Art of Adaptation: Tolkiens Erzählstruktur und Dramaturgie

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Als LotR-Fan fragt man sich natürlich häufiger, wie J.R.R. Tolkien wohl selbst die Adaptionen seiner Werke – speziell natürlich die LotR-Filme – bewertet hätte. Es ist bekannt, dass sein Sohn Christopher, der immerhin Nachlassverwalter seines Vaters war und ihm noch zu dessen Lebzeiten bei der Konzeption des „Silmarillion“ half, die Filme nicht allzu sehr schätzt und dass Simon Tolkien, Christophers Sohn, der Meinung ist, dass sein Großvater nicht allzu begeistert gewesen wäre (siehe hier). Ein Indiz dafür ist ein Brief, den Tolkien 1958 an Forrest J. Ackerman bezüglich einer LotR-Verfilmung schrieb. In diesem Brief kommentiert Tolkien das Treatment eines gewissen Morton Zimmerman, mit dem er nicht allzu zufrieden war. Tolkien-Fans können das sehr gut nachvollziehen, denn die meisten Änderungen, die Zimmerman an der Geschichte vorgenommen hat, sind fragwürdig, weshalb Tolkiens vernichtende Kommentare durchaus verständlich sind. Besonders eine Anmerkung lässt allerdings aufhorchen. Bezugnehmend auf „The Two Towers“ und die Aufspaltung der Handlungsstränge schreibt er folgendes: „It is essential that these two branches should each be treated in coherent sequence. Both to render them intelligible as a story, and because they are totally different in tone and scenery. Jumbling them together entirely destroys these things.” Bei all den berechtigten Kritikpunkten an besagtem Treatment, was diesen Punkt betrifft, bin nicht nur ich anderer Meinung als der Professor, sondern auch so ziemlich jeder, der den „Lord of the Rings“ bereits adaptiert hat, sei es als Film oder Hörspiel.

In seinen Werken folgt Tolkien gerne stilistischen, inhaltlichen und dramaturgischen Pfaden, von denen jeder Schreibratgeber aufs heftigste abraten würde, da seine Konventionen deutlich stärker denen antiker und mittelalterlicher Mythen und Epen (primär natürlich den nordischen) folgt als denen des modernen Romans. Welcher „moderne“ Autor würde schon eine wichtige Szene wie die Zerstörung Isengarts durch die Ents im Rückblick erzählen? Da fühlt man sich fast schon an das Theater früherer Tage erinnert, als man Kniffe wie „Botenbericht“ und „Mauerschau“ verwendete, um potentiell kostspielige oder auf der Bühne nicht umsetzbare Szenen, beispielsweise Schlachten, nicht zeigen zu müssen. Inzwischen hat sich allerdings „Show, don‘t tell“ auch im Literaturbereich durchgesetzt. Aber auch von solchen Elementen abgesehen ist Tolkiens Verständnis von Dramaturgie und Struktur für alle, die sein Werk adaptieren wollen, eine… interessante Herausforderung.

Zumindest in „The Hobbit“ und „The Fellowship of the Ring” findet sich diese Problematik noch nicht – beide sind als geradlinige, sehr episodisch anmutende Geschichten konzipiert. Immer folgt ein Abenteuer auf eine gewisse Zeit in einer verhältnismäßig sicheren Unterkunft, wobei das nächste Abenteuer immer ein wenig größer und gefährlicher ist als das vorangegangene. Bilbo und die Zwerge starten in Hobbingen, begegnen den Trollen, machen eine Pause in Bruchtal, ärgern sich mit Orks und Wargen herum, erfreuen sich an Beorns Köstlichkeiten, verirren sich im Düsterwald und werden von den Waldelben gefangen, landen schließlich in Esgaroth, wo sie eine letzte Verschnaufpause bekommen, bevor es zum Erebor geht. Ab diesem Zeitpunkt gibt es freilich keine sicheren Orte mehr und nach dem Tod des Drachen kommt die Gefahr zu ihnen statt umgekehrt. Diese Struktur können die Filme relativ leicht umsetzen, auch wenn Jackson und Co. die Handlung natürlich aufblähen, um diverse Subplots erweitern und mit der Verfolgung durch Azog versuchen, die Episodenhaftigkeit der Geschichte zu reduzieren.

