Lovecrafts Vermächtnis: Der Cthulhu-Mythos

cthulhu
Dieser Artikel ist der Start einer neuen Reihe, die sich gezielt mit den Erben H. P. Lovecrafts auseinandersetzt, also mit Autoren, die sein Werk direkt oder indirekt fortsetzen, Film-, Comic- und Serienschaffenden, die seine Werke adaptieren oder von ihnen zumindest inspiriert wurden etc. Zum Start der Reihe möchte ich mich noch einmal mit dem so genannten „Cthulhu-Mythos“ auseinandersetzen, da dies nicht nur ein zentrales Element in Lovecrafts Œuvre ist, sondern auch eines, das häufig missverstanden wird. Das habe ich im Rahmen meines Necronomicon-Artikels zwar schon einmal in Ansätzen getan, gerade als Start für diese Artikelreihe bietet es sich jedoch noch einmal an.

Im engeren Sinn handelt es sich bei dem Begriff „Cthulhu-Mythos“ um den Versuch, einige von Lovecrafts Geschichten zu kategorisieren. In den Erzählungen des Schriftstellers aus Providence tauchen immer wieder verknüpfende Elemente auf: Fiktive neuenglische Städte wie Arkham oder Innsmouth, okkulte Bücher mit verbotenem Wissen wie das Necronomicon und übermächtige außerirdische Götter wie Cthulhu, Yog-Sothoth oder Azathoth. Vor allem Letztere sind für den „Cthulhu-Mythos“ von Bedeutung. Theoretisch gehören zu diesem alle Geschichten Lovecrafts, die sich mit dem Mythos-Entitäten beschäftigt. So weit, so gut. Nun ist allerdings zu beachten, dass Lovecrafts selbst den Begriff „Cthulhu-Mythos“ nicht nur nicht verwendete, er nahm die ganz Angelegenheit nicht allzu ernst. Anders als etwa J. R. R. Tolkien ging es Lovecraft nie darum, eine umfassende, in sich geschlossene Kunstmythologie zu schaffen, sie war eher ein Hintergrundelement, eine Spielerei und ein Ausdruck von Lovecrafts Philosphie des Kosmizismus, die eine wichtige Rolle in seinem Gesamtwerk spielt und ein Horror-Subgerne, den „Kosmischen Horror“ begründete. Der Kosmizismus geht davon aus, dass der Mensch als Individuum und als Spezies völlig insignifikant ist. Sollte es tatsächlich höhere bzw. außerirdische Mächte geben, so sind diese weit jenseits des menschlichen Verständnisses. Lovecraft nutzte seine Götter, um dies auszudrücken; er schuf dabei nicht nur eine lose zusammenhängende Kunstmythologie, er dekonstruierte sie zugleich auch; vor allem in seinen späteren Geschichten wie „At the Mountains of Madness“. Dabei sah er Cthulhu keinesfalls als zentrale Entität (er sprach einmal scherzhaft von seiner Mythenschöpfung als „Yog Sothothery“), noch kümmerte er sich um eine einheitliche Kanonisierung. Der Mythos musste sich immer den Geschichten anpassen und nicht umgekehrt, sodass es durchaus auch zu Widersprüchen kommen konnte.

Darüber hinaus wurde der Mythos durch einige besondere Umstände gefördert: Lovecraft ermutigte einige Freunde und Mitautoren (gerne als „Lovecraft Cycle“ bezeichnet) dazu, sich Elemente aus seinen Geschichten „auszuborgen“. So tauchten das Necronomicon oder die fremdartigen Götter auch bei Autoren wie Robert E. Howard, Clark Ashton Smith oder Robert Bloch auf, während Lovecraft seinerseits Anspielungen an die Geschichten seiner Freunde in seinen Werken unterbrachte, etwa Howards „Von unaussprechlichen Kulten“, ein weiteres Buch mit gefährlichem Wissen.

