Das zehnte Kapitel des „Lord of the Rings“ beinhaltet einen weiteren, ziemlich langen Dialog, der in der Jackson-Verfilmung deutlich reduziert wurde – die gesamte Angelegenheit umfasst auf der Leinwand gerade einmal etwa eine Minute und wurde zudem noch deutlich zügiger inszeniert – Jackson und Co. verliehen der Szene eine Dringlichkeit, die im Roman nicht vorhanden ist, nicht zuletzt, weil die Nazgûl auch hier noch eine ferne, schwer einzuschätzende Bedrohung sind und primär durch Spitzel und Häscher handeln, während sie im Film zu diesem Zeitpunkt schon deutlich aktiver sind und selbst Hand anlegen.
Ein Brief und ein Spaziergang
Bei Tolkien begeben sich die Hobbits und der Waldläufer ruhig und gesittet in den Privatraum zurück, während Frodo im Film von Aragorn recht aggressiv ins Nebenzimmer gedrängt wird und die anderen drei Hobbits hintherkommen, bereit, es mit dem einschüchternden und deutlich größeren Waldläufer aufzunehmen. Die meisten Dialogzeilen, die im Film ausgetauscht werden, stammen zwar von Tolkien, der Löwenanteil der Gespräche dieses Kapitels fiel allerdings der Schere zum Opfer. Aragorn verspricht Informationen, fordert dafür aber eine Belohnung, woraufhin Frodo befürchtet, einem Erpresser in die Hände gefallen zu sein. Zudem enthüllt Aragorn, dass er den Hobbits bereits folgt, seit sie sich von Tom Bombadil getrennt haben.
Nicht unerwähnt bleiben sollte Butterblume, der zwar erst später hinzukommt, aber einen ziemlich großen Anteil am Gespräch hat, da er über einen Brief von Gandalf verfügt. Diesen hätte er ursprünglich bereits zustellen lassen sollen, hat es aber gewissermaßen verbummelt, weshalb er nun ein äußerst schlechtes Gewissen hat. Derartige Querverbindungen existieren im Film nicht, Butterblumes Rolle wurde sehr stark reduziert. Während die Hobbits im Film Aragorn mehr oder weniger aus der Not heraus blind vertrauen müssen, bekommen sie im Roman durch diesen Brief deutlich mehr Informationen an die Hand, inklusive eines Gedichts über Aragorn, das dieser zitiert, ohne den Brief gelesen zu haben, was zusätzliche Sicherheit gibt.
Während der Geschehnisse in der Schankstube fehlt Merry vollkommen; er taucht erst in der zweiten Hälfte dieses Kapitels wieder auf und berichtet, dass er auf eigene Faust einen Abendspaziergang in Bree unternommen hat und dabei auf mehrere Nazgûl gestoßen ist, um zum ersten, aber nicht letzten Mal mit ihrer verheerenden Wirkung Bekanntschaft zu machen. Diese Episode fehlt im Film völlig, abermals zeigt sich, dass die Ringgeister bei Tolkien deutlich subtiler vorgehen und sich ungesehen einschleichen, während sie bei Jackson schlicht das Eingangstor samt Torwächter umreiten. Nachdem Merry wieder sicher bei der Gruppe ist, werden Vorbereitungen getroffen, um etwaige nächtliche Angreifer in die Irre zu führen; u.a. stopft man die Betten mit Kissen aus. Aus dramaturgischen Gründen wird dieser Umstand im Film erst später enthüllt. Einige der markanten Zitate tauchen ebenfalls erst später auf. Aragorn verspricht Frodo: „‚ […] if by life or death I can save you, I will.’” (FotR, S. 224), ein ähnliches Versprechen gibt Aragorn in Bruchtal bei Elronds Rat. Auch Frodos Einschätzung bezüglich Streicher „‚I think one of [the Enemy’s] spies would – well, seem fairer and feel fouler, if you understand.’” (FotR, S. 224) findet sich leicht abgewandelt etwas später, während der Fünfertrupp bereits auf Wanderschaft ist.
Der König im Exil
Dieser Zeitpunkt eignet sich ganz gut, um die Romanversion von Aragorn mit ihrem Filmgegenstück zu vergleichen, denn hier gibt es einige gewaltige Unterschiede. Tolkiens Aragorn ist im wahrsten Wortsinn ein König im Exil, er hat seine Bestimmung erkannt und strebt ihr entgegen. Trotz seines abgehalfterten Äußeren lässt er den König immer wieder durchblitzen. Die Figur bleibt über den Verlauf des Romans recht statisch, bereits zu Beginn hat sie ihr Ziel und arbeitet daran, es zu erreichen, macht aber ansonsten nur wenige mentale oder emotionale Veränderungen durch. Im Gegensatz dazu ist Film-Aragorn deutlich weniger selbstsicher und will eigentlich nicht König werden, er zweifelt immer wieder an sich und seiner Befähigung und befürchtet, dieselben Fehler zu machen wie sein Vorfahr Isildur, wie er im Gespräch mit Arwen in Bruchtal enthüllt – eine Szene, die in dieser Form nicht im Roman zu finden ist. Das spiegelt sich natürlich auch in Viggo Mortensens Performance wider; ich könnte mir vorstellen, dass ein Charakter mit größerem innerem Konfliktpotential und mehr Selbstzweifeln auch eine interessantere Herausforderung darstellt, gerade für einen Schauspieler von Mortensens Kaliber.
Diese Sachlage zeigt sich an mehreren kleinen Details. Nicht nur wird Aragorns Name bereits im Kapitel „Strider“ enthüllt, durch den Brief bzw. das enthaltene Gedicht erfahren wir zusammen mit den Hobbits, dass dieser Waldläufer irgendeinen königlichen Anspruch hat, wenn auch noch nicht, welchen. Im Gegensatz dazu bleibt Film-Aragorn bis zum Rat von Elrond nur Streicher. Und während Aragorn bei Tolkien die Bruchstücke von Narsil als Erkennungszeichen mit sich herumträgt und als sein Eigentum betrachtet, werden sie in der erzählten Welt des Films in Bruchtal aufbewahrt und deutlich später zu Anduril verarbeitet, als es im Roman der Fall ist. Jackson, Walsh und Boyens wollten Aragorn eine traditionellere Entwicklung geben, die eher den Hollywood-Konventionen entspricht – die Entwicklung der Figur soll für den Zuschauer greifbarer und nachvollziehbarer erscheinen.
Apropos Entwicklung, zum Schluss noch eine amüsante Anekdote: Aragorn begann sein literarisches Leben als eigenwilliger Hobbit namens „Trotter“ statt Streicher („Strider“), dessen markantestes Merkmal der Umstand war, dass er über hölzerne Fußprothesen verfügte, nachdem er in Mordor gefoltert wurde. In früheren Entwürfen des „Lord of the Rings“ nahm er Aragorns Rolle in Bree und später bei den Gefährten ein. Sein tatsächlicher Name in diesen Entwürfen lautete Peregrin Boffin. Irgendwann wurde aus diesem Hobbit der Waldläufer, den wir heute kennen, er behielt den Spitznamen „Trotter“ allerdings noch ziemlich lange, erst 1948 wurde aus Trotter Strider. Nachzulesen ist dieser durchaus amüsante Fun Fact in „The Return of the Shadow”, dem sechsten Band der „History of Middle-earth”.
Zitiert nach:
Tolkien, J. R. R.: The Lord of the Rings Part 1: The Fellowship of the Ring. London 2007 [1954]
Spoiler! Story: Als die amerikanische Künstlerin Evie (Nathalie Emmanuel) herausfindet, dass sie zur alteingesessenen und vor allem reichen britischen Alexander-Familie gehört, kann sie es erst nicht so recht glauben. Sie trifft sich mit ihrem entfernten Cousin Oliver (Hugh Skinner), der sie prompt zu einer großen Familienfeier, einer Hochzeit einlädt. Bei ihrer Ankunft in New Carfax Abbey im britischen Küstenort Whitby ist Evie erst einmal überwältigt. Der Herr des Anwesens, Walter De Ville (Thomas Doherty), scheint sofort ein Auge auf Evie geworfen zu haben und auch sie ist dem attraktiven jungen Mann nicht abgeneigt. Allerdings beginnen sich merkwürdige Ereignisse zu häufen. Da sind zum einen die Dienstboten Mr. Field (Sean Pertwee) und Mrs. Swift (Carol Ann Crawford) und die fast schon aggressiven Hochzeitsgäste Lucy (Alana Boden) und Viktoria (Stephanie Corneliussen), die sie alle reichliche verdächtig verhalten, und dann verschwinden auch noch Dienstmädchen. Schon bald muss Evie entdecken, dass sie selbst die unwissende Braut dieser Hochzeit ist und Walter es nicht nur auf ihre Hand, sondern auch auf ihr Blut abgesehen hat…
Kritik: In Zeiten, in denen Vampirfilme recht rar gesät sind, muss man nehmen, was man bekommt. Zugegebenermaßen sah der Trailer von „The Invitation“ bereits nicht allzu vielversprechend aus, aber zumindest in einer Hinsicht hat es sich durchaus gelohnt, und sei es nur, weil ich Komplettist bin. In gewissem Sinne handelt es sich bei diesem zweiten Film der australischen Regisseurin Jessica M. Thompson um eine verkappte Adaption von „Dracula“ – was ich im Vorfeld allerdings nicht wusste. Diesbezüglich passt „The Invitation“ natürlich hervorragend in mein Beuteschema. Einem Kenner des Romans mag bei der Inhaltsangabe bereits aufgefallen sein, dass Whitby Handlungsort ist, das Anwesen des Vampirs „New Carfax Abby“ heißt und auch noch eine Figur mit dem Namen Lucy auftaucht…
Zugegeben, „The Invitation“ als tatsächliche Adaption von Stokers Roman zu bezeichnen, ginge ein wenig zu weit, der Film greift allerdings definitiv Handlungselemente auf, macht seine Intention dabei aber nicht völlig offensichtlich. Walter De Ville, bei dem es sich natürlich um den Obervampir der Geschichte handelt, erwähnt einmal, früher, in seiner Heimat, der Walachei, habe man ihn als „Sohn des Drachen“ bezeichnet, womit eine relativ eindeutige Identifizierung sowohl mit Stokers Vampirgrafen als auch mit Vlad Țepeș stattfindet. Ausgangspunkt der Handlung sind ein weiteres Mal Draculas Bräute, die drei Vampirinnen, mit denen sich Jonathan Harker bei seinem Besuch in Transsylvanien herumärgern muss. Ursprünglich sollte der Film sogar „The Bride“ heißen. Walter de Ville rekrutiert seine „Bräute“ aus drei reichen Familien, Evie ist die Enkelin einer Frau, die ursprünglich als dritte Braut vorgesehen war, sich diesem Schicksal aber entzog.
Leider muss gesagt werden, dass „The Invitation“ primär auf konzeptioneller Ebene interessant ist, während es bei der Umsetzung doch ziemlich hapert. Jessica M. Thompson inszeniert ihren Film als gotische Romanze, gerade für den ersten Teil wirkt alles jedoch zu sauber und glänzend. Zudem wäre die eigentliche Handlung auch dann äußerst vorhersehbar, wenn der Trailer nicht schon alles gespoilert hätte. In Sachen Horror und Suspense ist „The Invitation“ zudem recht zahm und am Ende geht dann doch alles sehr schnell und sehr einfach, bis hin zur ziemlich klischeehaften Auflösung.
Auch Thomas Doherty als quasi-Dracula weiß leider nicht zu überzeugen und bleibt ein relativ uninteressanter, recht stereotyper Vampir. Gerade wenn man ihn als weitere Version Draculas interpretiert, ist die Konkurrenz natürlich enorm und geradezu überwältigend, angefangen bei Max Schreck und Bela Lugosi über Christopher Lee und Frank Langella bis hin zu Gary Oldman. Die aktuellste Version, dargestellt von Claes Bang in der Netflix/BBC-Adaption, konnte immerhin durch schiere Spielfreude und reinen Unterhaltungsfaktor punkten. Selbst wenn man den Dracula-Aspekt ausklammert, ist Walter de Ville schlicht nicht besonders interessant. Die besten schauspielerischen Leistungen liefern ohne Zweifel Nathalie Emmanuel und Sean Pertwee. Erstere beweist, dass sie definitiv das Zeug zur Leading Lady hat und ist ebenso authentisch wie sympathisch, während Letzterer zwar im Grunde eine böse Version seiner Rolle aus „Gotham“ spielt, aber dafür mit wenigen Dialogzeilen relativ viel erreicht. Vielleicht hätte Pertwee den besseren Dracula abgegeben…
Fazit: „The Invitation“ ist eine halbgare Vampir-Romanze mit einigen Verknüpfungen zu Stokers „Dracula“, die aber abseits zweier starker Performances kaum zu überzeugen weiß und qualitativ eher an die Netflix-Serie „First Kill“ anknüpft.
Story: 1872 stirbt Dracula (Christopher Lee) im Kampf gegen Lawrence Van Helsing, hinterlässt jedoch ein paar Überreste. Genau 100 Jahre später macht sich Johnny Alucard (Christopher Neame) daran, den Vampirgrafen mithilfe dieser Überreste in einer satanischen Messe wiederzuerwecken. Doch auch im London des Jahres 1972 hat Dracula einen Feind: Lorrimer Van Helsing, Nachfahre desjenigen, der Dracula bereits den temporären Tod brachte. Da verwundert es kaum, dass Dracula sich an den Van Helsings rächen möchte und deshalb Lorrimers Enkelin Jessica (Stephanie Beacham) zu seinem nächsten Ziel macht…
Kritik: Kontinuität war noch nie die größte Stärke der Hammer-Dracula-Reihe, aber bislang gab es in jedem der Filme zumindest eine Verknüpfung zum Vorgänger – zumeist wurde Draculas Tod im vorherigen Film direkt aufgegriffen. Obwohl in „Dracula A.D. 1972“ (der grandiose deutsche Titel lautet „Dracula jagt Minimädchen“) abermals Christopher Lee und Peter Cushing in ihre ikonischen Rollen schlüpfen, handelt es sich doch, zumindest inhaltlich, um einen vollständigen Reboot, der bezüglich der Ereignisse und Chronologie nicht zu den bisherigen Filmen passt. Hammers „Dracula“ spielt im Jahr 1885, während der Graf in „Dracula A.D. 1972“ bereits 1872 „stirbt“ und 100 Jahre lang tot ist.
Nachdem „Scars of Dracula“ weder bezüglich Kritik noch Box Office zu überzeugen wusste, kam man bei Hammer zu dem Schluss, die Filmreihe zu revitalisieren. Ursprünglich war ein deutlich aufwändigeres Projekt geplant, in welchem Dracula auf die indische Todesgöttin Kali treffen sollte, man entschied sich dann für eine preiswertere Alternative und beschloss, inspiriert von dem 1970 erschienen Film „Count Yorga, Vampire“, den Vampirgrafen auf das gegenwärtige London loszulassen. Ähnlich wie in „Taste the Blood of Dracula“ wird der Blutsauger durch ein satanisches Ritual wieder zum Leben erweckt, anders als im Vorgänger sind es dieses Mal allerdings nicht viktorianische Gentlemen, sondern Hippie-Satanisten.