Nicht unähnlich ist auch „The Fellowship of the Ring“: Abermals wird im Auenland gestartet, es folgen erste Begegnungen mit den Ringgeistern, eine Pause in Bockland, der Alte Wald, Tom Bombadils Heimstatt, die Hügelgräberhöhen und Grabunholde, Bree (das allerdings nur bedingt sicher ist), die Wanderung durch die Wildnis, verbunden mit der Rückkehr der Nazgûl, Bruchtal, Moria, Lórien und schließlich Amon Hen. Abermals folgt der Film der Dramaturgie des Romans, rafft und verdichtet aber kräftig. Die relativ unbedeutenden und mit der Haupthandlung kaum verknüpften Abenteuer im Alten Wald und auf den Hügelgräberhöhen werden (zusammen mit Bockland und Tom Bombadil) ersatzlos gestrichen, sodass die erste Hälfte des Films deutlich kohärenter wirkt und die Nazgûl als durchgehende Bedrohung inszeniert werden, wo sie im Roman für gut vier Kapitel fast völlig aus der Handlung verschwinden. Etwas ganz Ähnliches versuchen Jackson und Co. auch in der zweiten Hälfte, indem Saruman, von dem man als Leser bislang nur gehört hat (woran sich bis zum Ende von „The Two Towers“ auch nichts ändert), der im Film aber bereits mehrfach zu sehen war (und warum auch nicht, wenn man schon jemanden wie Christopher Lee zur Hand hat?), eine größere Rolle bekommt. Der Weiße Zauberer fungiert hier als Strippenzieher, der direkt dafür verantwortlich ist, dass die Gefährten die Minen von Moria durchqueren müssen und von den Uruk-hai angegriffen werden – eine weitere Szene, die bei Tolkien nur im Rückblick behandelt wird. Zu Beginn von „The Two Towers“ stolpert der Sam suchende Aragorn mehr oder weniger zufällig über den sterbenden Boromir, über seinen dramatischen Kampf mit den Uruks wird man nur informiert.

Womit wir auch bereits bei der Aufspaltung der Handlungsstränge wären. Jeder Band der Trilogie teilt sich noch einmal in zwei „Bücher“. In Buch 3 folgen wir erst Aragorn, Gimli, Legolas, Merry und Pippin auf ihrem Weg durch Rohan, um anschließend in der Zeit zurück zum Ende von „The Fellowship of the Ring“ zu springen und in Buch 4 mit Frodo, Sam und Gollum nach Mordor zu wandern. Innerhalb von Buch 3 wendet Tolkien diesen Kunstgriff dann noch einmal an, denn den ersten beiden Kapiteln mit Aragorn, Gimli und Legolas folgen zwei Kapitel, die beschreiben, was Merry und Pippin während derselben Zeit als Gefangene von Sarumans Uruks erleben. Diese Spaltung setzt sich in „The Return of the King“ fort, Buch 5 erzählt von der Verteidigung von Minas Tirith, der Schlacht auf dem Pelennor und schließlich dem letzten Gefecht vor dem Schwarzen Tor, während in den ersten drei Kapiteln von Buch 6 Frodos Weg zum Schicksalsberg weiter geschildert wird. In Kapitel 4 finden die Handlungsstränge dann wieder zusammen.

Im eingangs erwähnten Brief schreibt Tolkien zu Beginn: „The canons of narrative art in any medium cannot be wholly different;“ – das mag per se nicht falsch sein, aber gerade im Bereich der Struktur gibt es einfach viele Dinge, die nur in einem bestimmten Medium funktionieren. Ein schneller Szenenwechsel oder eine Montage ist in geschriebener Form meistens wenig sinnvoll. Im Gegenzug ist die Block-Anordnung, die Tolkien in „The Two Towers“ und „The Return of the King“ in einem dramatischen Medium, sei es Film oder Hörspiel, nur schwer vorstellbar. Wirklich jede Adaption, von den beiden Animationsfilmen von Ralph Bakshi respektive Jules Bass und Arthur Rankin jr. über die Hörspiele des BBC und des WDR bis hin zu den Jackson-Filmen, haben die beiden Handlungsstränge ineinander geschnitten – und das aus gutem Grund. Das soll nicht bedeuten, dass Tolkiens Vorgehensweise nicht auf ihre Art sehr effektiv wäre. Dennoch sollte man auch nicht ignorieren, dass gerade Buch 4 der Teil des „Lord of the Rings“ ist, der viele nicht ganz so standhafte Leser zur Aufgabe bringt, da es doch einen recht auslaugenden Effekt hat. Ein Film, der etwas Gleichartiges versuchte, würde wohl daran scheitern, weil er sich wie zwei aneinandergeklebte Filme anfühlen würde. Obwohl die Handlung auch in der Filmversion von „The Two Towers“ gespalten ist, fühlt sie sich doch durch den Zusammenschnitt einheitlicher ein, beispielsweise durch übergreifende Thematiken, visuelle Querverweise etc.

