Rumo & die Wunder im Dunkeln

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Walter Moers‘ dritter Zamonien-Roman, „Rumo & die Wunder im Dunkeln“, markiert einen interessanten Wendepunkt in der Konzeption der Reihe und verfügt zudem über ein äußerst faszinierendes Alleinstellungsmerkmal. Beginnend mit „Rumo“ ändert sich der Tonfall der Romane deutlich – „Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär“ und „Ensel und Krete“ wiesen noch einen deutlich humortischten bzw. parodistischen Tonfall auf. Während Moers‘ Humor in den späteren Zamonien-Romanen zwar keinesfalls verloren geht und auch parodistische Elemente erhalten bleiben, wird der Tonfall in „Rumo“ deutlich düsterer, grimmiger und ernster. Eine vergleichbare Entwicklung lässt sich bei den Illustrationen beobachten: Waren diese in den beiden Vorgängern noch stärker an Moers‘ Comicstil angelehnt, so sind sie ab „Rumo“ deutlich detaillierter und geerdeter.

Zudem ist „Rumo“ der letzte Roman der Reihe, der als direktes Spin-off von „Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär“ verstanden werden kann. „Ensel und Krete“ arbeitete noch sehr direkt mit diversen Elementen aus dem Erstling und griff Handlungsfäden auf, etwa die Buntbären, die Waldspinnenhexe und natürlich Hildegunst von Mythenmetz, dessen Werke Blaubär immer wieder konsumiert. Auch der Titelheld des dritten Romans durfte sein Debüt bereits in „Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär“ feiern, ebenso wie die sekundäre Hauptfigur Volzotan Smeik. Trotz dieses Umstandes setzte Moers die in „Ensel und Krete“ begonnene Separierung von Zamonien und Käpt’n Blaubär fort. Im Roman des Seebären taucht Rumo zu Beginn auf, dort wird er von Blaubär und dem Rettungssaurier Mac gerettet, und später in Atlantis, wo er als Bodyguard der mafiösen Haifischmade Volzotan Smeik fungiert, seinen Arbeitgeber aber verrät, um Blaubär zu helfen. In der Theorie spielt „Rumo“ komplett zwischen diesen Ereignissen, wobei Ersteres weder erwähnt noch angedeutet wird und Letzteres nicht zu den Ereignissen des Romans passen will. Das erlaubt die Theorie, dass der chronische Lügner Blaubär Rumo und Volzotan Smeik vielleicht in Wahrheit überhaupt nicht begegnet ist, sondern lediglich von ihnen gehört oder über sie gelesen und anschließend in sein Seemannsgarn eingebaut hat. Vor allem Smeik ist in „Rumo“ eine radikal andere Figur als in „Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär“. Subtile Anspielungen finden sich dennoch, vor allem beim Auftritt von Professor Dr. Abdul Nachtigaller, der auf der Kirmes sehen will, ob es sich bei der vollmundig angekündigten Fredda tatsächlich um eine Berghutze handelt. Besagte Fredda ist im Zamonien-Erstling eine Schülerin in Nachtigallers elitärer Nachtschule.

Neben Rumo, Smeik und Nachtigaller tauchen natürlich noch diverse weitere Elemente aus den ersten beiden Zamonien-Romanen auf. Hildegunst von Mythenmetz ist ebenfalls präsent, wenn auch indirekt durch die mehrfache Erwähnung diverser Werke. Zudem macht es sich Moers zur Gewohnheit, Dinge, die in vorherigen Romanen kurz angerissen werden, ausführlich zu schildern. Die diversen Belagerungen der Lindwurmfeste werden in „Ensel und Kretel“ sehr knapp erwähnt und in „Rumo“ von einem Beteiligten detailliert erläutert. Im Gegenzug deutet Moers bereits Inhalte von „Die Stadt der träumenden Bücher“ an, nicht nur fällt Colophonius Regenscheins Name, der Eydeet Dr. Oztafan Kolibril liest den Roman (eigentlich die ersten beiden Kapitel von Hildegunst von Mythenmetz‘ ausufernder Autobiographie „Reiseerinnerungen eines sentimentalen Dinosauriers“) tatsächlich innerhalb der Narrative und gibt eine kurze Zusammenfassung des Inhalts. Im Gegensatz dazu sagt ihm „Der sprechende Ofen“, ein weiterer Mythenmetz-Roman, der in „Ensel und Krete“ thematisiert wird, überhaupt nicht zu.