Highlight des Films ist ohne jeden Zweifel die Wiedervereinigung Christopher Lees als Dracula und Peter Cushings als Van Helsing, deren Zusammenspiel so grandios ist wie eh und je. Abseits davon hat „Dracula A.D. 1972“ allerdings nicht allzu viel zu bieten. Dracula in der Moderne wurde immer wieder versucht und erwies sich zumeist als Konzept, das nicht allzu gut funktioniert, sei es in „Wes Craven’s Dracula“ oder der dritten Folge der Netflix/BBC-Serie-Adaption des Romans, und in Hammers siebtem Dracula-Film ist es kaum anders. Die aggressive 70er-Ästehtik, die nicht zuletzt durch den bizarren Soundtrack von Mike Vickers vermittelt wird, ist zwar auf schräge Weise sehr amüsant, sorgt aber dafür, dass selten Atmosphäre, geschweige denn Horror aufkommt. Zudem bietet „Dracula A.D. 1972“ abseits des Settings kaum etwas Neues; Regisseur Alan Gibson und Drehbuchautor Don Houghton bemühen dieselben alten Hammer-Klischees, die bereits in den vorherigen Filmen zum Einsatz kamen, zusätzlich zu einigen wirklich dämlichen Ideen. So begeht der zum Vampir gewordene Johnny Alucard unfreiwilligen Selbstmord, weil er aus versehen die Dusche anstellt und das fließende Wasser ihn tötet, was ihn zum jämmerlichsten Sklaven Draculas macht. Immerhin inspirierte „Dracula A.D. 1972“ einige kreative Köpfe, Tim Burton hebt seine Liebe zu diesem Film immer wieder hervor und in seinem „Dark Shadows“ von 2012 ist der Einfluss dieses Hammer-Films deutlich spürbar. Zudem griff Kim Newman in seiner passend betitelten „Anno Dracula“-Fortsetzung „Johnny Alucard“ einige Elemente auf.
Fazit: Es gibt nur zwei Gründe, „Dracula A.D.1972“ anzusehen: Die Wiedervereinigung von Lee und Cushing in ihren ikonischen Rollen als Dracula und Van Helsing und der absurd-bizarre 70er-Charme des Films. Davon abgesehen bietet Hammers siebter Dracula-Film wenig Interessantes und noch weniger Neues.
Christopher Tolkien mag 2020 verstorben sein, aber andere führen sein Werk fort; seit seinem Tod erschienen zwei weitere Tolkien-Veröffentlichungen. Während „The Nature of Middle-earth“ (2021), herausgegeben von Carl F. Hostetter, tatsächlich neues bzw. bislang nicht publiziertes Material enthält – primär kleinere Texte, Spekulationen und Essays zu allen möglichen Themen rund um Mittelerde, weshalb in der Rezeption mitunter vom inoffiziellen „13. Band der ‚History of Middle-earth’ gesprochen wird” – lässt sich Brian Sibleys „The Downfall of Númenor“ eher mit Veröffentlichungen wie „The Children of Húrin“ oder „Beren and Lúthien“ vergleichen, indem es sich um eine Kompilation bereits veröffentlichter Texte handelt.
Brian Sibley ist Tolkien-Fans kein Unbekannter. Von den 70ern bis in die 90er arbeitete er primär für das Radio und machte sich einen Namen mit diversen hochkarätigen Hörspieladaptionen, darunter auch die BBC-Umsetzung des „Lord of the Rings“ aus dem Jahr 1981. Zu seinen späteren, gedruckten Werken gehören u.a. diverse Begleitbücher zu den beiden Jackson-Trilogien sowie Bücher mit Mittelerde-Karten, zumeist in Zusammenarbeit mit John Howe. Zudem fungierte er bei den Filmtrilogien als Berater und ist recht häufig in den diversen Dokumentationen zu sehen. In einem Interview verriet Sibley, dass HarperCollins explizit keinen Literaturwissenschaftler oder Tolkien-Forscher, sondern eher einen Geschichtenerzähler bzw. Dramaturgen für dieses Unterfangen wollte.
In seiner Konzeption unterscheidet sich „The Fall of Númenor“ durchaus von jenen bisherigen Publikationen Christopher Tolkiens, die man als „Zweitauswertung“ bezeichnen könnte. Während dieser im Rahmen der „History of Middle-earth“ die chronolgische Entwicklung der Sekundärewelt seines Vaters nachzeichnete, mit dem „Silmarillion“ und „The Children of Húrin“ in sich geschlossene Narrativen vorlegte und in „Beren and Lúthien“ und „The Fall of Gondolin“ die Evolution einer bestimmten Geschichte zeigte, sammelt Sibley in „The Fall of Númenor“ alle relevanten Texte Tolkiens zum Zweiten Zeitalter. Somit enthalten sind Entnahmen aus dem „Lord of the Rings“, primär natürlich aus den Anhängen, die beiden Kapitel „Akallabêth“ und „Of the Rings of Power and the Third Age“ aus dem „Silmarillion“ sowie diverse Texte aus der „History of Middle-earth“, den „Unfinished Tales of Númenor and Middle-earth“ sowie „The Nature of Middle-earth”. Besagte Texte werden allerdings nicht einfach so reproduziert, wie sie in den oben genannten Werken erschienen, stattdessen bemüht sich Sibley, wo möglich, um eine chronologische und für die „kanonischen“ Werke relevante Aufteilung; will heißen, es finden sich keine bzw. nur wenige Frühformen, die inzwischen überholt sind. Die Anordnung erfolgt nach der in Anhang B des „Lord of the Rings“ auffindbaren Chronologie des Zweiten Zeitalters Die große Ausnahme bezüglich der „Gültigkeit“ sind zwei Kapitel aus Tolkiens unvollendetem Zeitreiseroman „The Lost Road“, in denen diverse Figuren mit veränderten Namen auftauchen. Dementsprechend finden sie sich als Anhang am Ende des Buches. Wo sich bei Tolkien Widersprüche finden, etwa bei der Datierung von Ereignissen, dem Alter von Figuren etc. weist Sibley im Rahmen der Endnoten darauf hin.
Der Untertitel „And Other Tales from the Second Age“ sollte, nebenbei bemerkt, unbedingt beachtet werden, denn Númenor ist zwar primärer, aber nicht ausschließlicher Fokus des Buches, die Entwicklung der Elbenreiche, Khazad-dûms und natürlich Mordors im Zweiten Zeitalter wird ebenfalls thematisiert, wobei Sauron und das Schmieden der Ringe der Macht natürlich besonders viel Platz eingeräumt bekommt. In diesem Kontext beschränkt sich Sibley nicht nur darauf, die entsprechenden Texte und Essays zu sammeln, sondern zitiert auch hin und wieder aus dem Erzähltext des „Lord of the Rings“, wenn es thematisch passt, etwa wenn Elrond beim Rat in Bruchtal von seinen Erlebnissen im Zweiten Zeitalter berichtet.
Dennoch sollte klar sein, dass es sich bei „The Fall of Númenor“ um alles Mögliche, nur nicht um tatsächliche erzählende Texte, geschweige denn eine wirkliche Romanhandlung handelt. Dem am nächsten kommt noch „Aldarion and Erendis: The Mariner’s Wife“, mehr oder weniger der einzige, tatsächlich ausgearbeitete narrative Text; zudem eine für Tolkien eher untypische Geschichte. Dieses unvollendete Werk wurde ursprünglich im Rahmen von „Unfinished Tales of Númenor and Middle-earth“ publiziert, thematisiert im Grunde das Scheitern einer Ehe und hätte vielleicht eine deutlich interessantere Grundlage für Amazon Primes „The Rings of Power“ abgegeben, hätte man dafür die Rechte gehabt… Wie dem auch sei, wie viele andere derartige Werke liest sich „The Fall of Númenor“ eher wie ein Geschichtsbuch. Da Sibley mit den Texten arbeiten muss, die Tolkien verfasst hat, ist die Gewichtung mitunter ein wenig gewöhnungsbedürftig. Viele der wirklich essentiellen Ereignisse werden nur sehr knapp behandelt, während der bereits erwähnten und im Gesamtkontext relativ insignifikanten Geschichte von Aldarion und Erendis sehr viel Platz eingeräumt wird. Aber bei einem Projekt wie diesem lässt sich das natürlich nicht vermeiden.
Auch wenn der oben verwendete Begriff „Zweitauswertung“ abwertend klingend mag, ist „The Fall of Númenor“ in der Tat ein äußerst nützliches Werk. Selbst wer sämtliche ursprünglichen Bücher sein Eigen nennt, kann mit Sibleys Kompilation einiges an Mühe und Zeit sparen, und wer nicht über eine erschöpfende Mittelerde-Bibliothek verfügt und ausschließlich am Zweiten Zeitalter interessiert ist, macht mit „The Fall of Númenor“ sowieso nichts falsch. Unbedingt hervorzuheben sind natürlich die abermals extrem gelungenen Artworks von Tolkien-Künstler Alan Lee, die das Ganze noch einmal ungemein aufwerten.
Die Hörbücher der älteren Tage: Ein Update
Seit meinem Artikel über die „Great Tales“ hat sich im Mittelerde-Hörbuch-Bereich doch das Eine oder Andere getan. Nicht nur hat Andy Serkis inzwischen sowohl den „Hobbit“ als auch den „Lord of the Rings“ komplett eingelesen, auch einige der posthum veröffentlichten Tolkien-Werke wurden hörbar gemacht. Die „Unfinished Tales of Númenor and Middle-earth“ erhielten sowohl ein englisches als auch ein deutsches Hörbuch, Ersteres wurde, wie schon „Beren and Lúthien“ und „The Fall of Gondolin“, eingelesen von Timothy und Samuel West, Letzteres (natürlich unter dem deutschen Titel „Nachrichten aus Mittelerde“) von Tolkien-Stammsprecher Gert Heidenreich und Timmo Niesner, seines Zeichens deutsche Stimme von Elijah Wood. Niesner übernimmt die erläuternden Parts von Christopher Tolkien, während Heidenreich die eigentlichen Tolkien-Texte liest. „The Nature of Middle-earth“ hat leider weder auf Deutsch noch auf Englisch ein Hörbuch bekommen, aber wer sich für „Beren and Lúthien“ interessiert, kann dies nun ebenfalls auf Deutsch mit derselben Sprecherkonstellation wie „Nachrichten aus Mittelerde“ hören. „The Fall of Númenor“ wurde zumindest auf Englisch inzwischen auch eingelesen, Samiel West übernimmt abermals die Tolkien-Texte, während Brian Sibley seine Erläuterungen selbst liest.
Fazit: Brian Sibleys Tolkien-Kompilation „The Fall of Númenor“ passt nicht nur vorzüglich zu den letzten Veröffentlichungen Christopher Tolkiens, sondern ist auch eine nützliche Abkürzung für alle, die sich für die Mysterien des Zweiten Zeitalters interessieren – ein Bedürfnis, das durch Amazons „The Lord of the Rings: The Rings of Power“ durchaus in stärkerem Maße aufkommen könnte…
„The Scarlet Gospels“, Clive Barkers persönliche Abrechnung mit seiner Schöpfung Pinhead, bzw. wie Barker es vorzieht, dem „Hell Priest“, wurde und wird immer wieder gerne als Fortsetzung zur ursprünglichen Novelle „The Hellbound Heart“ bezeichnet. Diese ist zwar die Vorlage zu „Hellraiser“, beinhaltet aber bestenfalls eine Art Proto-Pinhead, der wenig mit seinem späteren Film-Gegenstück zu tun hat und nur eine sehr untergeordnete Rolle spielt. Zudem finden sich auch kaum inhaltliche oder thematische Anknüpfungspunkte. Die 2018 erschiene Novelle „Hellraiser: The Toll“ von Mark Alan Miller, nach einer Idee von Barker, klärt final auf, in welcher Beziehung „The Hellbound Heart“ zu „The Scarlet Gospels“ steht: In keiner. In meiner Rezension zu Barkers Roman schrieb ich, dass dieser am ehesten den ersten Hellraiser-Film als Grundlage verwendet, und tatsächlich erwies sich das als richtig.
In „Hellraiser: The Toll“ schildert Miller, was mit Kirsty in den 30 Jahren nach ihrem Zusammentreffen mit den Cenobiten getrieben hat. Da sie hier eindeutig als Kirsty Cotton identifiziert wird und zudem die Verwandtschaftsverhältnisse und Namen der Filminkarnationen der Figuren verwendet werden, ist eindeutig, dass es sich bei „The Scarlet Gospels“ um die Fortsetzung von „Hellraiser“ und nicht „The Hellbound Heart“ handelt. „The Toll“ miteingerechnet existieren inzwischen drei unterschiedliche Kontinuitäten, in denen sich Kirsty mit der Affäre um Frank, Julia und den Cenobiten auseinandersetzen darf. Zum einen hätten wir die diversen Hellraiser-Sequels, in zumindest zwei davon spielt Kirsty eine zentrale Rolle: In „Hellbound: Hellraiser II“ kommt sie durch die Machenschaften von Dr. Channard ein weiteres Mal mit Pinhead und Co. in Kontakt und, mehr noch, bekommt die „Gelegenheit“, die Hölle, bzw. das Labyrinth, zu erforschen. Schließlich opfert sie in „Hellraiser: Deader“ ihren untreuen Ehemann Trevor den Cenobiten. Die von Clive Barker mitkonzipierten Hellraiser-Comics des Verlags Boom! Studios ignorieren alles nach „Hellbound: Hellraiser II“, integrieren aber die dort inszenierte Version des Labyrinths und Leviathans und zeigen, wie Kirsty selbst zur Urlaubsvertretung für Pinhead wird.
In „The Toll“ verlaufen die Jahrzehnte hingegen äußerst ereignisarm; Kirsty scheint sich mental in einem ähnlichen Zustand wie in den Comics zu befinden, führt aber keinen „Privatkreuzzug“ gegen die Spuren der Hölle und die diversen Puzzleboxen überall auf der Welt, wie es in den Comics der Fall ist. Stattdessen reist Kirsty umher, versucht ihrem Trauma zu entkommen und landet schließlich doch wieder im Haus in der Ludovico Street. Natürlich kommt es zu einer weiteren Begegnung mit Pinhead, der von Kirsty mit einem eigenen Spitznamen bedacht wird: „The Cold Man“. Als Leser von „The Scarlet Gospels“ erfährt man, dass Harry D’Amour nicht der erste Zeuge von Pinheads Machtergreifung in der Hölle werden sollte; ursprünglich wollte der Cenobit Kirsty selbst in dieser Rolle sehen. Kirsty ist allerdings mehr als unwillig, und es gelingt ihr tatsächlich ein weiteres Mal, sich dem Einfluss ihres Widersachers zu entziehen. Der Epilog der Novelle schildert schließlich, sehr knapp, Kirsty Sicht auf die Ereignisse des Pinhead-Romans.
Da ich ohnehin kein allzu großer Fan von „The Scarlet Gospels“ bin, hatte ich auch an „Hellraiser: The Toll“ keine hohen Erwartungen, und tatsächlich: Es handelt sich um kaum mehr als ein Tie-in, das quasi nichts Neues anzubieten hat und lediglich einige Kontinuitätsfragen klärt. Mehr noch, ähnlich wie Barkers Roman greift Miller auch kaum die Thematik der ursprünglichen Novelle auf und selbst die Handlung von „The Scarlet Gospels“ wird nicht bereichert. Stilistisch ist das kleine Büchlein zwar kompetent, aber auch sehr anonym gestaltet; wirklich Spannung kommt selten auf und auch die Elemente, die kleinen subtilen Eigenheiten, die „The Hellbound Heart“ zu etwas Besonderem machten, fehlen.
