Art of Adaptation: Die Nibelungen (Roman Wolf)

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Während Hollywood alle paar Jahre eine, meistens zum Scheitern verurteilte, Neuadaption der Geschichten um Robin Hood oder König Artus herausbringt und selbst die Sagen der griechischen Mythologie es immer wieder auf die Leinwand schaffen, sind Filme, die den Nibelungenstoff, praktisch das deutsche Gegenstück, umsetzen, äußerst rar geworden. Die letzte Produktion, an die ich mich erinnern kann, war der zweiteiliger Fernsehfilm „Die Nibelungen“ aus dem Jahr 2004; Regie führte Uli Edel, Benno Fürmann spielte Siegfried, Kristanna Loken Brunhild und ein Prä-Harry-Potter Robert Pattinson war als Giselher zu sehen. Trotz der Namensgleichheit ist dieser Zweiteiler allerdings nicht Sujet dieses Artikels, denn im Gegensatz zu Filmemachern greifen Autoren nur allzu gerne auf den Nibelungenstoff zurück – schließlich müssen sie sich nicht mit Budgetfragen beschäftigen. Die neueste Prosadaption des Stoffes ist der Romanerstling des Berliner Autoren Roman Wolf und zugleich auch der Grund, weshalb ich mich aktuell mal wieder mit dem Sagenkomplex beschäftige.

Konzept und Handlung
Bei einer Adaption des Nibelungen-Stoffes gibt es eine Reihe von Ansätzen, die man als Autor verfolgen kann. Der amerikanische Schriftsteller Stephan Grundy konzentriert sich in seinem Roman „The Rhinegold“ (1992) beispielsweise auf die nordische Version der Sage, während Wolfgang Hohlbein die ganze Angelegenheit in seinem Frühwerk „Hagen von Tronje“ (1986) aus der Sicht des vermeintlichen Schurken schildert. Roman Wolf hingegen orientiert sich sehr stark am „Nibelungenlied“, dem mittelalterlichen Versepos, bemüht sich aber, die Anachronismen auszumerzen. Technisch gesehen spielt das „Nibelungenlied“ während der Zeit der Völkerwanderung, was sich allein an der Präsenz Attilas des Hunnen (alias Etzel) zeigt. Der ursprüngliche Sagenstoff oder die historische Grundlage (die zu erläutern deutlich zu viel Platz einnehmen würde, nicht zuletzt, da es hier ebenso viele unbestätigte Vermutungen wie Kontroversen gibt) stammt wohl aus der Zeit der Völkerwanderung und entwickelte sich in verschiedene Richtungen. Während die nordischen Versionen, etwa die Völsunga saga oder die Thidrekssaga, noch mit „heidnischer Mythologie“ verknüpft sind, ist das „Nibelungenlied“ christianisiert und zeigt Worms, den primären Handlungsort, als mittelalterlich-höfische Welt. Diesen Umstand „korrigiert“ Wolf: Die Handlungsentwicklung ist dieselbe wie im „Nibelungenlied“ (mit diversen Anpassungen und Abänderungen, versteht sich), aber wir haben es mit einem eindeutig spätantiken Setting in der frühen Völkerwanderungszeit zu tun, inklusive eines Subplots, in dem ein schwächer werdendes und inzwischen christianisiertes römisches Imperium eine Rolle spielt. Dieser hat im Gesamtkontext des Romans zwar nur eine relativ geringe Bedeutung, sorgt aber sofort für eine völlig andere Zuordnung.

Davon abgesehen verlässt Wolf selten die vertrauten Handlungselemente: Siegfried von Xanten besiegt zu Beginn einen Drachen und bringt einen gewaltigen Schatz an sich, landet nach weiteren Abenteuern in Worms, verliebt sich in die königliche Schwester Kriemhild und hilft dem Burgundenherrscher Gunther dabei, die enigmatische Brunhild als Ehefrau zu gewinnen, die nur den heiratet, der sie besiegt, was Siegfried unter Vorspiegelungen falscher Tatsachen für Gunther erledigt. Dies wiederum führt zum Konflikt zwischen Kriemhild und Brunhild, während der intrigante Berater Gunthers, Hagen von Tronje, einen Weg sucht, um an den Schatz zu kommen. Er nutzt die Intrige um Brunhilds Brautwerbung, um Siegfried anzuklagen und ihn schließlich zu töten. Daraufhin schwört Kriemhild, inzwischen Siegfrieds Ehefrau (bzw. Witwe), Rache. Zu dieser verhilft ihr Jahre später Attila, der ihr zweiter Ehemann wird: Ihre Verwandtschaft wird an Attilas Hof geladen, und was als Feier beginnt, artet zum brutalen Gemetzel aus, das kaum eine Figur überlebt. Diese knappe Handlungszusammenfassung (eine ausführlichere Besprechung des Versepos findet sich hier im Wissenstagebuch) funktioniert sowohl für Wolfs Roman als auch für das Versepos. In einem Roman wie „Die Nibelungen“ kommt es weniger darauf an, was passiert, die Handlung ist schließlich bereits seit vielen Jahrhunderten bekannt, sondern wie es passiert und wie Wolf den Plot und die Figuren interpretiert. Im Großen und Ganzen inszeniert er die Geschichte als historischen Roman, während fantastische und mythische Elemente kaum eine Rolle spielen.

