‘Salem’s Lot

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Stephen King ist einer der, wenn nicht gar DER größte Namen im literarischen Horror-Genre. Da verwundert es kaum, dass sich der chronische Vielschreiber bereits mehrfach und auf unterschiedlichste Art und Weise dem Vampir angenommen hat. Nicht nur spielen untote Blutsauger in seiner Dark-Tower-Saga eine wichtige Rolle, auch in der Fortsetzung von „The Shining“, „Doctor Sleep“, haben die enigmatischen Antagonisten definitiv vampirhafte Züge, wenn auch eher im weiteren Sinne. Seine vampirische Genesis feierte King allerdings bereits 1975 mit seinem zweiten Roman, „‘Salem’s Lot“. Diesen Roman als „Stephen King’s Dracula“ zu bezeichnen geht vielleicht einen Schritt zu weit, aber die Grundprämisse ist durchaus von Stokers Roman abgeleitet: King stellte sich die Frage: „Was wäre, wenn Dracula in der Moderne im kleinstädtischen Amerika auftauchen würde?“ Gerade der literarische Vampir befand sich in den 70ern in einer Ära des Umbruchs, der filmische sollte bald folgen. Im selben Jahr wie „‘Salem’s Lot“ erschien Fred Saberhagens „The Dracula Tape“, nur ein Jahr später ging Anne Rice‘ „Interview with the Vampire“ an den Start – beide sind als Pioniere des sympathischen Vampirs in der Protagonistenrolle zu werten. King hingegen bedient sich des Vampirs als klassisch-böser Antagonist und orientiert sich zumindest in dieser Hinsicht an Stoker. Dennoch ist sein Ansatz deutlich moderner, man ist beinahe gewillt, „‘Salem’s Lot“ als Wegbereiter solcher Filme wie „Fright Night“ oder „The Lost Boys“ zu betrachten: Es geht nicht nur darum, dass Vampir sich in einem modernen, kleinstädtischen Milieu ausbreitet, sondern auch um die Auswirkungen, die das hat. Im Gegensatz dazu beschäftigt sich „Dracula“ nur bedingt oder höchst indirekt mit weiterreichenden, gesellschaftlichen Effekten. Während seines Aufenthalts in England gelingt es dem Grafen lediglich, ein Opfer zu verwandeln, bevor er von seinen Gegnern zum Rückzug gezwungen wird. Alles spielt sich auf der persönlichen Ebene ab. Die Kleinstadt Jerusalem‘s Lot, die als Schauplatz und Namensgeberin von Kings Roman fungiert, wird hingegen vom einfallenden Vampir nachhaltig verändert.

Viele der Elemente, die inzwischen als King-Stereotypen wahrgenommen werden, finden sich bereits in „‘Salem’s Lot“, vor allem das detailliert ausgearbeitete Kleinstadtsetting mit einer Vielzahl an Charakteren. Rückblickend betrachtet wirkt Jerusalem‘s Lot fast wie ein Prototyp für Derry aus „It“. Zwar verfügt „‘Salem’s Lot“, wie so viele King-Romane, über ein breites Panorama an verschiedenen Figuren, Protagonist ist allerdings Ben Mears, der zu Anfang des Romans in seine frühere Heimatstadt zurückkehrt. Auch Ben Mears erweist sich im Kontext von Kings Oeuvre als relativ typisch, besitzt er doch einige Charakterzüge seines Autors, hier primär das Schriftstellertum. Der Umstand, dass Ben Mears zwar mit Jerusalem‘s Lot vertraut, aber zugleich auch ein Neuankömmling ist, sorgt für eine erzählerisch interessante Ausgangslage, denn er macht Mears zu einem Spiegel der antagonistischen Macht, die zeitgleich ankommt. Die Geschichte entfaltet sich dabei sehr langsam: Ben Mears beginnt, sich in seiner alten Heimatstadt wieder einzuleben und plant, ein Buch über das alte Marsten House zu schreiben, das ihn als Kind ziemlich traumatisiert hat. Zu den Einwohnern, die er kennenlernt, gehört unter anderem Susan Norton, mit der er eine Beziehung beginnt. Die ominösen Ereignisse beginnen, als der Antiquitätenhändler Kurt Barlow und sein Geschäftspartner Richard Straker sich in der Stadt niederlassen, um ein Antiquitätengeschäft zu eröffnen. Straker regelt alle geschäftlichen Angelegenheiten, Barlow hingegen sieht man nie. Schon bald beginnen Einwohner der Stadt zu verschwinden, darunter auch Kinder. Hierbei handelt es sich freilich nur um eine extrem knappe Zusammenfassung, da King sich um einen sehr langsamen Spannungsaufbau bemüht und zuerst Einblicke in die Leben der diversen Kleinstadtbewohner gibt, darunter vor allem Mark Petrie, der örtliche Priester Father Callahan und diverse andere. Ähnlich wie Stoker hält auch King seinen Vampir, Kurt Barlow, für lange Zeit aus der Handlung heraus, sodass wir ihn nur durch sein Wirken erleben. Anders als bei Stoker dürfen wir ihn allerdings nicht zu Beginn der Geschichte kennenlernen, so etwas wie Jonathan Harkers Ausflug nach Transsylvanien findet sich hier nicht.