Fazit: „Hellraiser: The Toll“ ist kaum mehr als ein redundantes Tie-in, im Grunde nur geeignet für absolute Fans von „The Scarlet Gospels“, die genau wissen wollen, in welchem Verhältnis Barkers Pinhead-Roman zum Rest des Franchise steht. Wer nach einer literarischen Anknüpfung an Barkers Novelle sucht, ist mit der Kurzgeschichtensammlung „Hellbound Hearts“ deutlich besser bedient.
Unglaublich aber wahr: Nach der Sichtung der sechsten Episode von „Guillermo del Toro’s Cabinet of Curiosities“, „Dreams in the Witch-House“, sah ich mich gezwungen, die fünfte Episode, „Pickman’s Model“, zu reevaluieren. Bei beiden handelt es sich um sehr lose Adaptionen von Lovecraft-Geschichten; in meiner Rezension kam „Pickman’s Model“ nicht allzu gut weg. Nachdem ich nun aber die Adaption von Mika Watkins (Drehbuch) und Catherine Hardwicke (Regie) gesehen habe, musste ich „Pickman’s Model“ deutlich aufwerten. An meinen Kritikpunkten hat sich zwar nicht unbedingt etwas geändert, aber immerhin sind in dieser Episode der Serie noch erkennbare Spuren der ursprünglichen Geschichte vorhanden, von den sonstigen Qualitäten gar nicht erst zu sprechen.
Eine ausführliche Inhaltsangabe von Lovecrafts Kurzgeschichte lohnt sich an dieser Stelle praktisch nicht, da ohnehin kaum etwas geblieben ist, darum werde ich ausnahmsweise die Episode als Ausgangspunkt verwenden. Walter Gilman (als Kind: Gavin MacIver-Wright, als Erwachsener: Rupert Grint) muss mitansehen, die Seele seiner Schwester Epperley (Daphne Hoskins) ins Jenseits gezerrt wird. Fortan dreht sich sein Leben nur noch darum, mit Epperleys Geist Kontakt aufzunehmen – selbst seinem Freund Frank Elwood (Ismael Cruz Cordova), der ihn auf seiner spiritistischen Suche begleitet, wird es irgendwann zu viel. Walter glaubt, seinem Ziel näher zu kommen, indem er sich ein Zimmer im Haus der hingerichteten Hexe Keziah Mason (Lize Johnston) mietet. Schließlich gelingt es Walter, mithilfe einer speziellen Droge einen Weg in das Jenseits zu finden, doch genau dies wollen die zwar tote, aber doch noch ziemlich aktive Keziah und ihr Familiar Jenkins Brown (DJ Qualls) ausnutzen, um in die Welt der Lebenden einzudringen…
Wer mit der Geschichte vertraut ist, merkt sofort: Kaum etwas ist übriggeblieben, im Grunde haben Hardwicke und Watkins lediglich die Namen (Walter Gilman, Keziah Mason, Frank Elwood und Jenkins Brown, bei Lovecraft Brown Jenkin) sowie die sehr grobe Prämisse genommen und eine völlig eigene Geschichte erzählt. Konzeptioneller Kern von „The Dreams in the Witch-House“ ist die Idee, eine klassische Gestalt der Horrorliteratur, die Hexe, zu nehmen und sie in den Kontext kosmischen Horrors zu setzen. Lovecrafts Walter Gilman, Student an der Miskatonic Universität in Arkham, sucht nicht nach der Seele seiner Schwester, sondern glaubt, Keziah Masons „Magie“ sei in Wahrheit extrem fortschrittliche Mathematik, die es ihr unter anderem erlaubt, durch Raum und Zeit zu reisen. In ihr Haus zieht er ein, um seine Erforschung der noneuklidischen Geometrie weiterzutreiben. Nicht nur stellt sich heraus, dass Gilman recht hat, unglücklicherweise wird er von bösartigen Träumen heimgesucht und muss erkennen, dass Keziah Mason ihr finsteres Werk fortführen möchte und dabei den finsteren Göttern Nyarlathotep und Azathoth dient.
Jegliche Spuren des „Cthulhu-Mythos“, von den erwähnten Entitäten bis hin zum obligatorischen Gastauftritt des legendären Necronomicon, wurden vollständige aus der Adaption getilgt. Dasselbe gilt auch für den kosmischen Horror, der die Geschichte ausmacht. Ob Lovecrafts Versuch, klassischen Grusel mit seiner kosmizistischen Philosophie zu verknüpfen, wirklich erfolgreich war, ist freilich diskutabel, Lovecraft-Experte S. T. Joshi kann „The Dreams in the Witch-House“ beispielsweise kaum etwas abgewinnen. Die Adaption im Rahmen von „Guillermo del Toro’s Cabinet of Curiosities“ entnimmt der Story jedoch jeglichen interessanten Ansatz und macht ein generisches Gruselmärchen aus ihr, das nicht einmal besonders furchterregend ist. Keziah Mason wirkt eher lächerlich denn erschreckend und Jenkins Brown/Brown Jenkin, schon in der Kurzgeschichte ein Element, das für mich persönlich nicht funktioniert, wirkt ziemlich bescheuert. Selbst auf handwerklicher und struktureller Ebene bleibt „Dreams in the Witch-House“ hinter den anderen Episoden der Anthologie-Serie zurück. Ironischerweise ist es „Pickman’s Model“, das atmosphärisch näher an Lovecrafts Geschichte herankommt. Zumindest kommt die dort auftauchende Hexe meiner Vorstellung von Keziah Mason deutlich näher als das merkwürdige Baumwesen, zu dem sie im Kontext dieser Adaption gemacht wurde.
Fazit: „Dreams in the Witch-House“ hat mich der gleichnamigen Lovecraft-Geschichte so gut wie gar nichts zu tun, bietet keinen kosmischen Horror und kann auch sonst nicht überzeugen. Rupert Grints Performance ist der einzige Grund, sich diese schwächste Episode aus Guillermo del Toros Anthologie-Serie anzusehen.
Nun ist sie also komplett, die erste Staffel der ersten Tolkien-Fernsehserie, Amazons Prestigeprojekt, das im weiteren Sinne das „neue ‚Game of Thrones‘“ werden soll und das sich der Konzern viel, viel Geld hat Kosten lassen. Bereits vor einigen Wochen, nachdem die ersten beiden Folgen an den Start gingen, schrieb ich einen Artikel über meine Eindrücke – viele meiner Befürchtungen und Ahnungen haben sich bestätigt, während sich meine Meinung im Großen und Ganzen nicht wirklich geändert hat. Dennoch gibt es natürlich viel zu analysieren und zu vergleichen.
Ein Blick auf das Zweite Zeitalter von Mittelerde
Ausnahmsweise beginnen wir nicht mit einer Beschreibung der Handlung, sondern mit einem Blick auf die Vorlage, um dieses Projekt überhaupt erst richtig einordnen zu können. Wie inzwischen allgemein bekannt sein dürfte, spielt die „The Lord of the Rings: The Rings of Power“ im Zweiten Zeitalter von Mittelerde, während die Ereignisse der beiden Filmtrilogien sowie der Romane, auf denen sie basieren, im Dritten Zeitalter zu verordnen sind. Die Entscheidung, „The Rings of Power“ in diesem Zeitalter anzusiedeln, wurde sowohl aus kreativen als auch aus rechtlichen Gründen getroffen. Das Tolkien Estate behielt sich ein gewisses Mitspracherecht vor und erteilte einigen Konzepten, etwa einer neuen Adaption der eigentlichen Handlung des Romans oder Spin-offs zu Figuren wie Aragorn oder Gollum eine Absage. Aus kreativer Perspektive ist das Zweite Zeitalter ein verhältnismäßig unbeschriebenes Blatt. Nicht nur gab es vor „The Rings of Power“ keine filmischen Umsetzungen, den Prolog von „The Fellowship of the Rings“ und einige Flashbacks ausgenommen, auch in Tolkiens Schriften wird es am wenigsten ausführlich thematisiert. Abseits des „Lord of the Rings“ und des „Hobbit“ bewegte sich Tolkien vor allem im Ersten Zeitalter, das vom Krieg der Elben gegen Morgoth dominiert wird. Hier sind die epischen Legenden Mittelerdes angesiedelt, die im „Lord of the Rings“ immer wieder als mythische Geschichten auftauchen, die sich die Figuren erzählen – der Großteil des „Silmarillion“ setzt sich damit auseinander, ebenso wie diverse spätere Posthumveröffentlichungen wie „The Children of Húrin“ oder „Beren and Lúthien“. Im Gegensatz dazu finden sich kaum erzählende Texte, die während des Zweiten Zeitalters angesiedelt sind. Beim Großteil des Materials handelt es sich um zusammenfassende Geschichtswerke wie die „Akallabêth“, ein Kapitel des „Silmarillion“, das sich mit der Geschichte des im Zweiten Zeitalters dominanten Inselkönigreichs Númenor auseinandersetzt. Andere Texte aus der „History of Middle-earth“ oder „Unfinished Tales of Númenor and Middle-earth” bleiben, der Titel von Letzterem deutet es an, unvollendet. Insofern ist es nicht die schlechteste Entscheidung, die Serie im Zweiten Zeitalter anzusetzen, da dieses die meisten Freiheiten bietet und am wenigsten ausgestaltet ist. Wer sich dennoch dafür interessiert, was Tolkien über das Zweite Zeitalter geschrieben hat, kann sich glücklich schätzen, denn just ist eine von Brian Sibley zusammengestellte Kompilation der relevanten Texte aus den oben genannten Veröffentlichungen mit dem Titel „The Fall of Númenor“, wie üblich illustriert von Alan Lee, erschienen – ganz sicher ohne Hintergedanken. Das führt uns nun aber auch direkt zum nächsten Problem, denn all diese Werke durften für „The Lord of the Rings: The Rings of Power“ ohnehin überhaupt nicht benutzt werden, da Amazon „nur“ die Rechte am tatsächlichen Roman „The Lord of the Rings“ sowie den Anhängen erworben hat, nicht aber am „Silmarillion“, den „Unfinished Tales“ etc. Dem Tolkien-Kenner fällt das immer wieder auf, beispielsweise im Prolog der ersten Folge, in welchem Ereignisse aus diesen Werken impliziert, aber nicht explizit dargestellt werden, eben weil das zu rechtlichen Problemen führen würde.
Galadriel (Morfydd Clark)
Showrunner J. D. Payne und Patrick McKay entschieden sich schließlich dazu, das über dreitausend Jahre umfassende Zweite Zeitalter stark zu komprimieren und Ereignisse, die zum Teil viele hundert Jahre auseinander liegen, in direkter Abfolge zu zeigen. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: Bereits im Jahr 1000, noch bevor die Ringe der Macht geschmiedet werden, beginnt Sauron damit, Barad-dûr zu errichten, während Galadriel und Celeborn sich im Jahr 1350 in Lothlórien niederlassen. Das Schmieden der Ringe der Macht findet ebenfalls in diesem Zeitraum statt, zwischen den Jahren 1500 und 1600. Viele der essentiellen Sterblichen Figuren, primär Elendil, Isildur, Míriel und Pharazôn, werden erst gut 1500 Jahre später, gegen Ende des Zweiten Zeitalters, überhaupt geboren. Ebenso liegt zwischen dem Schmieden der Ringe der Macht, das für die Serie titelgebende ist, und dem Untergang Númenors, der mit großer Wahrscheinlichkeit ein, wenn nicht DAS zentrale Ereignis kommender Staffeln sein wird (es wird bereits massiv angedeutet) eine ähnlich lange Zeitspanne. Dagegen sind die 17 Jahre, die Jackson und Co. aus „The Lord of the Rings“ tilgten, praktisch kaum der Erwähnung wert. Im Kontext einer derartigen Adaption sind diese Anpassungen tatsächlich ziemlich verständlich. Tolkien konzipierte die Inhalte des Zweiten Zeitalters primär als Hintergründe, ohne dort tatsächliche Narrativen anzusiedeln. Natürlich hätte man auch mit unterschiedlichen Zeitebenen oder großen Zeitsprüngen arbeiten können, aber das wäre dann vielleicht selbst für dieses Projekt zu ambitioniert gewesen.
Handlung, Konzeption und Struktur
Sowohl „The Hobbit” als auch „The Lord of the Rings” sind klassische Abenteuer- bzw. Questhandlungen: Einen Schatz finden, einen Ring zerstören. Essentiell ist dabei natürlich die Hobbit-Perspektive. Im Gegensatz dazu ist das Zweite Zeitalter stärker von politischen Machenschaften geprägt – die Geschichte Númenors ist eine Geschichte der Korruption und des Verfalls einer großen Zivilisation, es fehlen die klassischen Abenteuerelemente, die sowohl in den beiden Romanen Tolkiens als auch in vielen Geschichten des Ersten Zeitalters gegeben sind. Amazon wollte allerdings keine „Polit-Fantasy“ mit Fokus auf höfische Intrigen und Machtkämpfe in Númenor, sondern eine Serie, die an die Qualitäten der bisherigen Filme anknüpft, schließlich ist es das, was sich die breite Zuschauerschaft unter einer LotR-Serie vorstellt. Dementsprechend fällt auch die Konzeption aus; viele der Themen und Elemente, die Tolkien als essentiell empfand, sind zwar vorhanden, fungieren aber lediglich als Hintergrund.
Das zeigt sich bereits beim Ausgangspunkt der Handlung: Seitdem Morgoth besiegt wurde, herrscht Frieden, doch die Elbin Galadriel (Morfydd Clark) ist davon nicht überzeugt, denn Sauron, Morgoths mächtigster Diener und Mörder ihres Bruders Finrod (Will Fletcher), ist nach dem Fall seines Meisters verschwunden. Wie eine Besessene jagt die Kriegerin nach Spuren Saurons und weigert sich sogar, nach Valinor zurückzukehren. Stattdessen verunglückt sie auf See und begegnet dort dem ebenso schiffbrüchigen Halbrand (Charlie Vickers). Beide werden schließlich von dem númenorischen Kapitän Elendil (Lloyd Owen) aus dem Wasser gefischt und mit nach Númenor genommen. Da die Elben und Númenorer früher zwar Verbündete waren, sich inzwischen aber entfremdet haben, sind durch Galadriels Ankunft Konflikte vorprogrammiert. Da Númenor ohnehin gerade dabei ist, auf eine Regierungskrise zuzusteuern, ist sie nicht unbedingt willkommen…
Bronwyn (Nazanin Boniadi) und Arondir (Ismael Cruz Córdova)
Galadriels guter Freund Elrond (Robert Aramayo) soll derweil im Auftrag seines Königs Gil-galad (Benjamin Walker) und des Schmiedes Celebrimbor (Charles Edwards) die Beziehungen zum Zwergenkönigreich Khazad-dûm auffrischen, da Durin (Owain Arthur), der Prinz besagten Reiches, ein alter Freund Elronds ist. Celebrimbor schwebt ein großes Schmiede-Projekt vor, das den Elben dabei helfen soll, ihre Macht zu erhalten, da die sie generell auf dem Rückzug sind. Davon betroffen sind auch die Südlande, denn die dort stationierten Elben, darunter Arondir (Ismael Cruz Córdova), der davon nicht allzu begeistert ist, hat er doch Gefühle für die Menschenfrau Bronwyn (Nazanin Boniadi) entwickelt. Just in diesem Moment droht allerdings eine neue Gefahr für die Menschen der Südlande: Seit langer Zeit werden erstmals wieder Orks gesichtet, die sich unter Führung des enigmatischen Adar (Joseph Mawle) sammeln. Andernorts fällt ein mysteriöser Fremder (Daniel Weyman) vom Himmel und wird von den Haarfüßen, einem kleinwüchsigen Nomadenvolk, gefunden. Während die anderen Haarfüße skeptisch sind, versucht die junge Nori Brandyfoot (Markella Kavenagh) mit dem Fremden Freundschaft zu schließen, der anscheinend über besondere Kräfte verfügt und zu alledem nicht weiß, wo er herkommt.
