auch einige andere Werke seines Vaters posthum veröffentlichte, die mit Mittelerde jedoch nichts zu tun haben. Dabei handelt es sich primär um zwei poetische Bearbeitungen echter mythologischer Werke, „The Legend of Sigurd and Gudrún“ (2009) und „The Fall of Arthur“ (2013).
Bevor wir zum eigentlichen Sujet des Artikels kommen, noch kurz ein Wort zur Übersetzung: Sowohl vom „Silmarillion“ als auch von den „Unfinished Tales“ („Nachrichten aus Mittelerde“) liegen deutsche Versionen vor, die „History of Middle-Earth“ dagegen bleibt, bis auf die ersten beiden Bände („Das Buch der verschollenen Geschichten“ Band 1 und 2), bislang unübersetzt.
The Children of Húrin

Nach dem Abschluss der „History of Middle-Earth“ sah es erst einmal so aus, als sei dies alles gewesen, schließlich hatte Christopher Tolkien fast alle Schriften seines Vaters herausgegeben, sogar die Mittelerde-relevanten Brief publizierte er 1981 gemeinsam mit Tolkien-Biograpf Humphrey Carpenter in „The Letters of J. R. R. Tolkien“. 2007 erschien allerdings ein weiteres „neues“ Tolkien-Werk: „The Children of Húrin“, eine der ältesten Geschichten des Legendariums – und eine der tragischsten. Christopher Tolkien ging hier ähnlich vor wie beim „Silmarillion“. Das Ziel war nicht, die Texte in ihrem unvollendeten Zustand mit editorischen Kommentaren zu präsentieren, sondern eine einheitliche Narrative zu schaffen, die als in sich geschlossenes Werk funktionieren kann. Anders als beim „Silmarillion“ bemühte er sich allerdings, so wenig Veränderungen an den ursprünglichen Texten wie möglich vorzunehmen. Im Grunde vereinte er die diversen Versionen, von der aus „The Book of Lost Tales“ über die diversen Zwischenstadien bis zu dem Text, der schließlich im fertigen „Silmarillion“ landete, zu einem durchgehenden Epos.
„The Children of Húrin“ spielt im Ersten Zeitalter Mittelerdes. Im Mittelpunkt der Erzählung steht Túrin Turambar, eines der titelgebenden Kinder Húrins, der als tragischer Held im Stile Siegfrieds oder Ödipus‘ konzipiert ist. Nachdem sein Vater Húrin in die Hände Morgoths, Saurons Vorgänger als Dunkler Herrscher und quasi das Mittelerde-Gegenstück zu Satan, gerät, wird er vom Elbenkönig Thingol in dessen Königreich Doriath großgezogen, überwirft sich aber mit den Elben von Doriath aufgrund seines aggressiven Verhaltens. Anschließend kämpft er mit einer Banden von Außenseitern gegen Orks, tötet aus Versehen seinen besten Freund und gerät mit dem Drachen Glaurung aneinander, der zwar nicht fliegen kann, aber noch ein paar Stufen bösartiger und manipulativer ist als Smaug. Ganz in der Tradition griechischer und nordischer Tragödien heiratet er schließlich unwissentlich seine Schwester und führt so schließlich seinen eigenen Untergang herbei, freilich mit ein wenig Beihilfe von Glaurung, der den Umstand, dass Túrin ihn schließlich niederstreckt, nicht allzu positiv aufnimmt.
„The Children of Húrin“ ist die wahrscheinlich grimmigste und düsterste Geschichte Tolkiens. Túrin Turambar ist als Protagonist deutlich fehlerbehafteter, als man es aus „The Lord of the Rings“ gewöhnt ist. Zwar ist er nicht wirklich zwiespältig, begeht in seinem Zorn allerdings einige ziemlich große und tragische Dummheiten, um ein ziemlich unangenehmes Ende zu finden. Wo LotR ein bittersüßes Ende hat, ist das Ende dieser Geschichte einfach nur bitter. Stilistisch liegt „The Children of Húrin“ deutlich näher am „Silmarillion“ als am LotR. Die Prosa ist nicht so komprimiert wie in Ersterem, aber der Tonfall ist dennoch der einer epischen Heldensage und weniger der eines traditionellen Romans. Theoretisch kann man „The Children of Húrin“ gänzlich ohne Vorkenntnisse bzw. ausschließlich mit der Kenntnis des LotR konsumieren, aber es hilft definitiv, wenn man zuvor das „Silmarillion“ gelesen hat, um die Ereignisse, Andeutungen und Querverweise besser einzuordnen.