Diese Form der Adaption führt ihrerseits wiederum zu ganz neuen Herausforderungen. Die beiden Bücher, aus denen „The Two Towers“ besteht, sind nicht deckungsgleich. Für alle Ereignisse hat Tolkien eine minutiös genaue Chronologie ausgearbeitet, die Jackson und Co. meistens einhielten (zumindest mehr oder weniger). Aus diesem Grund findet sich ein großer Teil der Ereignisse, die noch im zweiten Roman verortet sind, darunter vor allem die Begegnung mit Kankra, erst im dritten Film. Was tut man nun aber mit einem Handlungsstrang, der relativ antiklimaktisch endet, wie es mit dem Frodo/Sam/Gollum-Handlungsstrang hier der Fall wäre, hielte man sich strikt an Tolkiens Chronologie? Der nur im Film stattfindende Ausflug mit Faramir nach Osgiliath ist, besonders für Buch-Fans, sicher einer der umstrittensten Punkte, gerade da hier Faramirs Charakter durchaus fundamental geändert wird. Allerdings funktioniert das ganze vom dramaturgischen Standpunkt (wenn auch nicht unbedingt vom geographischen) aus betrachtet wunderbar, besonders verzahnt mit der Schlacht um Helms Klamm und dem Angriff auf Isengart.

In der Filmversion von „The Return of the King” nähern sich die diversen Handlungsstränge dann äußerst effektiv an: Das Ausrücken der Truppen aus Minas Morgul sehen Frodo, Sam und Gollum aus nächster Nähe, Faramir und seine Männer von Osgiliath aus und Gandalf und Pippin erleben den Abmarsch auf einem Balkon in Minas Tirith. Andererseits bringt die Neustrukturierung auch diverse dramaturgische Probleme mit sich. Der Frodo/Sam -Handlungsstrang endet in „The Two Towers“ in völliger Ungewissheit, zwar ist Frodo noch am Leben, wird aber gerade von Orks abtransportiert. Die nächste „aktuelle Statusmeldung“ diesbezüglich erfolgt im Kapitel „The Black Gate Opens“ in „The Return of the King“, in welchem Saurons Mund den Heerführern des Westens diverse Gegenstände von Frodo und Sam, darunter das Mithril-Hemd, präsentiert. Gerade an dieser Stelle zeigt sich, wie effektiv Tolkiens Strukturierung sein kann, denn der Erstleser weiß hier kaum mehr als die Figuren und muss sich ausmalen, dass Frodo von den Orks zum Dunklen Herrscher gebracht wurde. Aus diesem Grund wurde die Szene mit Saurons Mund auch aus der Kinofassung entfernt, da ihr dramaturgischer Sinn gewissermaßen verloren geht.

Fazit: So sehr ich Professor Tolkien und seine Ansichten auch schätze, ich denke, in Bezug auf die Adaption der eigenwilligen Strukturierung seiner Geschichte irrt er sich. Man kann viele der Änderungen, die Jackson und Co. vorgenommen haben, durchaus kritisch sehen, aber ich denke, vom dramaturgischen Standpunkt aus funktioniert die Filmtrilogie exzellent – in der Kinofassung sogar noch einmal deutlich besser, obwohl ich die ganzen zusätzlichen Szenen natürlich auf keinen Fall missen möchte, weshalb ich trotzdem immer zur Extended Edition greife.

Tolkiens Brief an Forrest J. Ackerman zitiert aus: Carpenter, Humphrey; Tolkien, Christopher (Hg.): The Letters of J.R.R. Tolkien. London 2006 (1981), S. 270-277.

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