An dieser doch verhältnismäßig knappen Inhaltsangabe zeigt sich, dass „The Rings of Power“ eine ganze Menge Figuren und Handlungsstränge hat, mit der die Serie über den Verlauf dieser ersten Staffel arbeiten kann und muss. Hinzu kommt, dass die Folgen zwar mitunter recht lange sind und zum Teil über eine Stunde dauern, es dafür aber nur acht gibt. All das führt bereits zu einigen strukturellen Problemen, sowohl in Bezug auf die Einzelepisoden als auch, was die gesamte Staffel angeht. Es lohnt sich, zum Vergleich eine Fantasy-Serie mit ähnlich epischen Ausmaßen anzusehen. Gerade in den frühen Staffeln litt „Game of Thrones“ teilweise ebenfalls am „Clipshow-Prinzip“: Einige Folgen fühlten sich an wie eine extrem teure Clipshow, in der jeder der vielen Handlungsstränge einmal kurz besucht wird. Das mag beim Binge-Watching weniger stören, ist aber beim wöchentlichen Veröffentlichungsrhythmus suboptimal. Die mit Abstand beste Folge von „The Rings of Power“ ist die sechste, „Udûn“, eben genau, weil sie sich nicht wie eine Clipshow, sondern eine halbwegs anständige narrative Einheit anfühlt. Ein weiteres Problem ist der Umstand, dass die Serie bereits enorm versprengt beginnt. Um noch einmal „Game of Thrones“ zu Vergleichszwecken heranzuziehen: Auch diese Serie arbeitet mit einer großen Menge an Figuren und Handlungssträngen, hat aber den Vorteil, dass sich zu Anfang alle essentiellen Figuren, mit Ausnahme von Daenerys, an einem Ort befinden und von dort aus auf ihre Reise starten. Tatsächlich nannte George R. R. Martin diesbezüglich „The Fellowship of the Rings“ als wichtige Inspirationsquelle. Dieser „gemeinsame Anfang“ hilft ungemein dabei, eine derartige Serie stärker zur Einheit zu machen. Immerhin finden im Verlauf von „The Rings of Power“ diverse Handlungsstränge zueinander, aber nicht in ausreichendem Maße. Die Haarfüße und der Fremde bleiben von der Haupthandlung völlig isoliert und manche Figuren, primär Bronwyn, Arondir und Adar, werden gegen Ende fast völlig vergessen.
Art of Adaption: Tolkien, Jackson und das Vermächtnis Mittelerdes
Wenn es um die Adaption von Tolkiens Werken geht, sind die Filme von Peter Jackson nach wie vor der dominierende Faktor, an dem man einfach nicht vorbeikommt – zu sehr haben sie die allgemeine Wahrnehmung beeinflusst. Aus diesem Schatten kann „The Rings of Power“ nicht heraustreten, was zu einer ebenso merkwürdigen wie interessanten Persönlichkeitsspaltung führt. Bereits im Vorfeld fragte man sich: Spielt die Serie in derselben Kontinuität wie die Jackson-Filme und ist ein amtliches Prequel oder macht sie „ihr eigenes Ding“? Formal gesehen ist Letzteres der Fall, schon allein weil Amazon keine Rechte an den beiden Trilogien von New Line bzw. Warner besitzt, gleichzeitig finden sich aber immer wieder mehr oder weniger subtile Verweise oder Anleihen. Das beginnt bei der Wahl Neuseelands als Drehort (was sich aber für Staffel 2 ändert), dem mit Howard-Shore-Musik unterlegten Intro und vielen der Designs, die zumindest von den Filmen inspiriert und beeinflusst wurden, seien es Masken und Make-up der Orks oder die Jugendstilelemente bei den Elben. Angesichts der Tatsache, dass Tolkien-Künstler John Howe nach seinem Mitwirken an den beiden Jackson-Trilogien auch bei „The Rings of Power“ involviert war, ist das kaum verwunderlich. Besonders offensichtlich wird es bei den beiden Gastauftritten eines Balrogs (bzw. des Balrogs aus Moria), der so sehr nach dem Design der Filme aussieht, dass ich nach wie vor davon ausgehe, dass Amazon für die Verwendung zahlen musste. Lange Rede, kurzer Sinn: Man war sehr darauf bedacht, Erinnerungen an die Jackson-Trilogien zu wecken. Wenn die Serie dann aber Design-Entscheidungen trifft, die vom Konzept der Filme abweichen, wirken diese umso irritierender und hervorstechender. Das beste Beispiel sind die recht modern wirkenden Kurzhaarfrisuren der männlichen Elben. Die Ausnahme hierbei ist Benjamin Walkers Gil-galad, der visuell eindeutig an sein von Mark Ferguson gespieltes Gegenstück aus „The Fellowship of the Ring“ angelehnt ist. Dessen Auftritt ist allerdings kaum mehr als ein kurzes Cameo im Prolog des Films von 2001. Ich denke, es ist keine Übertreibung zu sagen, dass trotz allem die Filme, und nicht Tolkiens Werk der Hauptausgangspunkt von „The Rings of Power“ sind. Das zeigt sich bereits an der Hinzufügung der als Proto-Hobbits konzipierten Haarfüße. Der Name stammt tatsächlich von Tolkien; die Hobbits setzen sich aus drei Stämmen zusammen, neben den Haarfüßen sind das die Falbhäute und die Starren. Und tatsächlich waren die Hobbits ein nomadisches Volk, bevor sie sich im Auenland und im Breeland niederließen – das alles geschieht aber erst im Dritten Zeitalter, im Zweiten Zeitalter spielen sie noch keinerlei Rolle. Offenbar konnte man sich bei Amazon allerdings kein Mittelerde-Projekt ohne Hobbit-Beteiligung vorstellen.
Nori Brandyfoot (Markella Kavenagh) und Sadoc Burrows (Lenny Henry)
In vielerlei Hinsicht ist das Verhältnis von „The Rings of Power“ zu den Werken Tolkiens ähnlich wie das der beiden Spiele „Shadows of Mordor“ und „Shadows of War“: Der Grad an Vorlagentreue schwankt zwischen „erstaunlich detaillierte Anspielung“, „Tolkien hat zumindest nicht geschrieben, dass es explizit NICHT so war“ und einfachem Ignorieren des Quellenmaterials. Dass „The Rings of Power“ nicht für Puristen geeignet ist, denen bereits die Veränderungen und Anpassungen in Jacksons LotR-Trilogie zu weit gingen, dürfte ohnehin von vornherein klar gewesen sein. Ich selbst sehe mich nicht unbedingt als Purist und habe auch nicht per se etwas gegen Änderungen, die wichtige Frage für mich ist in diesem Kontext nicht, ob einfach Wort für Wort adaptiert wird, sondern ob die Adaption dem Geist der Vorlage gerecht wird. Gerade in diesem Bereich hat die Serie für mich aber einige Probleme, besonders, wenn sie zwar Elemente der Vorlage nimmt, diese aber grob vereinfacht. Das hat oft zur Folge, dass „The Rings of Power“ in relativ typische, klischeehafte Fantasy-Tropen abgeleitet, die zwar in letzter Konsequenz von Tolkien inspiriert, aber inzwischen unglaublich verwässert wurden. Der durch ein MacGuffin-Schwert ausbrechende Schicksalsberg, durch den die Südlande zu Mordor werden, ist ein ideales Beispiel. Dieses Element könnte in meinen Augen direkt aus einem der beiden Shadows-Spiele stammen, wäre von Tolkien aber niemals auf diese Weise konzipiert worden. Derartige Handlungskonstruktionen finden sich leider nur allzu häufig.
Die Rückkehr des Bösen: Galadriel und ihr Rachefeldzug
Wenn „The Rings of Power” einen Dreh- und Angelpunkt hat, dann sind es noch nicht die titelgebenden Ringe der Macht, sondern Galadriel und ihre Suche nach Sauron. Gerade hier wird die Wandlung von Tolkiens Konzepten hin zu generischen Fantasy-Tropen überdeutlich. Ich persönlich habe mit einer Figur wie der von Morfydd Clark dargestellten Version von Galadriel nicht per se ein Problem, sehr wohl aber mit dem Umstand, dass Galadriel zu einer derartigen Figur gemacht wurde. Die Intention von Payne und McKay ist relativ eindeutig: Abermals bauen sie darauf, dass das Publikum Cate Blanchetts Galadriel im Hinterkopf hat, um ihm dann den größtmöglichen Kontrast zu liefern: Statt einer mächtigen und weisen (wenn auch hin und wieder etwas unheimlichen) Elbenherrscherin wird eine forsche Kriegerin präsentiert, die primär auf Rache aus ist. Wenn er richtig umgesetzt wird, kann dieser etwas modernere Fantasy-Archetyp durchaus interessant sein, nur passt er meinem Empfinden nach absolut nicht zu Galadriel. Wie ihr Serien-Gegenstück glaubt Tolkiens Galadriel zu Beginn des Zweiten Zeitalters nicht, dass das Böse völlig ausgelöscht ist und möchte sich auf eine eventuelle Rückkehr vorbereiten, allerdings agiert sie dabei auf der politischen Eben und sucht nicht persönlich nach Sauron. Hätten man ihren Handlungsbogen einer anderen, neuen Figur gegeben und Galadriel als wichtige Nebenfigur etabliert, hätte ich damit wahrscheinlich weniger Probleme gehabt. Erschwerend hinzu kommt die Auflösung des Handlungsstrangs – persönliche Verantwortung ist eine wichtige Thematik, aber im Grunde wird Galadriel die ganze Staffel über nicht nur nach Strich und Faden von Sauron manipuliert, wo sie bei Tolkien eine der wenigen ist, die seine Verkleidungen durchschaut, sie macht trotzdem weiter und arbeitet auf das Schmieden der Ringe hin, selbst nachdem sie weiß, dass das alles von Sauron eingefädelt wurde und Teil seines Planes ist. Nicht einmal die Höflichkeit, die anderen Elben über die wahre Identität des Dunklen Herrschers zu informieren, kann sie aufbringen. Freiere Adaption ist schön und gut, aber den Charakter völlig ins Gegenteil zu verkehren erscheint mir doch recht dreist.
Sauron und die Mystery Box
In großen Franchises im Allgemeinen und J.J.-Abrams-Filmen im Besonderen ist die sog. „Mystery Box“ ein nur allzu beliebter erzählerischer Kniff, um das Publikum bei der Stange zu halten und im Vorfeld neugierig zu machen – oftmals in Kombination mit der Enthüllung einer bekannten Figur aus der Geschichte des Franchise: John Harrison ist Kahn, Miranda Tate ist Talia al Ghul, Franz Oberhauser ist Blofeld etc. Und was wurde nicht alles spekuliert, wer Snoke sein könnte. Tolkien hingegen ist die Mystery Box als erzählerisches Instrument völlig fremd. Natürlich kann es sein, dass Figuren ihre Identität verschleiern, aber normalerweise weiß man als Leser immer sehr genau, wer wer ist, nicht zuletzt, weil Tolkiens allwissender Erzähler zumeist ausführlich erläutert, was Sache ist. Zugegeben bietet sich eine derartige Narrative um das Schmieden der Ringe der Macht jedoch tatsächlich an, schließlich ist Sauron ein Meister der Verkleidung und Verwandlung, der sich als Annatar (Herr der Geschenke) in den Elbenschmieden von Eregion einschleicht und Celebrimbor dazu verleitet, die Ringe der Macht zu erschaffen. Da ist es nur naheliegend, diesen Aspekt in der Serie nicht nur als Mysterium für die Figuren, sondern auch für die Zuschauer zu inszenieren. Dieses Vorhaben ist in meinen Augen allerdings gründlich misslungen, und zwar aus mehreren Gründen. Zum einen scheinen Payne und McKay Angst vor der Tolkien-Leserschaft gehabt zu haben, was ich persönlich für grundlos halte. Natürlich, wer mit Tolkiens Schriften vertraut ist, weiß, dass Annatar Sauron ist. Und wer es herausfinden will, kann das auch problemlos tun. Die Erfahrung zeigt allerdings, dass das ein derartiger Twist dennoch funktionieren kann: „A Game of Thrones“ und „A Storm of Swords“ wurden lange vor dem Start von „Game of Thrones“ publiziert, dennoch waren Ned Starks Tod und die Rote Hochzeit Schockmomente für einen Großteil der Zuschauerschaft, die es entweder bewusst vermied, Buchspoiler zu konsumieren, oder überhaupt nicht auf die Idee kam. Dennoch entschieden sich die Showrunner, Annatar auszusparen und eine andere „zivile Identität“ für den Dunklen Herrscher zu finden. Mehr noch, neben der „Welche Figur ist Sauron?“-Box konstruierten sie eine zweite: „Wer ist der Fremde?“ Der naheliegende Schluss ist natürlich, den Fremden zu Sauron zu machen, womit durchaus auch gespielt wird, inklusive Fake-Enthüllung, aber dass dem nicht der Fall ist, wird bereits zuvor klar. Ansonsten sind es vor allem die neuen Figuren wie Adar, Bronwyn oder eben Halbrand, die in Frage kommen, und Halbrand ist letzten Endes derjenige, der übrig bleibt.
Halbrand (Charlie Vickers)
Gewissermaßen kann man Halbrand als eine Art Invertierung von Aragorn und (in geringerem Maße und bezogen auf die Filme) Thorin sehen: Auch er scheint ein König im Exil zu sein, ein mysteriöser, aber letzten Endes wohlmeinender Held, nur dass Halbrand sich eben als Dunkler Herrscher entpuppt und doch nicht so wohlmeinend ist. Sauron selbst kann in den beiden Filmtrilogien, vom Roman gar nicht erst zu sprechen, kaum als tatsächlicher Charakter bezeichnet werden, er ist eher Entität, Symbol des Bösen, der als flammendes Auge alles überwacht, aber selbst kaum handelt. Zugegeben, in der Hobbit-Trilogie bekommt er etwas mehr zu tun und ist ein wabernder Schatten, bevor er zum Auge wird, aber dennoch… In der Tat ist Sauron persönlich im Ersten und Zweiten Zeitalter deutlich aktiver und nahbarer, ist bis zum Untergang Númenors ein Gestaltwandler, tritt als luziferischer Verführer der Elben von Eregion und der Númenorer auf und kämpft persönlich gegen das letzte Bündnis, wie im Prolog von „The Fellowship of the Ring“ auch zu sehen war. Halbrand ist gewissermaßen der Annatar-Ersatz, den wir bekommen, und tatsächlich ist er auch in Eregion und beeinflusst Celebrimbor – kurz, in einer Szene, in der letzten Episode der ersten Staffel. Gerade das finde ich persönlich extrem enttäuschend; ich möchte Sauron nicht als Aragorn-artige Figur sehen, sondern als Bringer verbotenen Wissens. Die Infiltrierung der Elbenschmieden, die Beziehung zwischen Sauron als Annatar und Celebrimbor waren die Aspekte, auf die ich am meisten gespannt war. Natürlich ist es möglich, dass Sauron tatsächlich noch als Annatar auftritt, aber es wäre merkwürdig, würde man ihn noch einmal in einer anderen Gestalt in Eregion auftauchen lassen.
