The Ballad of Songbirds and Snakes

Spoiler!
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In das Hunger-Games-Franchise bin ich eher durch Zufall geraten, irgendwann sah ich den ersten Film und fand ihn eher mäßig. Dann musste ich die drei Romane „The Hunger Games“, „Catching Fire“ und „Mockingjay“ allerdings im Rahmen eines Uni-Seminars lesen und mich generell intensiver mit der ganzen Angelegenheit befassen. Selbstverständlich habe ich mir auch die noch ausstehenden Filme angesehen, die letzten beiden dann sogar im Kino, und eine faszinierende Entdeckung gemacht: Die Romane und die Filme werten sich gegenseitig auf. In mancher Hinsicht gelingt es den Filmen nicht, alle nötigen Informationen zu vermitteln, als Beispiel sei hier die symbolische Bedeutung des Mockingjay erwähnt, die in den Filmen nie wirklich erklärt wird. Vor allem aber ist Katniss in den Romanen wie in den Filmen eine sehr stoische Person, die so gut wie keine Gefühle nach außen dringen lässt. Die Romane kompensieren das durch ihre inneren Vorgänge, an denen sie die Leser teilhaben lässt, die Filme hingegen schaffen das nicht so recht. Andererseits gelingt es den Adaptionen allerdings, einige Schwächen der Vorlage auszugleichen, nicht zuletzt dank der hervorragenden Schauspieler und der Möglichkeit, den Fokus von Katniss zu lösen. Wie dem auch sei, als Suzanne Collins 2020 ein Prequel mit dem Titel „The Ballad of Songbirds and Snakes“ veröffentlichte, war ich erst einmal desinteressiert, auch wenn hier der Werdegang meiner Lieblingsfigur der ursprünglichen Trilogie erzählt wird. Die Rede ist natürlich von Präsident Snow, wobei dieser ohne Donald Sutherlands Darstellung wohl kaum diesen Status hätte. Prequels, die die Vergangenheit eines etablierten Schurken erzählen, sind nur selten gelungen oder erfolgreich, gerade in Romanform. Für jedes erfolgreiche Beispiel wie James Lucenos „Darth Plagueis“, das auch den Titel „Darth Sidious“ hätte tragen können, findet sich ein Roman wie „Hannibal Rising“ von Thomas Harris, der der Titelfigur eher schadet. Warum habe ich mich dann trotzdem entschlossen, den Roman zu konsumieren? Nun, zum einen kommt im Herbst die Verfilmung, die zumindest mit Viola Davis, Peter Dinklage, Jason Schwartzman und Rachel Zegler einen durchaus beeindruckenden Cast aufweisen kann. Und zum anderen ist mir die Hörbuchfassung mehr oder weniger in den Schoß gefallen, warum also nicht?

64 Jahre, bevor Katniss Everdeen zum Tribut für Distrik 12 wird, sind die Hungerspiele noch nicht das gewaltige Medienereignis, das das gesamte Kapitol in Atem hält, sondern dienen „nur“ der Bestrafung der Distrikte – die oberste Spielmacherin Dr. Volumnia Gaul möchte das allerdings ändern. Im Rahmen der zehnten Hunger-Spiele werden erstmals Schüler des Kapitols zu Mentoren der Tribute. Einer dieser Mentoren ist der 18-jährige Coriolanus Snow, der zwar über einen traditionsreichen Familiennamen, aber nicht über Geld verfügt. Zusammen mit seiner Cousine Tigress und seiner Großmutter lebt er in einem langsam verfallenden Penthouse. Coriolanus wird als Mentor des weiblichen Distrik-12-Tributes, eines 16-jährigen Mädchens namens Lucy Gray Baird bestimmt. Zuerst ist er deswegen verstimmt, gewinnen doch meistens die Tribute aus Distrikt 1 und 2, doch Lucy Gray, wie sie gemeinhin genannt wird, gelingt es, durch ihre Eigenwilligkeit Eindruck zu hinterlassen. Also entschließt er sich, sie so gut es ihm möglich ist durch die Spiele zu bringen und zur Siegerin zu machen. Und das nicht nur, weil er sich davon Vorteile für seine Zukunft verspricht, sondern auch, weil er beginnt, sich in Lucy zu verlieben. In gewissem Sinn konstruiert Collins den Handlungsaufbau von „The Ballad of Songbirds and Snakes“ als Spiegel des ersten Hunger-Games-Romans – und das nicht nur, weil wir dieses Mal einem Mentor statt einem Tribut folgen. Wo „The Hunger Games“ in Distrikt 12 beginnt und erst Katniss‘ Status Quo schildert, um ihr dann in die Hungerspiele zu folgen, beginnt das Prequel im Kapitol, während Distrikt 12 der Handlungsort der zweiten Hälfte ist. In bester George-Lucas-Manier („It rhymes“) greift Collins viele Handlungselemente, aber auch Symbole aus ihrem ursprünglichen Werk auf, um sie zu invertieren oder umzudeuten. Wie bei vielen derartigen Unterfangen gelingt das mal mehr, mal weniger gut.