Stilistisch ist der Roman insgesamt recht geerdet und angenehm, nicht unbedingt allzu anspruchsvoll und ohne größere Experimente, aber auch nicht zu simpel. Ein Aspekt, der mich allerdings doch ein wenig gestört hat, ist der Umstand, dass Wolf recht häufig die Perspektive wechselt und recht abrupt vom Kopf des einen Charakters in den des nächsten „springt“. Das ist freilich persönliche Präferenz, ich ziehe diesbezüglich eine stärkere Separierung, bspw. durch Kapitel vor und finde es auch besser, wenn es eine Reihe von Figuren gibt, deren Gedanken man als Leser nicht kennt. Vielleicht bin ich da zu sehr durch George R. R. Martin und seine PoV-Kapitel in „A Song of Ice and Fire“ geprägt. Apropos George R. R. Martin, da ich den Roman in Hörbuchform konsumiert habe, hat er bei mir durchaus ASoIaF-Vibes ausgelöst, da Reinhard Kuhnert als Sprecher fungiert. Kuhnert ist praktisch Martins deutsche Hörbuchstimme und hat neben ASoIaF sowie den diversen Zusatzwerken auch „Tuf Voyaging“ (dt. Titel „Der Planetenwanderer“) und „Fevre Dream“ eingelesen.

Magie und Mythos
Wie erwähnt ist „Die Nibelungen“ primär als historischer Roman konzipiert. Die größte Ausnahme ist der Drache, dem Siegfried seinen Titel als Drachentöter verdankt. Besagter Drache spielt vor allem in den nordischen Versionen und in Wagners Opernzyklus „Der Ring des Nibelungen“ eine wichtige Rolle. Dort trägt er den Namen Fafnir bzw. Fafner und ist zumeist ein Riese, der sich aus dem einen oder anderen Grund in einen Drachen verwandelt. Im „Nibelungenlied“ ist der Drache hingegen lediglich Teil von Siegfrieds Vorgeschichte, gehört aber nicht zur eigentlichen Handlung. Zu Beginn des Werkes ist er bereits durch Siegfrieds Hand gefallen, bleibt namenlos und spielt auch keine Rolle mehr. Wolf setzt mit der Handlung früher ein als das Versepos, sodass die Drachentötung und Schatzgewinnung eines der Eröffnungsereignisse des Romans ist, mit den Hintergründen der Kreatur oder selbst ihrem Aussehen beschäftigt er sich allerdings nicht groß und bleibt sehr vage. Ähnlich verhält es sich mit Siegfrieds Unverwundbarkeit und der Tarnkappe; Erstere kommt hier nicht vom Bad im Drachenblut, sondern von einer Rüstung, die vielleicht übernatürlich ist, vielleicht auch nicht, aber definitiv am Rücken eine Schwachstelle hat, während die „Tarnkappe“ lediglich ein das Gesicht verbergender Helm ist, mit dem Brunhild getäuscht wird.

Die heidnischen Götter spielen, anders als im „Nibelungenlied“, durchaus eine gewisse Rolle, bei weitem aber nicht dieselbe wie in Wagners „Ring des Nibelungen“ als handelnde Personen. Stattdessen inszeniert Wolf hier einen Konflikt zwischen alter und neuer Religion, zwischen dem Glaube an Wodan, Donar und die germanischen Götter auf der einen und dem von Rom gebrachten, noch jungen Christentum auf der anderen Seite. Siegfried, die Xantener und auch Brunhild und die Ihren sind Anhänger der alten Götter, während die Burgunder sich im Zwiespalt befinden, Kriemhild und ihre Mutter Ute haben das Christentum angenommen, viele andere Burgunder hängen aber noch dem alten Glauben an, was immer wieder zu Konflikten führt, mit denen sich Gunther und seine Brüder auseinandersetzen müssen. Diesem Konflikt wird vor allem zu Beginn eine größere Rolle zugewiesen, mit fortschreitender Handlung tritt er allerdings immer weiter in den Hintergrund.