Zudem muss ich sagen, dass mich Charlie Vickers in der Rolle nicht völlig überzeugt. Als Pseudo-Aragron funktioniert er gut genug, ist angemessen zwielichtig, kann aber auch charismatisch und heroisch sein wenn nötig, aber für einen unsterblichen, Jahrtausende alten Maia fehlt ihm die nötige Gravitas, die absolute Selbstsicherheit und die Fremdartigkeit. Sein Wutausbruch wirkt eher lächerlich denn einschüchternd. Gerade in diesem Kontext versucht man abermals, ein wenig Ikonografie der Filme unterzubringen, da Sauron im Kontext dieses Wutausbruchs kurz mit „Katzenaugen“ zu sehen ist, die an das lidlose Auge der Filmtrilogie erinnern und zudenm an seine literarischen Ursprünge im Legendarium erinnern. Und immerhin einen positiven Aspekt gilt es durchaus hervorzuheben: Payne und McKay bemühen sich zumindest, einen durchaus faszinierenden Aspekt der Figur miteinzubringen, der in „The Lord of the Rings“ (Roman wie Filmtrilogie) kaum bis gar nicht beachtet wird: Saurons ursprüngliche Motivation ist, im Gegensatz zu seinem Meister Morgoth, der auf Zerstörung aus ist, Ordnung. Aus diesem Bedürfnis heraus entwickelt sich Sauron zum Tyrannen. In einem Briefentwurf aus dem Jahr 1954 beschreibt Tolkien Sauron zu Beginn des Zweiten Zeitalters als „not indeed wholly evil, not unless all ‚reformers‘ who want to hurry up with ‚reconstruction‘ and ‚reorganization‘ are wholly evil, even before pride and lust to exert their will eat them up.” (Letters, S. 190). Auf diesem Konzept fußt die Interpretation Saurons in der Serie, und tatsächlich, seine Rede an Galadriel bezüglich des Wiederaufbaus Mittelerdes spiegelt seine Worte an Celebrimbor aus dem „Silmarillion“ wider. Deutlich weniger subtil sind hingegen die an dieser Stelle eingestreuten Direktzitate aus „The Lord of the Rings“, Stichwort: Königin statt Dunklem Herrscher.
Elrond, Durin und das Schwinden der Elben
Von allen Handlungssträngen der Serie ist mir derjenige, der sich mit Elrond, Durin und ihrer Freundschaft beschäftigt, der liebste – und das nicht nur, weil hier tatsächlich auf die titelgebenden Ringe der Macht hingearbeitet wird. Viele der Beziehungen, die die Figuren von „The Rings of Power“ zueinander unterhalten, wirken auf mich recht steif und konstruiert, was das emotionale Investment stark reduziert – gerade im Vergleich zur LotR-Trilogie. Die Freundschaft zwischen Elrond und Durin IV sowie die Ehe zwischen Durin und Disa (Sophia Nomvete) hingegen ist nachvollziehbar, authentisch und vor allem herzlich, ohne allzu schmalzig zu sein. Es sind die kleinen Nuancen, die die Dialoge (ein Aspekt, der ansonsten nicht zu den Stärken der Serie gehört) so unterhaltsam machen. Gerade der Umstand, dass 20 Jahre Abwesenheit für einen unsterblichen Elben wie Elrond keine lange Zeit sind, für Durin aber sehr viel mehr zählen, ist wirklich ein gelungener Start. Zudem erbringen Robert Aramayo, Owain Arthur und Sophia Nomvete auch die besten schauspielerischen Leistungen.
Celebrimbor (Charles Edwards) und Elrond (Robert Aramayo)
Leider finden sich auf der Handlungsebene trotzdem einige Schwächen: Abermals nehmen die kreativen Köpfe eines von Tolkiens Konzepten, vereinfachen es und sorgen dafür, dass es zu einer äußerst plakativen Angelegenheit verkommt. Tatsächlich haben die Elben bereits im Zweiten Zeitalter mit ihrem „Schwinden“ zu kämpfen, einer langsam Abnahme ihrer Macht und ein genereller Verfall – bei Tolkien sind die Elbenringe dazu da, diesem entgegenzuwirken. „The Rings of Power“ übernimmt dieses eher abstrakte Konzept zwar, macht es aber zur nahbaren Gefahr, gegen die sehr bald etwas unternommen werden muss, schließlich haben die Blätter schon schwarze Adern. Sowohl die Notwendigkeit der Elbenringe als auch ihre tatsächliche Entstehung wird sehr überhastet und unsubtil dargestellt, vom Mithril als einzigem, wahrem Hilfsmittel gegen das Schwinden (bei Tolkien definitiv nicht der Fall, hier arbeiten die Noldor von Eregion einfach gerne mit dem Metall) bis hin zu Halbrands/Saurons Rolle bei der Erschaffung der Ringe, die zugleich zu groß und zu klein ausfällt. Bei Tolkien werden nicht die drei Elbenringe, sondern die sieben Zwergen- und die neun Menschenringe zuerst geschmiedet – von Sauron als Annatar und Celebrimbor in Gemeinschaftsarbeit. Aus diesem Grund hat Sauron auf die sieben und neun sehr direkten Einfluss, kann sie an sich bringen und an die Zwerge und Menschen verteilen. Die Elbenringe hingegen werden später von Celebrimbor alleine und im Geheimen geschmiedet. Saurons Einfluss bleibt indirekt, er hat nicht an ihnen mitgewirkt, sehr wohl benutzt Celebrimbor aber das von Sauron bereitgestellte Wissen, weshalb auch die Elbenringe anfällig sind, wenn Sauron den Einen Ring besitzt. Und wo wir gerade von Celebrimbor sprechen: Während ich Galadriel als zu dominant empfinde, denke ich, dass Celebrimbor als Schmied der Ringe der Macht eine deutlich zu kleine Rolle hat und mit Charles Edwards auch nicht sonderlich gut besetzt ist. Nichts gegen Edwards per se, aber er wirkt in der Rolle wie der gesetzte, nette Onkel. Von Celebrimbor erwarte ich mehr Leidenschaft und jugendlichen Elan, schließlich soll in ihm der feurige Geist seines Großvaters Fëanor, Schöpfer der Silmaril, fortbestehen. Wie oben bereits erwähnt: Meiner bescheidenen Meinung nach hätte die Beziehung zwischen Annatar/Sauron und Celebrimbor im Fokus der Serie stehen sollen, ist aber nun praktisch nichtexistent.
Númenor und der drohende Untergang
Ähnlich wie Celebrimbor und der Entstehungsprozess der Ringe ist auch das Inselkönigreich Númenor ein Aspekt, der mir in „The Rings of Power“ deutlich zu kurz kommt und nicht gut genug ausgearbeitet ist – schließlich ist Númenor Dreh- und Angelpunkt des Zweiten Zeitalters. Die reiche Insel ist sowohl bei Tolkien als auch in der Serie gewissermaßen ein Geschenk an die Edain, die Menschen, die sich im Kampf gegen Morgoth auf die Seite der Elben stellten. Erster König Númenors ist Elronds Zwillingsbruder Elros – beide sind Halbelben und dürfen somit entscheiden, welchem Volk sie sich zugehörig fühlen. Wo Elrond die Elben wählt, begründet Elros das Herrscherhaus von Númenor. Zu Anfang herrscht auch innige Freundschaft zwischen Númenorern und Elben, Erstere stehen Letzteren beispielsweise auch im Kampf gegen Sauron bei. Nach und nach entfremdet man sich aber, vor allem, weil die Númenorer auf die Unsterblichkeit der Elben eifersüchtig werden, sodass alles Elbische nach und nach mit Verachtung behandelt wird. Lediglich die Getreuen, ein Zweig des númenorischen Herrscherhauses, dem Elendil entstammt, richtet sich nach den alten Wegen, jedenfalls bis der vorletzte König der Insel, Tar Palantir, versucht, die Uhr zurückzudrehen – vergeblich. Dies sind auch mehr oder weniger die Ereignisse, die in der Serie geschehen sind, doch wo „The Rings of Power“ oft viel zu plakativ zu Werke geht, wird die Sachlage in Bezug auf Númenor zu subtil und zu wenig eindeutig vermittelt. Der Tolkien-Leser weiß, was Sache ist, für die Zuschauer, die mit Númenor jedoch nicht vertraut sind, bleibt die Angelegenheit recht nebulös. Dass der Untergang des Königreiches kommt, ist natürlich bereits absehbar und wird mehr als einmal angedeutet. Ich möchte zudem hier zu Protokoll geben, dass ein Palantír nicht wie eine Kristallkugel funktioniert und auch nicht in die Zukunft sehen kann.
Elendil (Lloyd Owen) und Isildur (Maxim Baldry)
Neben Tar Palantir (Ken Blackburn), seiner Tochter Míriel (Cynthia Addai-Robinson), die als Regentin fungiert, und dem stets zwielichtigen Pharazôn (Trystan Gravelle) lernen wir auch Aragorns Vorfahren Elendil (Lloyd Owen) und dessen Sohn Isildur (Maxim Baldry) kennen – Isildurs Bruder Anárion wird nur beiläufig erwähnt, dafür hat er allerdings eine Schwester namens Eärien (Ema Horvath). Von dieser Änderung abgesehen positionieren Payne und McKay hier am eindeutigsten die Figuren für ihre Rollen in den kommenden Staffeln. Das weicht zwar in den Details enorm von Tolkien ab, aber die grobe Richtung sowie die Konstellation der Figuren scheint immerhin dieselbe zu sein.
Vor allem designtechnisch ist Númenor interessant – auch hier lässt sich eine gewisser Einfluss der LotR-Trilogie nicht leugnen, zumindest in manchen architektonischen Details. Wo die Architektur von Gondor allerdings von byzantinischen Gebäuden und Stilelementen der späten Antike und des Mittelalters inspiriert ist, scheint Númenor eher orientalisch angehaucht zu sein, ohne dabei aber allzu sehr in Klischees zu Verfallen. Umso ärgerlicher ist es, dass das Inselkönigreich für meinen Geschmack so stiefmütterlich behandelt wird. Vielmehr sollte Númenor Ausgangspunkt der Handlung sein und deutlich ausführlicher dargestellt werden. Hätte man beispielsweise auf den Handlungsstrang der Haarfüße verzichtet, hätte man einiges an Zeit für Númenor und eine detailliertere Auseinandersetzung mit seiner Kultur gewonnen.
How I Met Your Mordor
Während die Edain, die im Ersten Zeitalter auf der Seiten der Valar und Elben gegen Morgoth kämpften, Númenor bekamen und eine mächtige Zivilisation erschufen, brach für die restlichen Menschen, die sich dem Feind verschrieben hatten, eine dunkle und trostlose Zeit an. „The Rings of Power“ zeigt uns diese Menschen als relativ typische Fantasy-Dorfbewohner, die in den „Southlands“ leben – der Region, die später als Mordor bekannt werden wird. Ähnlich wie in „Shadows of Mordor“ ist diese Gegend zuerst ein recht wohnlicher Landstrich mit viel Vegetation und noch nicht die altbekannte Aschewüste. Der Handlungsstrang um Arondir, Bronwyn, Adar und die Orks ist für mich persönlich der zwiespältigste. Zum einen sammeln sich hier diverse Klischees, die einfach nicht hätten sein müssen: Die Bewohner der Southlands lassen hervorstechende kulturelle Merkmale vermissen, die Elben/Menschen-Romanze ist selbst im Mittelerde-Kontext inzwischen ein Klischee und der bereits erwähnte Plot rund um das MacGuffin-Schwert, mit dem man den Schicksalsberg aktiviert, ist wirklich allzu ärgerlich. Das ist „Prequelitis“ in Reinform: Eine banale, plakative Erklärung für ein Handlungselement, das eigentlich keiner Erklärung bedarf.
Adar (Joseph Mawle)
Adar und die Orks hingegen sind ein anderes Kapitel. Zuerst einmal gilt es, die Orks der Serie im Allgemeinen zu loben, Make-up, Masken etc. sind wirklich extrem gut gelungen, knüpfen zwar an die LotR-Trilogie an, versuchen aber auch, und das durchaus erfolgreich, mit eigenen Designelementen zu überzeugen. Nach dem übermäßigen CGI-Einsatz in der Hobbit-Trilogie bei Azog und Konsorten tut es gut, wieder praktische Orks zu sehen. Zudem liefert Joseph Mawle, am besten bekannten als Benjen Stark in „Game of Thrones“, eine wirklich starke Performance als Adar ab. Mit diesem Handlungsstrang greift „The Rings of Power“ ein Element auf, bei dem Tolkien mit sich selbst haderte: Die Orks, ihre Natur und ihr Ursprung. Sind Orks tatsächlich immer böse, vielleicht sogar genetisch dazu „verurteilt“, im Dienste finsterer Mächte zu stehen? Verfügen sie über freien Willen? Auf diese Fragen konnte Tolkien nie eine wirklich abschließende Antwort finden. Ebenso verhält es sich mit ihrem Ursprung: Aus dem „Silmarillion“ erfahren wir, dass die Orks einst Elben waren, die von Morgoth, der nicht selbst erschaffen, sondern nur korrumpieren kann, durch Folter und Experimente verwandelt, „a ruined and terrible form of life“, um Saruman aus der Jackson-Trilogie zu zitieren, die diesen Ursprung ebenfalls aufgreift. Aus später veröffentlichen Schriften wissen wir allerdings , dass Tolkien mit dieser Erklärung irgendwann nicht mehr zufrieden war und sich überlegte, die Menschen doch deutlich früher erwachen und sie als Morgoths „Rohmaterial“ fungieren zu lassen. Wie dem auch sei, „The Rings of Power“ orientiert sich am publizierten „Silmarillion“ und stellt die Frage: Was, wenn einer der ursprünglichen Elben, die zu Orks wurden, bis ins Zweite Zeitalter überlebt hat? Die Antwort, die Payne und McKay geben, ist sicher nicht unkontrovers, im Kontext dieser Serie aber doch ein durchaus interessantes Experiment. Zudem werden die Orks zwar auf recht typische Art und Weise dargestellt, verfügen aber unter Adars Führung zugleich über einen Unabhängigkeitstrieb: Sie wollen gerade nicht wieder von einem gewissen Dunklen Herrscher unterjocht werden, sondern im neubenannten Mordor ihr eigenes Ding drehen. Daraus wird freilich nichts, wie die letzte Einstellung des Finales verrät.