Collins arbeitet in „The Ballad of Songbirds and Snakes” oft mit dramatischer Ironie, eben dadurch, dass das Prequel die ursprüngliche Geschichte widerspiegelt. In mancher Hinsicht wirkt Lucy Gray beispielsweise wie eine Kombination aus Katniss und Peeta. Zudem wird der Mockingjay, bereits in den anderen Romanen ein Symbol für etwas, das das Kapitol nicht kontrollieren kann, noch zusätzlich mit Bedeutung aufgeladen. Einerseits macht das Präsident Snows Handlungen in Bezug auf Katniss sehr viel nachvollziehbar: Alles, was mit diesem Mädchen zu tun hat, erinnert ihn aufs Empfindlichste an die einzige Person, die er wahrscheinlich jemals wirklich geliebt hat. Andererseits trägt Collins oftmals zu dick auf und die Parallelen bzw. Zufälle, die für diese verantwortlich sind, dehnen die Glaubwürdigkeit doch etwas zu sehr. Das ist eine typische Prequel-Krankheit, ganz nach dem Motto „Anakin hat C-3PO gebaut“. Dementsprechend gibt es inzwischen diverse Fantheorien, die etwa besagen, bei Präsident Coin handle es in Wahrheit um Lucy Gray Baird und die Hunger-Games-Trilogie ist ein extrem elaborierter Racheplan – was das Ganze allerdings auch nicht unbedingt besser machen würde. Da Collins es offen lässt, ob Lucy Gray den Roman überhaupt überlebt, musste man damit wohl rechnen.

Wie dem auch sei, nehmen wir unseren Protagonisten Coriolanus Snow einmal genauer unter die Lupe. Wie schon in der Hunger-Games-Trilogie bleibt Collins sehr nahe an der Hauptperson, als Leser erleben wir das komplette Geschehen durch Coriolanus‘ Augen, es gibt keine Szene, in der er nicht zugegen ist. Dennoch entschied sich Collins für etwas mehr Distanz: Wo Katniss als Ich-Erzählerin fungiert und die Romane dazu noch komplett im Präsens verfasst sind, um absolute Unmittelbarkeit zu vermitteln, ist Coriolanus nicht selbst der Erzähler seiner Geschichte und sie ist im Präteritum gehalten. Collins Schreibstil ist grundsätzlich sehr einfach und flüssig gehalten (allerdings bei Weitem nicht so simpel wie der von Stephenie Meyer), das durchgehend Präsens kann aber etwas irritieren. Aus diesem Grund fand ich persönlich „The Ballad of Songbirds and Snakes“ von allen vier Hunger-Games-Romanen am leichtesten konsumierbar. Was die Charakterisierung ihres Schurken in jungen Jahren angeht, bemüht sich Collins, ihn nicht zum reinen Psychopathen bar jeder Empathie á la Palpatine/Darth Sidious oder Tom Riddle/Voldemort zu machen – man fühlt sich eher an Anakin Skywalker (gerade was die Romanze angeht) oder, zumindest in Ansätzen, Michael Corleone erinnert. Vor allem in der ersten Hälfte des Romans zeichnet Collins Coriolanus‘ Entwicklung durchaus nachvollziehbar und gelungen. Sobald die Hungerspiele allerdings vorüber sind und Coriolanus zur Strafe, weil er Lucy Gray durch unlautere Mittel zum Sieg verholfen hat, als Friedenswächter in Distrikt 12 tätig werden muss, überschlagen sich die Ereignisse regelrecht. Es wirkt, als hätte Collins entweder sich selbst auferlegt, die Geschichte in einem Buch zu erzählen, oder der Verlag habe es angeordnet (was ich allerdings nicht glaube). Jedenfalls ist Coriolanus am Ende fast schon die vollkommen rücksichtslose Person, die später Panem regieren sollte, die Nuancen der ersten Hälfte verliert er in Distrikt 12 sehr schnell. Ich denke, ein mehrbändiger, gradueller Fall zur „Dunklen Seite“ wäre deutlich effektiver gewesen, mich hätte durchaus interessiert, wie Coriolanus Snow beginnt, in der Politik Panems zu agieren. Möglicherweise plant Collins ja noch weitere Romane um Coriolanus Snow, aber zumindest bezüglich seiner Entwicklung ist das Meiste schon gesagt – mit einem vielversprechenden Anfang, aber einem eher ernüchternden Ende. Dieses ist insgesamt sehr enttäuschend und fühlt sich, inklusive der „Damnatio Memoriae“ Lucy Grays, sehr unbefriedigend an.