Beren and Lúthien

Während sich im „Silmarillion“ eine ganze Reihe an Geschichten findet (ich persönliche hatte immer eine Schwäche für Feanor, den Schöpfer der Silmaril, der titelgebenden Edelsteine, hinter denen jeder im Ersten Zeitalter her ist), werden doch drei von ihnen von Vater und Sohn Tolkien als „Great Tales“, also als die essentiellen und zentralen Geschichten verstanden. „The Children of Húrin“ ist die erste. Die Erzählung von Beren und Lúthien ist zweite – und wahrscheinlich diejenige, die Tolkien persönlich am meisten am Herzen liegt. Es handelt sich dabei um DIE große Romanze Mittelerdes, das erste (aber nicht das letzte) Mal, dass sich Mensch und Elbin ineinander verlieben. Besagte Romanze ist eines der zentralen Handlungselemente des gesamten Legendariums, denn nicht nur werden die Nachkommen von Beren und Lúthien immer wieder zu essentiellen Figuren, die das Schicksal Mittelerdes bestimmen, die Beziehung spiegelt sich auch irgendwann in der von Aragorn und Arwen wider, die ihrerseits wiederum beide Nachkommen von Beren und Lúthien sind – in Aragorns Fall natürlich sehr, sehr weit entfernt. Und mehr noch, in dieser Romanze sah Tolkien auch einen Spiegel seiner eigenen Ehe mit seiner Frau Edith. Als sie 1971 starb, ließ er den Namen „Lúthien“ auf ihrem Grabstein eingravieren, und als Tolkien zwei Jahre später verschied, wurde auf seinen Wunsch hin „Beren“ auf seinem Grabstein eingraviert.
Wie die Geschichte der Kinder Húrins gehört auch die von Beren und Lúthien zu den ältesten Geschichten des Legendariums und machte viele Wandlungen durch. Christopher Tolkien wählte für diese Veröffentlichung allerdings einen anderen Weg als bei „The Children of Húrin“. Statt einer vereinheitlichten Narrative entschied er sich dafür, die Entwicklung der Geschichte über die Jahrzehnte hinweg aufzuzeigen. Diese Idee hatte er bereits in den 80ern, als er mehrere Konzepte für die Veröffentlichung der Schriften seines Vaters entwarf. Im Vorwort berichtet er von seinem damaligen Plan, für ein Buch eine einzelne Geschichte aus dem Korpus auszugliedern und sie „as a developing entity“ darzustellen. Die Versionen der Geschichte, die in diesem Buch zu finden sind, wurden in der einen oder anderen Form größtenteils bereits im Rahmen der „History of Middle-Earth“ publiziert, hier sind sie allerdings mit neuen kontextualisierenden Kommentaren versehen gesammelt, so dass man sich nicht durch die halbe „History“ wühlen muss, um alle signifikanten Versionen zu finden. Da es eine deutsche Übersetzung dieses Buches gibt, ist es zusätzlich für alle Mittelerde-Enthusiasten, die des Englischen nicht ganz so mächtig sind, interessant, da die Bände 3 bis 12 der „History“ bislang, wie bereits erwähnt, nicht übersetzt wurden.
„Beren and Lúthien“ enthält unter anderem die ursprüngliche Version der Geschichte aus dem „Book of Lost Tales“ mit dem Titel „The Tale of Tinúviel“, einen Ausschnitt aus dem bereits erwähnten Schriftstück „Sketch of the Mythology“, mehrere Ausschnitt aus dem „Lay of Leithian“, einem der epischen, aber unvollendeten Gedichte aus dem dritten Band der „History“, sowie diverse andere Versionen, die zum Teil ineinandergreifen. Die Essenz der Handlung ist freilich immer dieselbe: Beren verliebt sich in Lúthien, darf sie allerdings nicht heiraten. Als Bedingung stellt ihr Vater Thingol, dass Beren ihm einen der Silmaril aus Morgoths Krone bringt. Beren gelingt es, nach diversen Abenteuern – und mit der tatkräftigen Unterstützung Lúthiens – tatsächlich, einen der Silmaril aus der Krone herauszuschneiden. Schließlich nimmt das Ganze einen, mehr oder weniger tragischen bzw. glücklichen bzw. bittersüßen Ausgang, je nach Version.
Besonders interessant sind natürlich die Unterschiede zwischen den Versionen. So ist Beren in der Lost-Tales-Fassung noch kein Mensch, sondern ein Elb, einer der Noldor, bzw. Noldoli, die zu diesem Zeitpunkt noch Gnome genannt werden. Tolkien orientiert sich dabei an der ursprünglichen griechischen Bedeutung des Wortes gnome (Verstand), realisierte aber früher oder später, dass seine Leser unweigerlich Gartengnome vor Augen haben würden, weshalb er diese Bezeichnung später verwarf. Morgoth trägt noch nicht diesen Namen, der „dunkler Feind der Welt“ bedeutet, sondern firmiert ausschließlich unter seinem ursprünglichen Namen Melkor, und diesem fehlt auch noch das „r“, also Melko. Von besonderer Bedeutung ist eine Episode, in der Beren in die Klauen von einem der mächtigsten Diener Melko(r)s gelangt. In der Tales-Version handelt es sich dabei um Tevildo, den Fürsten der Katzen, der jedoch nie wieder aufgegriffen wird. An seiner statt tritt in „Sketch of the Mythology“ Thû, der Nekromant auf, aus dem später schließlich Sauron wird.