In diesem Kontext kommen wir auch gleich zum Alleinstellungsmerkmal des dritten Zamonien-Romans: Es ist der einzige ohne einen diegetischen Erzähler oder einen fiktiven Autor. Bei „Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär“, „Die Stadt der träumenden Bücher“, „Das Labyrinth der träumenden Bücher“ und dem im September 2023 erscheinenden Roman „Die Insel der 1000 Leuchttürme“ handelt es sich um autobiografische Werke, „Weihnachten auf der Lindwurmfeste“ ist ein Brief und „Ensel und Krete“, „Der Schrecksenmeister“, „Prinzessin Insomnia und der alptraumfarbene Nachtmahr“ sowie „Der Bücherdrache“ sind von Hildegunst von Mythenmetz verfasste Romane. Die Thematik des unzuverlässigen Erzählers ist eine, die sich durch sämtliche Zamonien-Romane zieht. Auch in „Rumo“ ist sie vorhanden, wird aber nicht, wie sonst, über die Erzählinstanz des Romans oder eine Autorenfiktion vermittelt. Der extradiegetische Erzähler von „Rumo“ ist tatsächlich allwissend (Erzähler mit Nullfokalisierung) und er hält, ähnlich wie es in Tolkiens „The Lord of the Rings“ der Fall ist, immer wieder die eigentliche Handlung an, um Hintergründe zu erläutern und dem Leser Dinge zu erklären, die die Figuren nicht wissen bzw. nicht wissen können. Zudem hat er die Angewohnheit, in die Köpfe fast aller Figuren hineinzusehen, ein erzählerischer Kniff, der mich sonst eher stört, hier aber ziemlich gut zur Natur des Romans passt. Neben den Erläuterungen des extradiegetischen Erzählers haben zudem die Figuren die Tendenz, einander Geschichten zu erzählen und so Binnenerzählungen zu eröffnen, wobei sie dabei oft selbst als unzuverlässige Erzähler fungieren. Das beste Beispiel ist Volzotan Smeik, der Rumo von der Belagerung der Lindwurmfeste erzählt, seine eigene Rolle bei diesem Ereignis allerdings verschweigt. Die eigentliche Geschichte der Titelfigur ist eine recht geradlinige Angelegenheit, durch die ganzen Binnenerzählungen, die Geschichten innerhalb der Geschichten, gewinnt der Roman allerdings eine beeindruckende Komplexität, nicht zuletzt, da jede Binnenerzählung für die Gesamthandlung wichtig ist und im Finale Auswirkungen hat. Extrem beeindruckend ist zugleich, wie Moers es dabei gelingt, den Leser an diesen Roman zu binden. Gerade in Bezug auf atemlose Spannung waren sowohl „Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär“ als auch „Ensel und Krete“ vielleicht nicht unbedingt Idealbeispiele, bei Ersterem bedingt durch die episodische Natur, bei Letzterem durch die Mythenmetz’schen Abschweifungen. Eine gewisse Episodenhaftigkeit findet sich bei „Rumo“ zwar auch, aber durch die Dynamik von Moers‘ Stil bleibt man hier regelrecht an den Seiten kleben.