Von Fremden und Haarfüßen
Ich erwähnte es bereits zuvor: Der gesamte Handlungsstrang um die Haarfüße ist wahrscheinlich das größte Zugeständnis der Amazon-Serie an die Rezeption der Filme: Vermutlich fiel es den Showrunnern, den Produzenten oder Jeff Bezos persönlich schwer, sich eine Mittelerde-Adaption ohne Hobbits vorzustellen. Also nehme man die Haarfüße als nomadische Proto-Version dieses Volkes und füge es in die Serie ein, in der Hoffnung, dass das Publikum darauf anspringt. Ich war bereits im Vorfeld enorm skeptisch, und diese Skepsis hat sich bestätigt: Die Haarfüße sind in mehr als einer Hinsicht selbst in dieser nicht unbedingt vorlagengetreuen Adaption ein Fremdkörper. Alle anderen Handlungsstränge agieren über den Verlauf der acht Folgen auf die eine oder andere Art miteinander, außer diesem hier, der völlig isoliert bleibt. Das Einzige, das Nori Brandyfoot und ihren Stamm mit dem Rest der Serie in irgendeine Beziehung setzt, ist die vage Möglichkeit, dass es sich bei dem Fremden um Sauron handeln könnte. Die Prämisse dieses Handlungsstranges erinnert stark an „Diablo 3“, gefolgt von einer „Fish out of Water“-Geschichte, in welcher der Fremde seine magischen Fähigkeiten entdeckt, wobei es bereits von Anfang an klar ist, dass es sich nicht um Sauron handelt, auch wenn die enigmatischen Kultistinnen das glauben mögen. Ich hatte schon nach den ersten Folgen den unangenehmen Verdacht, man könne die zweite Mystery-Box der Serie verwenden, um einen weiteren Signatur-Charakter des Franchise einzuführen, und wahrhaftig, alles deutet darauf hin, dass es sich bei dem von Daniel Weyman gespielten Fremden um Gandalf persönlich handelt, was schon eine massive Lore-Abweichung wäre. Ursprünglich ließ Tolkien die Istari, die fünf Zauberer, denn als solcher wird der Fremde eindeutig identifiziert, um das Jahr 1000 des Dritten Zeitalters per Boot in Mittelerde ankommen, ändert später aber, wie in „The Nature of Middle-earth“ nachzulesen ist, seine Meinung und ließ zwei von ihnen bereits im Zweiten Zeitalter auftauchen. Keiner dieser beiden ist allerdings Gandalf (noch Saruman oder Radagast), sondern es sind die beiden „Blauen Zauberer“ die, je nach Version des Legendariums, die Namen Alatar und Pallando oder Morinehtar and Rómestámo tragen. Der Fremde als Blauer Zauberer wäre akkurater, ist aber weitaus unwahrscheinlicher, zum einen haben die Blauen Zauberer keinen Wiedererkennungswert und zum anderen gibt Daniel Weyman, nachdem er fast die ganze Staffel über nur stumm gestikuliert, am Ende ein Gandalf-Zitat in seiner besten Ian-McKellen-Impression ab. Das ist schon ein ziemlich eindeutiger Indikator.
Der Fremde (Daniel Weyman)
All diese Faktoren in Kombination sorgen dafür, dass der Handlungsstrang um die Haarfüße und den Fremden der in meinen Augen mit Abstand schwächste ist; abermals ist die Prequelitis sehr stark und manifestiert sich in plumpen und plakativen Origin-Storys, die zudem noch ziemlich schlecht geschrieben sind. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der Tod von Sadoc Burrowsd (Lenny Henry) ist als tragisch und emotional konzipiert, kommt aber ziemlich steif und beinahe lächerlich daher. Auch die drei Kultistinnen wirken eher albern denn furchteinflößend. Ich bin sicher, dass Nori und der Fremde in zukünftigen Staffeln mit den anderen Figuren noch interagieren werden, aber nach aktuellem Stand wirkt dieser Handlungsstrang nicht nur völlig isoliert, sondern im erzählerischen Gefüge der Serie auch völlig nutzlos und ist nur dazu da, um LotR-Fans mit Hobbits und Zauberern Elemente an die Hand zu geben, die im Zweiten Zeitalter nichts verloren haben und auch nicht gebraucht werden.
Musik der Ainur: Bear McCrearys Score
Auch bezüglich der Musik tritt „The Rings of Power“ in große Fußstapfen, schließlich haben Howard Shores sechs Mittelerde-Scores die Messlatte unglaublich hochgelegt. In dieser Hinsicht kann sich die Amazon-Serie ebenfalls nicht so recht entscheiden, ob sie sich vom Einfluss der beiden Filmtrilogien lösen möchte oder nicht. Ursprünglich heuerte man den umtriebigen Film- und Fernsehkomponisten Bear McCreary an, der in den letzten zehn Jahren mehr als ausreichend beweisen hat, dass er sowohl kompetent als auch vielseitig genug ist, um einem derartigen Projekt gerecht zu werden. Gewissermaßen Last Minute konnte Amazon dann aber doch noch Howard Shore für das Intro gewinnen, was wohl eher als Marketing-Stunt zu bewerten ist. Nicht, dass Shores Intro-Musik schlecht wäre, im Gegenteil, aber McCreary hätte zweifellos ein ebenso gutes Stück schreiben können. Und, mehr noch, die Musik des Intros spielt in der Serie selbst keine Rolle, weil sie erst komponiert wurde, nachdem die Scores zu den acht Episoden bereits vollendet waren. Dafür gibt es allerdings subtile melodische und harmonische Verweise zu Shores eigener Mittelerde-Musik.
McCreary selbst durfte auf Shores Musik aus rechtlichen Gründen nicht direkt verweisen, zweifelsohne bewegen sich seine Kompositionen aber in ähnlichen Gefilden: Großes Orchester und Chor, zusätzlich zu diversen Spezialinstrumenten, die die Kulturen und Figuren repräsentieren, etwa keltische und nordische Instrumente für die Haarfüße, ganz ähnlich wie in den Filmen. Wie Shore bedient sich auch McCreary einer Vielzahl an verschiedenen Leitmotiven für Figuren, Kulturen und Konzepte, die kunstvoll variiert und miteinander verwoben werden. Dabei bleibt McCreary seinem eigenen Sound allerdings stets treu, sodass es sich bei seiner Musik für die Serie zwar zweifelsohne um Mittelerde-Musik handelt, sie aber nicht zu einem Shore-Abklatsch verkommt. Die beiden dominantesten Themen wurden bereits im Vorfeld veröffentlicht und auch von mir besprochen, sie gelten Galadriel und Sauron, davon abgesehen finden sich u.a. Leitmotive für Elrond, Nori, den Fremden oder Durin, Fraktionsthemen für die Zwerge von Moria, die Númenorer, die Haarfüße und, und, und…
Die Veröffentlichung der Musik in Albenform ist darüber hinaus äußerst lobenswert: Nicht nur gibt es zu jeder Episode ein Album, Amazon hat darüber hinaus ein umfangreiches Staffelalbum an den Start gebracht, auf dem sich Suiten zu den essentiellen Themen sowie die herausragendsten Score-Tracks, etwa das ebenso elegante wie energetische Scherzo for Violin and Swords, das actionreiche Cavalry oder das sakrale Nolwa Mahtar finden. Wer also nur ein Best of möchte, ohne sich dafür durch acht Stunden Musik zu arbeiten, kann getrost zum Staffelalbum greifen, und wer wirklich die Musik in ihrer Gesamtheit genießen möchte, hat eben dazu auch die Möglichkeit. Wie kritisch ich auch viele andere Elemente der Serie sehen mag, McCrearys Score ist über jeden Zweifel erhaben, eine mehr als würdige Fortführung des musikalischen Vermächtnisses Mittelerdes und einer der besten Scores des Jahres. Eine ausführlichere Besprechung findet sich hier.
Fazit
Gemessen am umfangreichen Diskurs, der zu „The Lord of the Rings: The Rings of Power“ geführt wurde, vom Preis, den Amazon für die Rechte und die Produktion zahlte, bis hin zu Kontroversen bezüglich des diversen Casts und der „Vergewaltigung von Tolkiens Vermächtnis“, ist die Serie geradezu erstaunlich mittelmäßig – weder das Meisterwerk, dass man sich vor allem beim Amazon wohl erhofft hat, noch das totale Desaster, das von vielen prophezeit wurde. „The Rings of Power“ besticht vor allem auf handwerklicher und technischer Ebene; dem Produktionsdesign, den visuellen Effekten, den Schauwerten im Allgemeinen und natürlich der grandiosen Musik von Bear McCreary kann man definitiv keinen Vorwurf machen. An dieser Front wird das viele Geld, das Amazon in dieses Projekt pumpte, deutlich spürbar. Anders sieht es in Sachen Dramaturgie, Struktur, Handlungs- und Charakterentwicklung und Drehbücher im Allgemeinen aus. Dass die Serie Tolkien-Puristen nicht zufriedenstellen würde, war ohnehin abzusehen, allerdings lässt „The Rings of Power“ auch, zumindest für mich, deutlich zu oft den Geist Tolkiens hinter sich und greift auf erschöpfte Fantasy-Klischees und modernes Mystery-Box-Storytelling zurück, die es nun wirklich nicht gebraucht hätte und die gerade in einer Tolkien-Adaption sehr fehl am Platz sind. Hin und wieder tauchen auch interessante Konzepte auf, die Elemente aus Tolkiens Werk auf sinnvolle Art und Weise erweitern und diskutieren, etwa der Freiheitsdrang der Orks oder die Freundschaft zwischen Elrond und Durin, aber Derartiges bleibt leider verhältnismäßig selten.
Zudem fällt es der Serie sehr schwer, sich vom Vermächtnis der Jackson-Filme zu lösen. In Sachen Design und Musik ist das nicht weiter tragisch (warum das Rad neu erfinden?), aber gerade in Bezug auf Handlungselemente wird es kritisch: Das Zweite Zeitalter hat und braucht keine Hobbits und Zauberer. In meinen Augen hätte „The Rings of Power“ besser daran getan, sich auf Númenor und das tatsächliche Schmieden der titelgebenden Ringe zu fokussieren, das in der finalen Folge eher als Nachgedanke abgehandelt wird, ganz nach dem Motto: „War da nicht noch irgendetwas mit Ringen?“. Somit bleibt mein ursprüngliches Urteil bestehen: Von den beiden Fantasy-Prequel-Serien dieses Herbstes ist „House of the Dragon“ die deutlich stärkere: Zwar kann sich das GoT-Spin-off in Sachen Optik, Musik und Spektakel bei Weitem nicht so sehr hervortun, ist aber in Sachen Figuren, Handlungsentwicklung, Dialogen und Schauspielleistung um so Vieles stärker als „The Rings of Power“. Und, am wichtigsten, trotz einiger doch ziemlich massiver inhaltlicher Abweichungen von der Vorlage, bleibt „House of the Dragon“ dem Geist doch stets treu – und das ist es, was ich mir von „The Rings of Power“ gewünscht hätte.
Zitiert nach: Tolkien, J. R. R.: Letter 153: To Peter Hastings (draft), in: The Letters of J. R. R. Tolkien. A selection edited by Humphrey Carpenter. With the assistance of Christopher Tolkien. London 2006 [1981], S. 187-196.
Spoiler! Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes wird nur allzu gerne in Crossovern verwendet – ich besprach bereits das eine oder andere im Rahmen dieses Blogs. Zumeist paaren Autoren den Meisterdetektiv mit anderen Figuren aus dem viktorianischen Umfeld – Dracula, Dr. Jekyll/Mr. Hyde etc. Auch mit anderen legendären Detektiven wie Batman durfte er schon interagieren und selbst in den Gefilden des „Cthulhu-Mythos“ sind Holmes und Watson keine Fremden mehr, mit den Horror-Ikonen der 80er interagieren sie allerdings eher selten, doch auch hier finden sich Ausnahmen. Die vielleicht bemerkenswerteste Pastiche dieser Art ist ein Roman mit dem Titel „Sherlock Holmes and the Servants of Hell“ von Paul Kane. Die Prämisse ist ebenso so simpel wie faszinierend: Was geschieht, wenn man Sherlock Holmes auf die Cenobiten aus Clive Barkers „Hellraiser“ treffen lässt?
Paul Kane ist für ein derartiges Projekt sicher die geeignetste Wahl, vor allem wegen seiner intimen Kenntnis des Hellraiser-Franchise; so verfasste er unter anderem das Sachbuch „The Hellraiser Films and Their Legacy“ und fungiert zusammen mit seiner Frau Marie O’Regan als Herausgeber der Kurzgeschichtensammlung „Hellbound Hearts“. Das Verfassen eines passenden Romans scheint da der nächste logisch Schritt. Die Kombination von Holmes und „Hellraiser“ scheint auf den ersten Blick ein wenig gewöhnungsbedürftig zu sein, passt aber deutlich besser, als es etwa bei vergleichbaren Horror-Filmreihen der 80er der Fäll wäre. Sowohl in den Filmen als auch in Comics und sonstigen Fortführungen zeigten Autoren bereits, dass eine Hellraiser-Geschichte auch sehr gut in vergangenen Epochen funktionieren kann. Richtet man sich allerdings nach dem etablierten Kanon der Filme, steht die Franchise-Ikone Pinhead während des viktorianischen Zeitalters noch nicht zur Verfügung, da sein menschliches Alter Ego Elliot Spencer erst 1921 in den Besitz der Lament Configuration gelangt, um im Anschluss zum Cenobiten zu werden – auch das ein Problem, mit dem Paul Kane in diesem Kontext umgehen muss und für das er eine sehr kreative Lösung findet.