Letztendlich ist es jedoch August Derleth, auf den der Begriff „Cthulhu-Mythos“ zurückgeht. Derleth war ein Brieffreund Lovecrafts, der ebenfalls Geschichten schrieb und sich letztendlich als Nachlassverwalter seines Freundes sah. Nach Lovecrafts Tod gründete Derleth den Verlag Arkham House; letztendlich ist es sein Verdienst, dass viele Geschichten Lovecrafts überhaupt erst publiziert und einem größeren Publikum bekannt wurden. Allerdings ist Derleth auch für eine Verzerrung von Lovecrafts ursprünglichen Konzepten verantwortlich. Anders als der Atheist Lovecraft war Derleth Katholik und interpretierte die Geschichten seines Freundes als Kampf des Guten gegen das Böse. Er versuchte, dem, was er als „Cthulhu-Mythos“ bezeichnete, feste Strukturen zu geben, er ordnete die Gottheiten verschiedenen Elementen zu und stellte den Großen Alten bzw. Äußeren Göttern gute „Ältere Götter“ gegenüber, die in dieser Form nie bei Lovecraft auftauchten und absolut nicht zu seiner Philosophie passten. Darüber hinaus schrieb Derleth eine ganze Reihe eigener Mythos-Geschichten und publizierte in seinem Verlag viele weitere Werke, die seiner Interpretation von Lovecraft entsprachen; vor allem die von Brian Lumley verfassten Erzählungen sind erwähnenswert.

Es zeigt sich also, dass der Begriff „Cthulhu-Mythos“ in vielerlei Hinsicht problematisch ist. Nicht nur ist er nicht korrekt, da Cthulhu weder der zentrale, noch der mächtigste Gott aus Lovecrafts Pantheon ist, er repräsentiert auch August Derleths Philosophie, die der Lovecrafts und des eigentlichen kosmischen Horrors diametral entgegengesetzt ist – aus diesem Grund schlug der Lovecraft-Forscher Dirk W. Mosig als Alternative und zur Abgrenzung von Derleth den Begriff „Yog-Sothoth-Mythos“ vor. Es gibt allerdings noch ein weiteres, viel praktischeres Problem: Welche Geschichten Lovecrafts sind denn nun Teil des wie auch immer bezeichneten Mythos? Bei manchen ist die Antwort eindeutig, aber einige seiner Geschichten fallen in eine Grauzone. Die Stadt Arkham etwa ist ein Element, das häufig in eindeutigen Mythos-Geschichten auftaucht, aber auch in „Herbert West, Re-Animator“ oder „The Colour out of Space“ – beide haben keine direkten Bezüge zu den Lovecraft’schen Gottheiten. Auch das Necronomicon gilt als Grimoire mit Mythosverbundenheit, taucht aber in Erzählungen wie „The Hound“ oder „The Festival“ auf, die ebenfalls keine Verweise auf die Mythos-Götter haben. Und dann wären da noch die Geschichten des sog. „Dreamland Cycle“, die sich atmosphärisch stark von der typischen Mythos-Geschichte unterscheiden, in denen aber immer wieder Mythos-Götter wie Nyarlathotep auftauchen.

Ich werde in Zukunft dennoch, wenn nötig, „Cthulhu-Mythos“ als Oberbegriff verwenden, ganz einfach, weil er sich nach all den Jahrzehnten festgesetzt hat und den größten Widererkennungswert besitzt. Erfreulicherweise bedeutet das nicht, dass Derleths Deutung des Mythos die vorrangige ist, im Gegenteil. In der Zwischenzeit sind Autoren, die sich der Elemente und Konzepte Lovecrafts annehmen, in weitaus größerem Maße zur ursprünglichen Philosophie des Schriftstellers aus Providence zurückgekehrt und bemühen sich, tatsächliche Kosmische Horrorgeschichten zu schreiben. Die Menge an Geschichten, die Elemente aus Lovecrafts Werk entlehnen, sind inzwischen unüberschaubar, tatsächlich scheint fast jeder Autor, der im Horror oder den anderen phantastischen Genres tätig ist, irgendwann einmal eine Cthulhu-Geschichte geschrieben zu haben. Dazu zählen neben den bereits erwähnten wie Lumley, Smith oder Bloch auch große Namen wie Stephen King, Kim Newman, Neil Gaiman, Wolfgang Hohlbein, Alan Moore und, und, und…

Natürlich gibt es nach wie vor genug Autoren, die sich, bewusst oder unbewusst, eher an Derleths Interpretation anlehnen, weshalb im modernen, von TV Tropes geprägten Jargon eine Distinktion vorgenommen wurde: In der klassischen, von Lovecraft geprägten Kosmischen Horrorgeschichte ist das Ende hoffnungslos und der Protagonist wird von der Erkenntnissen zumeist in den Wahnsinn getrieben. Eine Geschichte, die dagegen Hoffnung oder ein Sieg der Menschen gegen die übermächtigen, außerirdischen Götter zulässt, wird gerne als „Lovecraft Lite“ bezeichnet. Es sollte jedoch hinzugefügt werden, dass eine Geschichte dieser Art natürlich nicht prinzipiell etwas schlechtes ist, Lovecraft selbst ließ hin und wieder menschliche Triumphe zu, etwa in „The Dunwich Horror“. Letztendlich kommt es immer darauf an, wie die Geschichte erzählt ist – für Geschichten des „Cthulhu-Mythos“ gilt das genauso wie für alle anderen auch.