Walter Moers ist bekannt dafür, in seinen Romanen mit Genres zu spielen und diese im Kontext von Zamonien auszuprobieren. Natürlich sind alle Zamonien-Romane in irgendeiner Form Fantasy, in dem Sinn, dass sie in einer Sekundärwelt mit vielen absonderlichen Kreaturen spielen, das Sub-Genre wechselt allerdings. „Rumo & die Wunder im Dunkeln“ ist klassischer Fantasy tatsächlich am nächsten, da Moers mit seinem dritten Zamonien-Roman explizit eine Abenteuergeschichte verfassen wollte, nicht unbedingt angelehnt an zeitgenössische Fantasy, aber sehr wohl an deren Vorbilder, etwa die mittelalterliche Helden- und Artusepik und diverse Sagen und Mythologien im Allgemeinen. Natürlich wäre es nicht Walter Moers, würde er diese Vorbilder nicht dekonstruieren, ironisch brechen und durch seine eigene Linse betrachten. Ein weiterer großer Unterschied zwischen „Rumo“ und den restlichen Zamonien-Romanen ist der eigentliche Protagonist. Moers selbst gab in einem Interview zu Protokoll, die meisten seiner Protagonisten seien „nur mit dem Maul sportlich“, oft sind sie Trickster (Blaubär, Echo), Intellektuelle (Hildegunst von Mythenmetz) oder körperlich auf die eine oder andere Weise beeinträchtigte oder schwache Charaktere (Ensel und Krete, Prinzessin Insomnia). Zwar werden diese Figuren durchaus in Action verwickelt, aber stets unfreiwillig und meist zu ihrem Nachteil. Rumo ist der einzige Protagonist, der tatsächlich als Actionheld fungiert und die meisten Kämpfe, in die er verwickelt wird, auch gewinnt oder zumindest eine ernsthafte Chance auf den Sieg hat. Zugleich ist er aber auch der charakterlich am wenigsten ausgeprägte Moers-Protagonist. Rumo fungiert als Handlungsträger, in besagtem Interview nennt Moers ihn „eine kleine Lokomotive, die nicht viel reflektiert“. Das geht soweit, dass Rumo im Verlauf der Handlung ein telepathisches Schwert (bzw. Käsemesser) erhält, in dem zwei Persönlichkeiten stecken, die das Reflektieren gewissermaßen für ihn übernehmen. Im Sinne vieler klassischer Geschichten ist Rumo somit eher Projektionsfläche denn komplexer Charakter, es sind die Figuren um ihn herum, die eigentlich interessant sind. Ähnlich wie viele typische Sagen-Helden, sei es Siegfried, Parzival oder Herakles, ist Rumo ein recht passiver Charakter, der selten eine eigene Agenda hat und Ziele verfolgt, er agiert meistens nicht, sondern reagiert. Selbst Rumos zentrale Motivation, der silberne Faden, fällt in diese Kategorie, es ist ein Instinkt, dem er zu Anfang folgt, ohne zu wissen, was das Ganze zu bedeuten hat. Und selbsr als er es weiß, folgt er diesem Instinkt weiter und hinterfragt ihn nicht. Trotzdem funktioniert dieser klassische Handlungsaufbau sehr gut, da wir als Leser zu Beginn genauso viel über die Welt, in die Moers uns hineinwirft, wissen wie Rumo selbst, nämlich fast nichts. Als Leser lernt man alle Schauplätze, Gegebenheiten und Hintergründe zusammen mit Rumo kennen, von den Teufelsfelsen über Wolperting bis hin zu Hel. Rumos Weg durch Zamonien orientiert sich ebenfalls an der Handlungsstruktur klassischer Sagen und Mythologien, die Elemente der Campbell’schen Heldenreise lassen sich problemlos ausmachen. Wie so viele andere Helden, etwa Orpheus oder Herakles, muss auch Rumo in die Unterwelt hinabsteigen und eine metaphorische Hölle durchqueren, wobei deren metaphorische Natur durchaus diskutabel ist, heißt die Hauptstadt von Untenwelt doch tatsächlich Hel.

Ein weiterer Aspekt der Artus-Epik und höfischer Literatur des Mittelalters findet sich in dem zentralen, aus Rumo und der Wolpertingerin Rala bestehenden Pärchen. Eine tatsächliche Beziehungsdynamik gewährt Moers den beiden nicht, da sie den kompletten Roman brauchen, um überhaupt zum Paar zu werden, stattdessen kreiert er ein lang andauerndes „Minne-Verhältnis“, da Rumo praktisch den gesamten Roman bewusst oder unbewusst um die Angebetete wirbt oder zumindest zu ihr gelangen möchte. Es ist Rala, die den silbernen Geruchsfaden aussendet, dem Rumo von Anfang an folgt und der zugleich als roter Faden fungiert. Bei seinen Minne-Bemühungen stellt sich Rumo freilich so ungeschickt an, dass Moers damit das ganze Konzept praktisch ad absurdum führt. Ein weiteres Element der Heldenepik ist die Brutalität – gerade bezüglich der Gewalt geht es in „Rumo“ deutlich heftiger zu als in den beiden Vorgängern, auch das natürlich in bester Genre-Tradition. Man erinnere sich nur an, sagen wir, das Gemetzel am Ende des „Nibelungenlieds“. Wer sich eine wirklich ausführliche Auseinandersetzung mit dieser Thematik wünscht, dem kann ich den Aufsatz „‚Blut! Blut! Blut‘ Die Artusepik als Erbgut wortkarger Wolpertinger“ von Maren J. Konrad, erschienen in der Aufsatzsammlung „Walter Moers‘ Zamonien-Romane. Vermessung eines fiktionalen Kontinents“, herausgegeben von Gerrit Lembke, nur ans Herz legen.