In jedem Fall zeigt Kane mit „Sherlock Holmes and the Servants of Hell”, dass er zu deutlich mehr in der Lage ist als nur einem simplen Crossover, denn der Roman ist tatsächlich eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem Franchise, die dessen Entwicklung kommentiert, aber zugleich auch die Holmes-Aspekte nicht aus den Augen verliert. Aus diesem Grund lässt Kane Holmes und Watson nicht einfach „nur“ die Lament Configuration lösen und auf Cenobiten treffen, sondern integriert verschiedene Elemente der Filme in den Roman. Zu Beginn befinden sich Holmes und Watson nicht unbedingt im besten emotionalen Zustand: Letzterer trauert um seine verstorbene Ehefrau Mary, während Ersterer nach den Ereignissen an den Reichenbach-Fällen und seinem vermeintlichen Tod nicht mehr derselbe ist: Holmes gibt sich mehr denn je seinem alten Laster, den bewusstseinsverändernden Drogen hin, und wird regelrecht zum Adrenalinjunkie. Vielleicht verschafft ja ein neuer Fall Ablenkung: Mehrere Personen sind unter mysteriösen Umständen verschwunden, und in jedem dieser Fälle spielt eine mysteriöse Puzzlebox eine Rolle. Die Namen der verschwundenen Personen lassen den Hellraiser-Fan sofort aufhorchen: Francis Cotton, James Philip Monroe und Howard Spencer. Hier beginnen die Handlungselemente der Hellraiser-Filme mehr oder weniger subtil in die Holmes-Geschichte einzudringen, indem Kane viktorianische Pendants zu Figuren der ersten drei Hellraiser-Filme als Nebenfiguren auftreten lässt. Francis Cottons Bruder Lawrence und seine Frau Juliet sind diejenigen, die Holmes und Watson beauftragen, und natürlich hat Lawrence eine Tochter namens Kirsten aus erster Ehe – Fank, Larry, Julia und Kristy Cotton sind da nicht allzu weit entfernt. Dennoch begnügt sich Kane nicht damit, die Handlung des ersten Films im London des späten 19. Jahrhunderts noch einmal durchzuexerzieren, die Cottons sind nur ein kleines Puzzelstückchen. James Philip Monroe verweist natürlich auf den Clubbesitzer J. P. Monroe aus „Hellraiser III: Hell on Earth“ und bei Howard Spencer handelt es sich um den Vater von Elliot Spencer, der später zu Pinhead werden soll – auf diese Weise integriert Kane jeweils ein Opfer der Lament Configuration aus den ersten drei Filmen in seinen Roman. Auch weitere Figuren erhalten, was man als „Pseudo-Cameos“ bezeichnen könnte, darunter eine Reporterin namens Summerskill (Joe Summerskill aus „Hellraiser III: Hell on Earth“), ein Polizist namens Thorndyke (Joseph Thorne aus „Hellraiser: Inferno“) und eine junge Frau namens Kline (Amy Kline aus „Hellraiser: Deader“). Natürlich stoßen Holmes und Watson bei ihren Ermittlungen schließlich auf Gerüchte um den „Orden der klaffenden Wunde“ („Order of the Gash“). Holmes weiß zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits deutlich mehr, als er mit Watson teilen möchte. Um ihn vor weiteren Gefahren zu schützen, schickt er ihn nach Frankreich, um dort über die Herkunft der Puzzlebox nachzuforschen. Wie nicht anders zu erwarten, stößt Watson dort auf ein Mitglied der Lemarchand-Familie und trifft zudem auch einen gewissen Henri D’Amour, Vorfahre des von Clive Barker geschaffenen okkulten Detektivs Harry D’Amour, der u.a. Protagonist des Romans „The Scarlet Gospels“ ist und auch in diversen Hellraiser-Comics auftritt. Holmes macht sich derweil an den finalen Schritt zur Aufklärung des Falls: Die Lösung der Lament Configuration…
Es sollte erwähnt werden, dass Kane nicht nur im Hellraiser-, sondern auch im Sherlock-Holmes-Bereich sehr kompetent ist. Stilistisch baut er definitiv auf Doyle auf und vermittelt sofort die richtige Atmosphäre, auch die Beziehung zwischen Holmes und Watson gelingt ihm sehr gut. Große Teile des Romans sind zudem, in bester Tradition, als Bericht Watsons konzipiert, bei den restlichen Kapiteln fungiert Holmes selbst als PoV-Charakter, aber nicht als Ich-Erzähler. Nach einem stark an den Anfang von „Hellraiser“ und „Hellbound: Hellraiser II“ erinnernden Prolog, in welchem ein Individuum, das sich im letzten Satz als Sherlock Holmes herausstellt, die Lament Configuration löst, folgt ein erster Teil, der ausschließlich aus Watsons Perspektive verfasst ist, im zweiten Teil folgen wir ausschließlich Holmes und im dritten wechseln sich die Holmes- und Watson-Kapitel ab. Kenner beider Franchises werden viele Anspielungen und Referenzen entdecken, neben den oben erwähnten Gastauftritten dürfen natürlich auch Mycroft Holmes und Mrs. Hudson auftauchen, zudem werden viele vergangene Fälle erwähnt. Auch „The Hellbound Heart“ wird nicht ausgespart, wo immer Cenobiten aktiv waren, kann beispielsweise ein Vanille-Duft festgestellt werden.
Trotz der Hellraiser-Elemente ist „Sherlock Holmes and the Servants of Hell” bis zu dem Moment, in dem der Titelheld selbst die Lament Configuration löst, eine relativ „normale“ Holmes-Geschichte, ab dann begeben wir uns allerdings in völlig andere Gefilde. Auch sorgt Kane dafür, dass sein Roman die Tendenzen der Filmreihe widerspiegelt. Die ersten zwei Drittel erinnern stärker an „Hellraiser“, sind geerdeter und subtiler, während das letzte Drittel eher „Hellbound: Hellraiser II“ gleicht, und das nicht nur, weil das Labyrinth zum primären Handlungsort wird, auch inhaltlich finden sich einige deutliche Parallelen. Wir erfahren, dass – wie könnte es anders sein? – James Moriarty ein weiteres Mal hinter allem steckt. Anstatt, wie in „Victorian Undead“, eine Zombieseuche loszulassen, ist er dieses Mal zum Cenobiten geworden und trachtetet danach, mit seinen eigenen Horden die Macht im Labyrinth zu übernehmen. Diese „handgemachten“ Häscher erinnern bezüglich ihrer Beschreibung an Steampunk-Cenobiten und werden ähnlich behandelt wie Pinheads Fußsoldaten in „Hellraiser III: Hell on Earth“. Kane verwendet sogar dieselbe Bezeichnung für sie, „Pseudo-Cenobiten“. Moriartys Rolle gleicht der von Dr. Channard in „Hellbound: Hellraiser II“, auch er wird als Emporkömmling, als neuer Cenobit, der den Status Quo aufmischt, dargestellt. Er steht im Kontrast zu den „alten“ Cenobiten, dem Quartett, das erscheint, als Holmes die Lament Configuration löst und das stark an jenes aus den ersten beiden Hellraiser-Filmen erinnert, auch wenn sich der Anführer DIESER Vierertruppe durch Glasscherben statt durch Nägel im Kopf auszeichnet, weshalb Watson ihm den Spitznamen „Glass“ verpasst. Wie Pinhead in „Hellbound: Hellraiser II“ wird er allerdings äußerst unelegant abserviert. Mitunter wirkt es anschließend fast, als wolle Kane Channard eher unbefriedigendes Ableben ausgleichen, denn nun wird Holmes selbst zum Cenobiten, um die Ordnung in der Hölle wieder herzustellen und gegen den Empokömmling zu kämpfen. Gerade hier scheint Kane die Entwicklung des Franchises zu kommentieren: der Moriarty-Cenobit mit seinen megalomanischen Absichten erinnert nicht nur an Channard, sondern auch an den eindeutig bösen Pinhead des dritten und vierten Hellraiser-Films, während der Holmes-Cenobit mehr an die stoische, die Regeln befolgende Inkarnation der ersten beiden Filme gemahnt. Wie ich selbst scheint auch Kane eindeutig diesen ursprünglichen Hell Priest, „demon to some, angel to others“ dem eindeutig satanischen Pinhead späterer Filme vorzuziehen. Obwohl die Franchise-Ikone bis auf einen kurzen Cameo-Auftritt in einer Vision in Kanes Roman nicht vorkommt, ist der Schatten, den er voraus (bzw. zurück) wirft, stets wahrnehmbar, nicht zuletzt, da sein Kommen bereits kryptisch angedeutet wird.
Das Finale des Romans ist für Fans der Filmreihe und der zugehörigen Druckerzeugnisse natürlich ein gefundenes Fressen, nicht zuletzt, weil Kane noch einmal eine ganze Menge Referenzen unterbringt. Die diversen Cenobiten und Dämonen, die Teil von Holmes‘ Armee werden, könnten mitunter aus den Hellraiser-Comics der 90er stammen, da ich davon nur einige wenige gelesen habe, bin ich mir diesbezüglich allerdings nicht sicher. Der Dämon, der als „Our Lord of Quarters“ bezeichnet wird, stammt aber definitiv aus der gleichnamigen Kurzgeschichte, die in „Hellbound Hearts“ erschienen ist. Trotz allem muss allerdings erwähnt werden, dass Kane die Subtilität im Finale eindeutig dem Spektakel unterordnet, und zudem erinnert der Plot einer höllischen Machtübernahme nicht nur an „Hellbound: Hellraiser II“, sondern auch an „The Scarlet Gospels“ und die Hellraiser-Comics von Boom!-Studios. Zudem passt Holmes als Opfer der Box thematisch weniger gut ins Raster als die oben erwähnten Figuren aus den Filmen, da es bei ihm keine hedonistischen Triebe im engeren Sinne sind, die ihn dazu verleiten, die Cenobiten zu beschwören, sondern eher Wissendurst und die innere Leere nach seinem Beinahe-Tod. Dennoch bemüht sich Kane, diese Aspekte miteinander zu verknüpfen bzw. einander gleichzusetzen. In Bezug auf die Polarität von Lust und Schmerz, die im Kern des Hellraiser-Franchise liegt, bleibt Watson eher außen vor und gewissermaßen distanziert, auch wenn er natürlich emotional stark involviert ist.
Fazit: „Sherlock Holmes and the Servants of Hell” ist ein gelungenes, mit viel Liebe zum Detail versehenes Crossover, dem es gelingt, beiden Hälften der Gleichung gerecht zu werden. Autor Paul Kane schafft es, sowohl den Doyle-Tonfall zu treffen als auch die sadomasochistischen Elemente Clive Barkers zu vermitteln. Im letzten Drittel nimmt das Spektakel vielleicht ein wenig zu sehr Überhand weshalb auch dieser Roman eher dem Genre „Dark Fantasy“ statt „Horror“ zuzuordnen ist, aber alles in allem ist diese Pastiche ein deutlich besserer Hellraiser-Roman als „The Scarlet Gospels“.
Dass Guillermo del Toro ein gewisses Faible für H. P. Lovecraft hat, ist nun wirklich kein Geheimnis: Immer wieder finden sich Anspielungen in seinen Filmen und natürlich hat wahrscheinlich kein Lovecraft-Fan del Toros gescheiterte Adaption von „At the Mountains of Madness“ vergessen. So verwundert es kaum, dass der Schriftsteller aus Providence auch in der neuen Horror-Anthologieserie „Guillermo del Toro’s Cabinet of Curiosities“ eine Rolle spielt, und das nicht nur in einzelnen Anspielungen (die natürlich auch vorhanden sind), sondern in Form von zwei Episoden, die sich als direkte Adaptionen von Lovecraft-Geschichten präsentieren. Das Konzept der Netflix-Serie erinnert an „Alfred Hitchcock Presents“: Zu Beginn jeder Episode gibt es ein paar einleitende Worte von del Toro, darauf folgen die von verschiedenen Regisseuren inszenierten Horror-Geschichten. Bei Folge 5, Regie führt Keith Thomas, handelt es sich um eine, wenn auch ziemlich freie, Umsetzung der Geschichte „Pickman’s Model“, was sie zu einem interessanten Sujet für mich macht.
Die Lovecraft-Geschichte
Lovecraft verfasste „Pickman’s Model“ 1926, ein Jahr später wurde die Kurzgeschichte auf den Seiten des Magazins „Weird Tales“ publiziert. Gemessen an vielen der späteren und populäreren Storys wie „The Call of Cthulhu“ oder „The Shadow Over Innsmouth“ ist „Pickman’s Model“ eine eher konventionelle Geschichte, die eigentlich nicht wirklich dem „Cthulhu-Mythos“ oder dem Sub-Genre des kosmischen Horrors zuzurechnen ist, auch wenn Elemente der Geschichte, sei es Richard Upton Pickman selbst oder die Ghule, die er abbildet, in Mythos-Geschichten anderer Autoren nur allzu gerne auftauchen.
Erzählerisch ist die Geschichte recht simpel aufgebaut, wie so oft bei Lovecraft haben wir es mit einem Ich-Erzähler zu tun, der allerdings ausnahmsweise einmal keinen Bericht über erschreckende Ereignisse hinterlässt; stattdessen ist die Geschichte als „einseitiger Dialog“ aufgebaut. Der Erzähler Thurber (in der Geschichte ohne Vornamen, in der Adaption heißt er Will) berichtet seinem Freund Eliot von seinen Erlebnissen mit dem Maler Richard Upton Pickman, wobei der Text Eliots Antworten und Erwiderungen ausspart, sodass der Leser gewissermaßen als Dialogpartner fungiert. Thurber berichtet, dass seine Angst vor der U-Bahn, Kellern und dem Untergrund im Allgemeinen von einem Erlebnis mit dem kürzlich verschwundenen Maler Richard Upton Pickman herrührt, der wie Thurber und Eliot Mitglied des Kunstvereins von Boston ist bzw. war. Pickman eckte dort mehrmals wegen seiner ebenso grausigen wie realistischen Gemälde an, die viele andere Mitglieder verschreckten, während sie Thurber nachhaltig beeindrucken und faszinieren – trotz seines Traumas hält er an der Meinung fest, dass es sich bei Pickman um einen außergewöhnlichen Künstler handelt.
Pickman, der sich von Thurbers Bewunderung offenbar geschmeichelt fühlt, lädt ihn in sein „geheimes Atelier“ in den heruntergekommenen Norden Bostons ein, in welchem er Thurber Gemälde von blutrünstigen Monstrositäten zeigt, gegen die jene, die im Kunstverein schon ausgestellt wurden, regelrecht harmlos sind. Merkwürdige Geräusche veranlassen Pickman, mit einem Revolver das Zimmer zu verlassen, angeblich um Ratten zu verscheuchen – tatsächlich fallen Schüsse. Pickman und Thurber trennen sich hastig. Später stellt Thurber fest, dass er bei Pickman ein Stück Papier eingesteckt hat, bei welchem es sich um eine Fotografie handelt, die eines jener grausigen Wesen zeigt, die Pickman gemalt hat. So muss Thurber feststellen, dass diese Kreaturen keinesfalls der Fantasie entstammen, sondern dass es sich bei Pickmans Gemälden „nur“ um realitätsnahe Wiedergaben handelt.
„Pickman’s Model“ ist eine Geschichte, die heute zugegebenermaßen in dieser Form nicht mehr allzu viele Neuleser besonders beeindrucken dürfte, im Vergleich zu anderen Enthüllungen, besonders Enthüllungen kosmischen Schreckens, ist die hiesige relativ zahm. Wie viele andere Geschichten Lovecrafts ist sie in ihrem Aufbau und in ihren Andeutungen deutlich stärker als in ihrer tatsächlichen Auflösung. Der interessanteste Aspekt dürften wahrscheinlich die immer wieder eingestreuten Diskussionen zum Thema Kunst sein, Thurber dient hier zweifellos als Avatar für Lovecrafts eigene Meinung zum Thema „erschreckende Gemälde“. Tatsächlich funktioniert „Pickman’s Model“ für mich persönlich in der Hörspieladaption der Reihe „Gruselkabinett“ von Titania Medien mit Abstand am besten, da sie unheimlich stimmig inszeniert ist und von dem großartigen Zusammenspiel von Dietmar Wunder (dt. Stimme von Daniel Craig) und Sascha Rotermund (dt. Stimme von Benedict Cumberbatch) profitiert. Dabei bleibt das Hörspiel nah am Text und schafft es, allein durch die Performance der Sprecher das Grauen zu vermitteln. Kaum weniger gelungen ist zudem die GM-Factory-Lesung von Gregor Schweitzer. Eine visuelle Adaption hat es da natürlich schwerer – dementsprechend verwundert es kaum, dass Keith Thomas und Drehbuchautor Lee Patterson sich vom Text sehr weit entfernen.