Strukturell erinnert „‘Salem’s Lort“ tatsächlich eher an die ursprüngliche Fassung des Bühnenstücks „Dracula“ von John L. Balderston und Hamilton Deane, das später zur Vorlage des Bela-Lugosi-Filmes werden sollte. Wie in besagtem Stück kommt der Vampir zusammen mit seinem Diener an und trifft auf eine völlig nichtsahnende, örtliche Bevölkerung. Es sei allerdings erwähnt, dass Straker und Renfield abseits ihrer Funktion wenig gemein haben – tatsächlich ist es Straker, der finanziellen Angelegenheiten seines Meisters regelt und zusieht, dass das Marsten House erworben werden kann. Für Insekten hat er nichts übrig. Barlow selbst hingegen ist Dracula sehr ähnlich, wenn auch deutlich älter. Wie bei Stokers Graf handelt es sich auch bei Barlow um einen äußerst bösen Vampir ohne jegliches Element der Tragik. Und ähnlich wie Dracula ist Barlow auch der einzige Vampir der Geschichte, der wirklich selbstständig handeln und Pläne schmieden kann. Seine komplette Nachkommenschaft wird ausschließlich vom Hunger nach Blut angetrieben, was noch an Persönlichkeit vorhanden ist, sind bloße Echos der Menschen, die sie einmal waren – ganz so, wie man es bei Lucy Westenra beobachten kann. In späteren Werken der Dark-Tower-Reihe sollte King an „‘Salem’s Lot“ anknüpfen, Kurt Barlow erneut auftreten lassen und Klassifikationen für seine Vampire einrichten, davon findet sich in diesem Roman allerdings kaum etwas. Barlow und die von ihm verwandelten sind sehr klassische konzipierte Vampire; ganz wie Dracula selbst wird Barlow über den Verlauf des Romans jünger.

Auch darüber hinaus finden sich im Text immer wieder subtile Anspielungen auf „Dracula“, und damit meine ich nicht den Umstand, dass Mark Petrie mit der Bela-Lugosi-Verfilmung vertraut ist oder ähnlich offensichtliche Anspielungen. Oft sind es textliche Parallelen oder Beschreibungen, etwa wenn Ben Mears gezwungen ist, seine geliebte Susan zu pfählen, fühlt man sich stark an Arthur Holmwood und Lucy Westenra in einer ähnlichen Situation erinnert. Thematisch ist „‘Salem’s Lot“ allerdings deutlich anders gelagert. Anhand der Vampire schildert King den langsamen, stetigen Verfall der amerikanischen Kleinstadt, symbolisiert durch die Vampirwerdung so vieler Bewohner. Der Vampir ist dabei nicht einfach nur der Eindringling von außen, das pervertierende Fremde, wie es Dracula war, stattdessen sind die Zeichen des Verfalls bereits zuvor vorhanden – vielleicht sind sie es, die Barlow überhaupt erst nach „‘Salem’s Lot“ ziehen. King nimmt sich hier auf jeden Fall sehr viel Zeit, baut die vielen Charaktere langsam auf. „‘Salem’s Lot“ fühlt sich vor allem zu Anfang nicht unbedingt wie ein Horrorroman an. Man muss durchaus Ausdauer mitbringen. Wie so oft gelingt King der langsame Aufbau allerdings sehr gut, und sofern man nicht von den üblichen Handlungselementen und Stilmitteln genervt ist (dass Mark Petrie in der Schule gemobbt wird, dürfte wohl niemanden verwunden), sind die Charakterisierung und Figureninteraktionen sehr gelungen und arbeiten schön auf den tatsächlichen Horror hin. Mehr noch, King gelingt es, den Schrecken der Vampire anschaulich zu vermitteln, ohne dass es einerseits zu klischeehaft ausfällt, sich andererseits aber auch nicht zu weit vom Kernkonzept entfernt. Das Marsten-House verbreitet zudem klassische Haunted-House-Vibes, die nicht nur sehr willkommen sind, sondern auch einen guten Ersatz für das klassische Vampirschloss bieten, das in „‘Salem’s Lot“ natürlich fehlt. Wenn es einen zentralen Kritikpunkt, dann vielleicht den, dass Frauenfiguren in letzter Konsequenz ausschließlich in die Opferrolle gedrängt werden. Um „Dracula“ zu Vergleichszwecken noch einmal heranzuziehen: Zwar wird Mina nicht zur Actionheldin, ist aber involviert und teil der finalen Operation. Betrachtet man Susan Norton als Gegenstück zu Lucy, dann fehlt ein Mina-Counterpart völlig.

Fazit: Wer eine klassische Vampirgeschichte in modernerem Gewand sucht und kein Problem mit einem langsameren Spannungsaufbau und detaillierter Charakterarbeit hat, sollte „‘Salem’s Lot“ definitiv eine Chance geben. Für King-Fans ist der Roman zweifelsohne Pflichtlektüre, beinhaltet er doch die Genesis vieler Handlungselemente und Stilmittel, die er im Verlauf seiner Karriere immer wieder verwenden sollte.

Bildquelle

Siehe auch:
Lovecrafts Vermächtnis: Revival
IT
Gerald‘s Game
In the Tall Grass
Geschichte der Vampire: Dracula – Bram Stokers Roman
Geschichte der Vampire: Dracula – Universals Graf
The Dracula Tape

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