Auch wenn Christopher Tolkien den Kontext der Geschichte zusammenfasst und diverse Handlungselemente des Ersten Zeitalters, die von Bedeutung sind, kurz anreißt, halte ich die Lektüre des „Silmarillion“ zum Verständnis dieses Werkes doch fast für zwingend nötig. Wo „The Children of Húrin“ durchaus noch als archaisches Epos aus Mittelerde genossen werden kann, ist „Beren and Lúthien“ dafür zu deutlich literaturwissenschaftlich. Wer die „History of Middle-Earth“ komplett gelesen und studiert hat (was bei mir übrigens selbst noch nicht der Fall ist), wird wohl wenig Neues entdecken. Insofern richtet sich dieses Werk primär an jene, die zwar ein tiefergehendes Interesse an Mittelerde und der Entstehung des Legendariums haben, sich aber an die „History“ (noch) nicht heranwagen wollen. Mit „Beren and Lúthien“ kann man die Konzeption der „History“ gewissermaßen an einem expliziten Beispiel austesten.
The Fall of Gondolin

Ursprünglich dachte Christopher Tolkien, bei „Beren and Lúthien“ würde es sich um seine letzte Veröffentlichung handeln, 2018 legte er mit „The Fall of Gondolin“ allerdings noch einmal ein Werk nach und konnte so diese inoffizielle Trilogie der „Great Tales“ vollenden. Konzeptionell ist „The Fall of Gondolin“ dem direkten Vorgänger sehr ähnlich: Abermals ging es nicht darum, eine einheitliche Narrative zu gestalten, sondern die Evolution der Erzählung zu verdeutlichen. Die legendäre Elbenstadt Gondolin wird übrigens bereits im „Hobbit“ erwähnt – Glamdring, Orcrist und Stich wurden dort geschmiedet.
Im Fokus der Erzählung steht der Mensch Tuor, Cousin von Túrin Turambar, der sich im Auftrag des Vala Ulmo nach Gondolin begibt, um Turgon, den König des verborgenen Elbenreiches, vor dem Untergang seines Volkes zu warnen. In Gondolin entsteht eine weitere Menschen/Elben-Beziehung zwischen Tuor und Idril Celebrindal, Turgons Tochter. Dies führt jedoch letzten Endes dazu, dass der Elb Maeglin, Sohn von Turgons Schwester, der ebenfalls in Idril verliebt ist, Gondolin an Morgoth verrät, sodass dieser die verborgene Stadt mit aller Gewalt angreifen und niederwerfen kann. Tuor und Idril gelingt mit ihrem Sohn Eärendil, der einst zu einem der größten Helden Mittelerdes werden soll, die Flucht. Nebenbei bemerkt, Eärendil ehelicht später Elwing, die Enkelin von Beren und Lúthien, und zeugt mit ihr Elrond den Halbelben und Elros, den ersten König von Númenor.
Strukturell ist der Aufbau ähnlich wie beim Vorgänger: Nach einem ausführlichen Prolog, in dem Christopher Tolkien auch diese letzte der „Great Tales“ in Kontext setzt, folgt die ursprüngliche Version aus dem „Book of Lost Tales“. Abermals werden die knapperen Abrisse aus dem „Sketch of the Mythology“ und dem „Quenta Noldorinwa“, einer weiteren Vorform des „Silmarillion“, präsentiert, gefolgt von der wahrscheinlich interessantesten Fassung, die Christopher Tolkien als „The Last Version“ bezeichnet. Es handelt sich hierbei um den Anfang einer längeren Ausarbeitung dieser Geschichte, die stilistisch an „The Children of Húrin“ erinnert und deutlich detaillierter ist als alle anderen Versionen – leider bricht sie ab, kurz nachdem Tuor in Gondolin ankommt. In „The Evolution of the Story“ legt Christopher Tolkien noch einmal detailliert dar, wie sich die Erzählung über die Jahrzehnte hinweg gewandelt hat und liefert darüber hinaus auch noch die Endstücke des „Sktech of the Mythology“ und der „Quenta Noldorinwa“, die zugleich auch von den direkten Nachwirkungen des Falls von Gondolin erzählen, bis hin zu einem kurzen Abriss der Niederlage Morgoths und dem Ende des Ersten Zeitalters.