Zumindest was Coriolanus‘ politische Philosophie angeht, lässt sich eine sehr eindeutige Inspiration feststellen: Thomas Hobbes‘ und sein Werk „Leviathan“. Der Name des Philosophen wird zwar nicht genannt, aber mehr als einmal wird fast aus „Leviathan“ zitiert. Volumnia Gaul, die eher dem Psychopathenarchetyp entspricht, fungiert als Mentorin und Vermittlerin der Philosophie, die Präsident Snow dann so konsequent verinnerlicht. Auch fallen Coriolanus‘ Gedankengänge, gerade in der zweiten Hälfte des Romans, leider recht plakativ aus. Auch mit ihren Metaphern, die nicht nur den Titel des Romans bestimmen, sondern zwischen Metapher und tatsächlichem Handlungselement konstant hin und her wechseln, geht Collins‘ nicht unbedingt subtil um. Im Grunde ist Lucy Gray die Vereinigung von Singvogel und Schlange.

Die interessantesten Aspekte des Romans sind tatsächlich die Hungerspiele selbst – nicht ihr Ablauf, dieser ist bedingt durch die Zuschauerrolle, die man als Leser gemeinsam mit dem Protagonisten einnimmt, eher mäßig mitreißend, aber ihre Konzeption, praktisch ihre Rohform. Die Hungerspiele zehn Jahre nach dem Ende des Krieges sind noch nicht das mediale Großereignis, die Entwicklung dorthin wird hier aber durch Gaul und Coriolanus in Gang gesetzt. Tatsächlich scheinen die Hungerspiele den Kapitol- und Distriktbewohnern bis zu diesem Zeitpunkt noch relativ egal gewesen zu sein; wo die Tribute in „The Hunger Games“ regelrecht aufpoliert und gemästet werden, überlässt man sie sich in der Anfangszeit der Spiele praktisch sich selbst, mit dem Risiko, dass sie verhungern. Wetten, Mentoren und ähnliche Elemente werden bei diesen zehnten Spielen erst eingeführt. Ähnliches lässt sich auch über das Kapitol selbst sagen: Noch ist die Hauptstadt Panems weit von der Dekadenz entfernt, die Katniss später so sehr abstößt. Stattdessen kämpfen viele Familie mit den anhaltenden Folgen der Rebellion, sodass Coriolanus und die Seinen zwar in einem noblen Penthouse wohnen, aber fast in gleichem Maße hungern müssen wie Katniss und ihre Familie viele Jahrzehnte später. Gewissermaßen teilt sich der Roman in drei Teile: Prä-Hungerspiele, Hungerspiele und Post-Hungerspiele. Jeder Teil ist deutlich schwächer als der vorangegangene, somit haben wir einen ziemlich starken Anfang, einen ordentlichen, aber eher mäßigen Mittelteil und einen ziemlich unbefriedigenden Abschluss.

Fazit: Obwohl „The Ballad of Songbirds and Snakes” durchaus zu unterhalten weiß, einen interessanten Einblick in die Entwicklung der Hungerspiele gewährt und über einen vielversprechenden Anfang verfügt, leidet die Vorgeschichte an vielen typischen Prequel-Krankheiten und, mehr noch, an einem äußerst überhasteten und enttäuschenden Ende. Suzanne Collins versucht, aus Coriolanus Snow eine sehr komplexe Schurkenfigur zu machen, ist dabei aber nicht immer erfolgreich, gerade bezüglich der finalen Wandlung. Man darf gespannt sein, ob die Filmadaption es schaffte, die Vorlage aufzuwerten oder ob sie an ihren Schwächen scheitert.

Bildquelle

Siehe auch:
The Hunger Games
Catching Fire
Mockingjay Part 1
Mockingjay Part 2
The Hunger Games: Horn of Plenty vs. The Hanging Tree
Darth Plagueis

Ein Gedanke zu “The Ballad of Songbirds and Snakes

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