6 Gedanken zu “Lovecrafts Vermächtnis: Der Cthulhu-Mythos

  1. Wow! Sehr informativer Artikel. Ich steige ja noch in die Materie ein, aber während des Hörens der Hörbücher kam mir auch öfter der Gedanke wie man abgrenzen soll zu welchen Themenkomplexen (Cthulhu, Necronomicon) denn die Geschichte nun gehört oder nicht gehört. V.A. im Zusammenhang mit Geschichten die in dem Necronomicon-zentrierten Hörbuch auftauchen, aber keine Erwähnung dessen enthalten. Da gibt es wohl jede Menge Freiheitsgrade…

    1. Danke, freut mich, hilfreich zu sein.
      Die Abgrenzung ist tatsächlich nicht leicht, Lovecraft selbst hat das selbst ja auch nicht getan. Ohnehin ist sein Werk thematisch in sich relativ kohärent, sodass selbst Geschichten, die zumindest nicht inhaltlich zum „Cthulhu-Mythos“ passen, doch zumindest ein ähnliches Gefühl bzw. ein ähnliches kosmisches Grauen erwecken.

  2. Stefan H.

    Klasse Artikel, danke! Wie Sie schon schreiben, ist die Menge der Geschichten inzwischen unüberschauber geworden. Haben Sie eine Empfehlung, was man lesen könnte/sollte, wenn man eher den „klassischen Lovecraft“ sucht und weniger Derleths Interpretation folgen möchte?
    Tausend Dank vorab!!

    1. Danke, freut mich, dass der Artikel gefällt. Grundsätzlich würde ich mich eher von den Geschichten fernhalten, die in den ersten Jahrzehnten nach Lovecrafts Tod geschrieben wurden, da Derleth bei diesem zum großen Teil seine Finger im Spiel hatte und sie herausgegeben hat. Das bedeutet natürlich nicht, dass diese Geschichten pauschal alle schlecht wären, aber die Derleth’sche Interpretation ist da am stärksten. Empfehlen kann ich zum Beispiel die Anthologie „Schatten über Innsmouth“ vom Festa-Verlag, die sehr schön zeigt, wie eine Lovecraft-Geschichte thematisch und inhaltlich von vielen Autoren über die Jahrzehnte hinweg aufgegriffen und weiter verarbeitet wurde. Meine persönlich Cthulhu-Lieblingsgeschichte, die nicht von Lovecraft stammt, ist „Ein Portrait Torquemadas“ von Christian von Aster, erschienen in der Anthologie „Der Cthulhu-Mythos 1976-2002“. Sehr zu empfehlen ist auch das Hörbuch „Der Cthulhu-Mythos“, in dem einige Geschichten aus besagter Anthologie und dem Vorgängerband („Der Cthulhu-Mythos 1917-1975″) vertont wurden, darunter auch besagte Geschichte von Christian von Aster“.

      1. Stefan H.

        Super. Vielen Dank für die Tipps! Das Hörbuch und die Anthologie „Schatten über Innsmouth“ sind bestellt. Die Anthologie „Der Cthuluhu. Mythos“ kommt mal zum Geburtstag oder Weihnachten dazu. Ist vom ersten Band (1917 -1975) denn generell abzuraten? Oder ist der lesenswert, man muss aber Derleth „in Kauf nehmen“?

      2. Generell ist vom ersten Band eigentlich nicht abzuraten. Er enthält eine Geschichte, die ich überhaupt nicht mag („Warum Abdul Al Hazred dem Wahnsinn verfiel“ von D. R. Smith, diese findet sich auch auf dem Hörbuch, ist dort in meinen Augen der einzige „Stinker“), aber davon abgesehen finden sich dort auch gute Geschichten, halt aus der Frühzeit, zum Teil bevor Derleths Interpretation überhaupt erst „salonfähig“ wurde. Robert E. Howards „Der schwarze Stein“ finde ich zum Beispiel toll (auch diese findet sich in der Hörbuchversion). Eine Derleth-Geschichte ist dabei („Der Windläufer“), an deren Inhalt ich mich aber beim besten Willen nicht mehr erinnern kann 😉

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