Was ich über „Beren and Lúthien“ geschrieben habe, gilt für „The Fall of Gondolin“ natürlich in gleichem Maße, wenn nicht noch mehr. Die einzige der drei „Great Tales“, die in diesen Veröffentlichungen auf eigenen Füßen stehen kann, ist „The Children of Húrin“. Für die anderen beiden benötigt man ein tiefergehendes, fast schon literaturwissenschaftliches Interesse an Tolkien. Als Startpunkte für eine detaillierte Beschäftigung mit der Entwicklung von Tolkiens Legendarium funktionieren „Beren and Lúthien“ und „The Fall of Gondolin“ allerdings ausgezeichnet. Und darüber machen sie sich, sowohl in der deutschen als auch in der englischen Hardcover-Version exzellent im Bücherregal. Alle verfügen über wunderschöne und atmosphärische Illustrationen von Alan Lee, die man gar nicht genug preisen kann (was auch Christopher Tolkien in „The Fall of Gondolin“ noch einmal ausgiebig tut).
Die Hörbücher der Älteren Tage
Zum Abschluss möchte ich noch an meine Hobbit- und LotR-Hörbuch-Artikel anknüpfen, denn auch zu den Geschichten der Älteren Tage existieren Hörbücher. Das „Silmarillion“ wurde sowohl in englischer als auch in deutscher Sprache umgesetzt. Das englische Hörbuch wird, anders als „The Hobbit“ und „The Lord of the Rings“, nicht von Rob Inglis, sondern von Martin Shaw interpretiert. Zwar habe ich dieses Hörbuch bislang nur ausschnittsweise gehört, aber ich denke, Shaw sagt mir mehr zu als Inglis. Die deutsche Version wird von Joachim Höppner vorgelesen, es handelt sich dabei um eines der beiden Mittelerde-Hörbücher, die er vor seinem Tod noch fertigstellen konnte. Dieses Hörbuch kann ich uneingeschränkt empfehlen. Anders als bei den deutschen LotR-Hörbüchern stört hier die Übersetzung nicht; zwar stammt auch die Silmarillion-Übersetzung von Krege, aber im Gegensatz zum LotR hat er hier meiner bescheidenen Meinung nach sehr gute Arbeit geleistet. Höppners Interpretation des Textes ist ohnehin über jeden Zweifel erhaben, gerade hier wirkt es, als würde einem Gandalf persönlich die Geschichte und Geschichten Mittelerdes erzählen.
Sowohl die „Unfinished Tales“ als auch die ersten beiden Bände der „History“ scheinen als englische Hörbücher eingelesen worden zu sein, von Erin Jones respektive Patrick Hogan. Dabei handelt es sich um „Library of Congress recordings“, die wohl nicht (oder nicht mehr) im freien Handel erhältlich sind, zumindest können diese Hörbücher nicht über Amazon oder Audible bezogen werden, allerdings sind sie auf Youtube gelandet.
„The Children of Húrin“ existiert abermals sowohl als deutsches als auch als englisches Hörbuch. Es wird kaum verwundern, dass Gert Heidenreich, wie bei allen Tolkien-Hörbüchern ab „The Two Towers“, hier die Interpretation übernommen hat, und wie üblich gibt es daran nicht auszusetzen, nach drei anderen Tolkien-Werken weiß Heidenreich genau, wie er die Texte des Professors vorlesen muss. Die englische Version ist allerdings dennoch vorzuziehen, denn dieses Mal liest Christopher Lee persönlich, und mit welch einer beeindruckenden Gravitas. Hier wird noch einmal deutlich, dass dieses Casting einfach perfekt ist. Wer also sowohl des Deutschen als auch des Englischen mächtig ist, kann sich nicht nur von Gandalf, sondern auch von Saruman die Geschichten der Älteren Tage erzählen lassen.
„Beren and Lúthien“ und „The Fall of Gondolin“ wurden nur auf Englisch, aber nicht auf Deutsch eingelesen. Bei beiden sind Timothy und Samuel West die Sprecher. Timothy West liest dabei die Einleitungen und Kommentare von Christopher Tolkien, während sein Sohn Samuel die eigentlichen Erzähl- und Gedichttexte übernimmt. Das funktioniert sehr gut, besonders da Timothy West zwar 14 Jahre jünger ist als Christopher Tolkien, man sich aber vorstellen kann, dass er durchaus so geklungen haben könnte. Timothy West klingt dagegen deutlich neutraler und liest sehr gut, wenn auch ein wenig anonym – natürlich kein Vergleich zu einem Christopher Lee.
Bildquellen:
Children of Húrin
Beren and Lúthien
The Fall of Gondolin
Siehe auch:
The Hobbit: Theatrical Audiobook
The Lord of the Rings: Soundscape Audiobook