Damit hören die literarischen Anspielungen und Referenzen natürlich nicht auf. Eine äußerst ironische Brechung der Heldenepik findet sich in der Figur des Uschan DeLucca, seines Zeichens Fechtlehrer der Wolpertinger, der sich einen Fechtgarten geschaffen hat. Dieser nimmt gnadenlos jedes Klischee der klassischen Mantel-und-Degen-Filme aufs Korn, die ja oft ihrerseits wiederum Adaptionen von Heldenepen und mittelalterlichen Sagen sind. Eine der Binnenhandlungen, das Tagebuch Oztafan Kolibrils, erinnert zudem sowohl an das Buch von Mazarbul (die Zwergenaufzeichnung, die Gandalf den Gefährten in Moria vorliest) aus „The Lord of the Rings“ als auch an die Werke H. P. Lovecrafts. Smeiks Situation gleicht der der Gefährten, er findet sich in einer Falle wieder und erfährt dort über ein Schriftstück vom Schicksal seines Vorgängers, während ihm dasselbe Schicksal droht, während der Aufbau und die Atmosphäre besagten Tagebuchs sich an Lovecraft orientieren. Die Einwohner Hels schließlich rufen bei mir gewisse Erinnerungen an die Drow (Dunkelelfen) aus „Dungeons and Dragons“ wach; zwar sind die Hellinge nicht matriarchalisch organisiert (und auch deutlich weniger attraktiv), aber davon abgesehen finden sich diverse Parallelen in Lebensweise und Gesellschaft. Gaunab, ihr Herrscher, scheint schließlich eine Parodie des stereotypen Caesarenwahnsinns zu sein, historisch personifiziert durch Caligula und Nero und in diversen fiktionalen Werken natürlich ordentlich ausgeschlachtet.

Fazit: „Rumo & die Wunder im Dunkeln“ ist nicht nur ein grandioses, postmodernes und metafiktionales Heldenepos, sondern auch ein „Page Turner“ im wahrsten Sinn des Wortes. Dieses Werk hätte problemlos Moers‘ Opus Magnum und das Highlight der Zamonien-Romane sein können, gäbe es da nicht noch „Die Stadt der träumenden Bücher“…

Bildquelle (Copyright: Penguin-Random House)

Siehe auch:
Die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär
Ensel und Krete
Der Bücherdrache
Art of Adaptation: Die Nibelungen (Roman Wolf)

2 Gedanken zu “Rumo & die Wunder im Dunkeln

  1. Eine sehr schöne Besprechung! Interessant, dass du General Ticktack mit keinem Wort erwähnst, halte ich ihn doch für einen sehr gelungenen und interessanten Bösewicht. Aber ansonsten triffst du es ziemlich gut, ohne zuviel zu verraten. Ich habe das Buch als Jugendlicher mehrfach gelesen. Zu „Der Schrecksenmeister“ habe ich im Gymnasium tatsächlich auch eine ausführliche Buchbesprechung verfasst, wo ich auch auf die Sachen eingegangen bin, die mir bei Moers ein bisschen auf die Nerven gehen…

    1. Danke. Der gute General wollte einfach irgendwie nicht so recht in den Artikel passen, ich kann nicht einmal genau sagen, weshalb. Aber ja, er ist definitiv ein interessanter Schurke. Irgendwie hat er bei mir immer gewisse Grievous-Assoziationen hervorgerufen. Ich meine, ich habe den Roman gelesen (bzw. gehört), als Episode III gerade recht aktuell war.

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