Die Umsetzung
Zumindest auf handwerklicher Ebene kann man dieser Folge, wie der gesamten Serie (zugegeben, ich habe noch nicht alle Folgen gesehen) wenig vorwerfen. „Guillermo del Toro’s Cabinet of Curiositys“ sieht definitiv sehr gut aus und ist durchweg enorm atmosphärisch. Die Handschriften der einzelnen Regisseure sind sehr wohl präsent, zugleich haftet allen Folgen aber auch eine gewisse, nennen wir es „Del-Toro-haftigkeit“ an, sei es in der Atmosphäre oder im Design der Kreaturen. Inhaltlich ist es leider eine etwas andere Geschichte: Wie bereits zu erwarten war, wird eher die grobe Prämisse als die tatsächliche Geschichte adaptiert: Thurber (Ben Barnes) und Pickman (Crispin Glover) sind beide Schüler einer Kunstakademie. In einer Sitzung beobachtet Thurber zufällig, wie das gewöhnliche Modell, das gemalt werden soll, auf Pickmans Bild vier Arme hat und blutet. Wie in der Geschichte übt Pickman eine gewisse Faszination auf Thurber aus, man unterhält sich und Pickman erzählt Thurber ein wenig von seinen Hintergründen – eine Vorfahrin namens Lavinia (Megan Many) war laut Pickman in diverse kultische bzw. schwarzmagische Handlungen verwickelt, setzte Gästen ihren gekochten Ehemann vor und wurde dafür als Hexe verbrannt – dieses kannibalistische Motiv taucht in der Episode immer wieder auf. Gewisse Andeutungen diesbezüglich finden sich tatsächlich in Lovecrafts Geschichte, auch hier werden Verbindungen zu den Hexenprozessen von Salem erwähnt und eines von Pickmans Werken trägt den Titel „Leichenfresser beim Fraße“, diese sind allerdings weit weniger spezifisch. Der Lovecraft-Kenner wird bei dem Namen Lavinia zudem sofort hellhörig und muss an „The Dunwich Horror“ denken.
Die Werke Pickmans, die Thurber in Kombination mit der Familiengeschichte gezeigt bekommt, haben einen verstörenden Einfluss auf den jungen Maler, er scheint zu halluzinieren und Elemente aus Pickmans Gemälden in der Realität zu sehen, was zur Folge hat, dass seine Geliebte Rebecca (Oriana Leman) glaubt, er sei Betrunken auf ihrer Party erschienen, woraufhin sie die Beziehung beendet. Als Thurber Pickman erneut in seiner Wohnung aufsucht, sind sowohl der Maler als auch seine Gemälde verschwunden. An dieser Stelle macht die Handlung einen Sprung von 17 Jahren, Thurber und Rebecca sind inzwischen verheiratet und haben einen gemeinsamen Sohn. Zudem ist Thurber inzwischen ein einflussreicher Künstler. Da taucht, recht unverhofft, Richard Upton Pickman wieder auf – und mit ihm und seinen Gemälden kehren auch die Visionen und Alpträume zurück, die sich nun direkt auf Thurber und seine Familie auswirken. Pickman taucht schließlich sogar bei Thurber zuhause auf und beteuert, er wolle nur, dass seine Bilder gesehen werden. Abermals lädt er den Kollegen zu sich ein, bei Pickman kommt es allerdings zum Handgemenge, das schließlich mit Pickmans Tod endet. Um ganz sicher zu gehen, verbrennt Thurber die unheilvollen Bilder, doch es stellt sich heraus, dass der unheilvolle Einfluss bereits von Thurbers Frau und Sohn Besitz ergriffen hat, sodass sich Lavinias Tat wiederholt…
Wie bereits erwähnt: „Pickman’s Model“ ist eine Geschichte, die so, wie sie Lovecraft erzählt, weder besonders furchterregend, noch besonders filmisch ist. Thomas und Patterson ließen sich für diese Folge der Anthologie eher von der Prämisse und der Figurenkonstellation inspirieren, entwickelten sie dann jedoch in eine völlig andere Richtung. Gewisse Reste der ursprünglichen Geschichte sind noch vorhanden, so wird Thurber unter anderem auch mit dem tatsächlichen Ghul konfrontiert, anstatt nur dessen Foto zu sehen, ironischerweise hätte man diese Szene jedoch problemlos entfernen können. Wo sich die eigentliche Story auf die Ghule und deren Abbildung konzentriert, schaffen Regisseur und Drehbuchautor aus Implikationen und Andeutungen einen kultischen Überbau, der ironischerweise an „Dreams in the Witch House“ erinnert – zufällig handelt es sich hierbei um die zweite Lovecraft-Geschichte, die im Rahmen des „Cabinet of Curiosities“ verfilmt wird. Das Problem bei der Sache ist, dass die ganze Angelegenheit ziemlich holprig erzählt ist, die einzelnen Bestandteile wollen nicht ineinandergreifen. Es wirkt, als hätten Thomas und Patterson versucht, das Grauen der ursprünglichen Kurzgeschichte zu erweitern, um sie für ein modernes Horror-Publikum ansprechender zu machen, diese Bemühungen sorgen allerdings dafür, dass das Ergebnis recht generisch daherkommt und sich nicht mehr recht nach Lovecraft anfühlen will – man fühlt sich eher etwas an „The Conjuring“ erinnert. Dementsprechend fand ich persönlich die finale Realwerdung eines der Bilder auch nicht allzu überraschend oder schockierend. Hinzu kommt, dass leider auch die beiden Hauptdarsteller ihn ihren Rollen nicht völlig überzeugen können, was primär damit zusammenhängt, dass sie mit ihrem Akzent kämpfen: Sowohl Ben Barnes (dessen Mitwirken angesichts der Tatsache, dass er in „The Picture of Dorian Gray“ die Hauptrolle spielte, wohl als Casting-Gag verstanden werden kann) als auch Crispin Glover scheinen mit dem Bostoner Sprach-Duktus nicht völlig zurechtzukommen. Während das bei Barnes nicht allzu viel ausmacht, ist Glovers Akzent wirklich merkwürdig und klingt eher wie die Parodie eines Iren. Vielleicht bin ich durch Sascha Rotermund, der Pickman sehr charismatisch anlegt, zu sehr vorgeprägt, aber ich persönlich finde Glovers autistisch anmutendes Overacting hier ziemlich fehl am Platz.
Fazit: Die Umsetzung von „Pickman’s Model“ im Rahmen von „Guillermo del Toro’s Cabinet of Curiosities“ kann zwar nicht wirklich als misslungen bezeichnet werden, vor allem auf technischer und atmosphärischer Ebene weiß sie durchaus zu überzeugen. Allerdings scheitern Regisseur Keith Thomas und Drehbuchautor Lee Patterson an einer wirklich effektiven Modernisierung der Lovecraft-Geschichte, die zudem an Fokusproblemen und Crispin Glovers Darstellung von Richard Upton Pickman leidet.
Halloween 2022
Letztes Jahr erschien die deutsche Fassung der Dracula-Comicadaption des französischen Künstlers Georges Bess – da scheint „Frankenstein“ der nächste logische Schritt zu sein. Tatsächlich war das Erscheinen dieses üppigen Comicbandes im Hardcover-Format – wie der Vorgänger komplett in schwarz-weiß – der auslösende Faktor, der mich dazu gebracht hat, mich im Rahmen dieses Blogs verstärkt mit Mary Shelleys Roman und den diversen Adaptionen zu beschäftigen. Vielleicht wäre es angebrachter gewesen, mit Universals Film von 1931 zu beginnen, aber hin und wieder muss man auch mal das Pferd von hinten aufzäumen und mit der neuesten Umsetzung starten.
Tatsächlich beginnt die Comicadaption genauso wie der Roman: Auf Captain Waltons Schiff, wo er seine Erlebnisse in einem Tagebuch festhält. Zu diesen Erlebnissen gehört ein kurzer Blick auf die Kreatur und natürlich ein stark geschwächter Victor Frankenstein, der beginnt, seine Geschichte zu erzählen. Tatsächlich folgt Bess, wie schon bei seiner Dracula-Adaption, der Handlung des Romans sehr genau, wenn auch mit einigen Abstrichen und einem etwas veränderten Fokus. Frankensteins familiäres Umfeld spielt beispielsweise eine deutlich kleinere Rolle, wo Elizabeth, William und Co. zu Beginn des Romans ausführlich vorgestellt werden, tauchen sie bei Bess deutlich später auf, nämlich erst dann, wenn sie wirklich handlungsrelevant sind. Zu Beginn der Rückblickshandlung legt Bess den Fokus stattdessen (und mit einigen wohlplatziertem direkten Shelley-Zitaten) auf Frankensteins Forscherdrang, sodass die Universität Ingolstadt zum ersten wichtigen Handlungsort wird. Zudem baut er hier ein kleines Zugeständnis an die Universal-Filme ein. Wie in besagten Filmen und anders als im Roman verfügt Frankenstein hier über einen buckligen Diener, der zwar weder Fritz (wie im Film von 1931) noch Igor bzw. Ygor (erstmals in „Son of Frankenstein“ aus dem Jahr 1939, gespielt von Bela Lugosi), sondern Sven heißt, aber im Grunde denselben Zweck erfüllt. Zudem kann Bess es nicht lassen, hier und da einige zusätzliche Details einzustreuen. Mary Shelley bleibt bezüglich Frankensteins Rohmaterial sehr vage, während die Adaptionen zumeist versuchen, ein wenig mehr Kontext zu liefern, so auch in dieser. Die gewaltige Größte der Kreatur erklärt Bess damit, dass Frankenstein sich unter anderem des Leichnams eines riesigen Zirkusartisten bedient.
Ebenso vage bleiben Shelleys Beschreibungen der Kreatur, und natürlich gilt es auch hier, den Universal-Faktor nicht zu unterschätzen. Einerseits ist Boris Karloff in der Rolle des Monsters so dominant, dass man an der entsprechenden Assoziation nicht vorbeikommt, andererseits ist es, besonders nach unzähligen Parodien, schwierig, den viereckigen Kopf und die Schrauben im Hals noch ernst zu nehmen. Bess versucht so gut wie möglich, sich an Mary Shelleys Beschreibung zu orientieren und zeichnet die Kreatur sehr groß und muskulös, mit langen, schwarzen Haaren und Narben – zudem zitiert er ihre Beschreibung im Erzähltext.
Ab dem Moment, in dem die Kreatur aus dem Labor flüchtet, nimmt Bess einige strukturelle Änderungen vor. Wie im Roman erfährt Frankenstein von seiner Schöpfung, was dieser zwischen Flucht und Wiedersehen widerfahren ist, Shelley hält sich hier strikt an Frankensteins Perspektive, wir als Leser erfahren erst, was geschehen ist, als Frankenstein es auch erfährt. Bess hingegen zieht diesen Teil der Geschichte vor, sodass Frankenstein Captain Walton nun chronologisch und nicht an seine Wahrnehmung gebunden erzählt. Dieser Binnenerzählung räumt Bess enorm viel Platz ein, etwa ein Drittel des gesamten Comics, und gibt sie inhaltlich insgesamt sehr vorlagengetreu wieder, erweitert sie allerdings etwas und streut einige Hintergründe der Familie, mit der die Kreatur agiert, in die Erzählung ein. Auch der Mord an William Frankenstein wird bereits an dieser Stelle thematisiert, wobei Bess die Szene deutlich anders und knapper darstellt. In Mary Shelleys Roman ist William einer der wenigen Menschen, die der Kreatur Güte zuteilwerden lassen, woraufhin diese den Jungen gewissermaßen „adoptieren“ möchte. Erst, als sie den Nachnamen des Jungen erfährt, tötet sie ihn und hadert dabei mit sich selbst. Im Comic dagegen ist die Szene sehr knapp, William zeigt keine Güte und wird getötet, bevor er seinen Namen verraten kann.
Im Anschluss kehren wir gemeinsam mit Frankenstein in die Schweiz zurück und erst an dieser Stelle werden die familiären Figuren sehr knapp eingeführt; auf Elizabeth verwendet Bess kaum Zeit bzw. Panels und auf Justine Moritz praktisch gar keine. Die Szenen im Gefängnis entfallen komplett, Justines Tod wird ausschließlich im Erzähltext erwähnt, was ein wenig merkwürdig anmutet, da Bess im Anschluss auf mehreren Seiten üppige Landschaftsbilder inszeniert, während Frankenstein nach der Kreatur sucht, die er für den Mord an seinem Bruder verantwortlich macht. Der Dialog zwischen Schöpfer und Schöpfung fällt hier natürlich deutlich kürzer aus, da die lange Binnenerzählung ja bereits abgearbeitet ist. Ab diesem Zeitpunkt folgt Bess wieder sehr genau Mary Shelleys Geschichte, von den Reisen auf die britischen Inseln über den schließlich abgebrochenen Versuch, einer Frau für die Kreatur zu schaffen bis hin zum Tod von Henry Clerval. Es folgen Frankensteins Rückkehr in die Schweiz, die Hochzeit mit Elizabeth und ihr anschließender Tod sowie der von Frankensteins Vater. Das alles arbeitet Bess relativ zügig ab und stellt relativ wenig szenisch dar, sondern arbeitet mit Erzähltext und Einzelbildern. Etwas mehr Platz widmet Bess Frankensteins Jagd nach der Kreatur; zudem räumt er Captain Waltons Gedanken einige Textkästen ein, bis es schließlich zum unweigerlichen Ende kommt: Frankenstein stirbt und die Kreatur verschwindet mit dem Leichnam ins Ungewisse.
Visuell knüpft Bess direkt an seine Dracula-Adaption an: Wem diese stilistische zusagte, könnte auch mit den Zeichnungen in dieser Version von „Frankenstein“ zufrieden sein – beeindruckend sind sie zweifelsohne, allerdings finde ich persönlich die Dracula-Umsetzung deutlich gelungener. Das mag allerdings auch mit meinen persönlichen Vorlieben zusammenhängen. Wo Bess‘ „Dracula“ äußerst gotisch daherkommt und mitunter fast kafkaesk wirkt, konzentriert er sich in „Frankenstein“ in größerem Ausmaß auf die bereits erwähnten, üppigen Landschaften. Im visuellen Fokus steht außerdem zweifelsohne die Kreatur, die hier, zumindest meinem empfinden nach, deutlich präsenter ist als im Roman. Tatsächlich scheint Bess sich für alles abseits des Titelhelden, seiner Schöpfung und deren Beziehung zueinander kaum zu interessieren. Die Rolle der diversen Nebenfiguren, seien es Frankensteins Geliebte Elizabeth, die restlichen Familienmitglieder oder sein Freund Henry Clerval, sind bestenfalls Randerscheinungen und werden z.T. erst dann in die Handlung eingeführt, wenn sie unbedingt nötig sind – Justine Moritz sehen wir nur einmal von hinten, als die Kreatur ihr Williams Amulett unterschiebt, um sie zu belasten.
Fazit: Georges Bess‘ „Frankenstein“ ist, wie schon seine Dracula-Adaption, eine visuell beeindruckende Umsetzung des Klassikers, die jedoch hinter besagtem „Vorgänger“ ein wenig zurückbleibt. Bess legt seinen Fokus auf Frankenstein und die Kreatur, vernachlässigt aber die meisten anderen Figuren, deren Geschichte durchaus angemessen auf den Seiten mit Erzähltext und Landschaftsabbildungen hätten untergebracht werden können.