Siegfried und Brunhild
In den nordischen Versionen der Nibelungensage spielt Siegfrieds Familie eine nicht zu unterschätzende Rolle, die Völsunga saga ist gar nach seinem Geschlecht, den Völsungen bzw. Wölsungen bzw. Wälsungen (es existieren sehr viele Schreibweisen) benannt. Dort fungiert Odin persönlich als Stammvater, die Linie setzt sich mit den mythischen Königen Sigi und Rerir fort, Rerirs Sohn (und damit Odins Urenkel) ist schließlich der namensgebende Wölsung, dessen Sohn Sigmund wiederum Vater des Drachentöters Sigurd, der nordischen Version von Siegfried ist. Wagner dampfte diesen umfassenden Stammbaum ein, machte aus Odin bzw. Wotan und Wälse (also Wälsung) dieselbe Person, sodass nun Siegmund (bei Wagner in der Schreibweise des „Niebelungenlieds“) der Sohn des Göttervaters ist. Dessen drei andere Söhne werden aus der Geschichte getilgt, nicht aber der Inzest, den Sigmund mit seiner Zwillingsschwester Signey (bei Wagner Sieglinde) begeht – nur dass in der Völsunga saga nicht Sigurd, sondern Sinfiötli aus dieser Verbindung hervorgeht. Lange Rede, kurzer Sinn, in „Die Nibelungen“ spielt das alles keine Rolle, Siegmund und Sieglinde sind wie im „Nibelungenlied“ das Herrscherpaar von Xanten und spielen nach dem Anfang des Romans keine große Rolle mehr. Ein Element, das dagegen eine sehr große Rolle spielt, ist die Beziehung zwischen Siegfried und Brunhild, bei der sich Wolf eher an der nordischen Auslegung bzw. Wagner orientiert.

Im „Nibelungenlied“ bleibt es sehr vage, ob Siegfried und Brunhild, die hier Königin von Island ist, eine wie auch immer geartete Vorgeschichte haben, zweifellos weiß Siegfried mehr über sie als Gunther und seine Mannen, hat jedoch anscheinend kein Problem damit, Gunther dabei zu helfen, sie in einer Reihe von Wettkämpfen zu besiegen. In den nordischen Quellen und bei Wagner hingegen ist Brunhild eine Walküre und hat eine Beziehung mit Siegfried, bevor ihn Gunther (bzw. ähnlich konzipierte Figuren) dazu bringen, die Angebetete mithilfe eines Zaubertranks zu vergessen. Auf diese Weise entsteht die noch deutlich problematischere Variante, in der Brunhild (ihrer Sicht nach) von ihrer großen Liebe verraten wird. Im „Nibelungenlied“ hingegen ist es primär eine Statusfrage und keine derart persönliche Angelegenheit. In keiner dieser Versionen kommt Siegfried besonders gut weg, aber es gibt doch immer zumindest gewisse mildernde Umstände, entweder fehlt die Beziehung zu Brunhild, oder aber Siegfried wird per Zaubertrank bearbeitet. Wolf entscheidet sich in „Die Nibelungen“ dafür, Siegfried die volle Bürde aufzuladen: Nicht nur hat er zuerst eine Beziehung zu Brunhild, bevor er sich nach Worms begibt, ihm wird auch kein magischer Trank verabreicht, stattdessen betrügt er seine Angebetete mit Kriemhild und wird anschließend von Gunther erpresst.

Brunhild ist hier weder eine Walküre noch Königin von Island, sondern stattdessen Herrscherin des Suavawaldes, der laut Nachwort des Romans im Harz liegt. Mehr noch, sie posiert als ihre eigene (nicht existente) Zwillingsschwester, um ihrer heimlichen Leidenschaft, dem Schmieden nachgehen zu können. In dieser Funktion ist sie für die Erschaffung von Siegfrieds Schwert und seiner Rüstung verantwortlich. Dies kann als Anspielung auf Wagner verstanden werden, dort ist es ebenfalls nicht das Drachenblut, das Siegfried unverwundbar macht, sondern Brunhilds Zauberkraft. Um ihre Gunst zu gewinnen, muss Gunther sie, anders als im „Nibelungenlied“, nicht in einer Reihe von Wettkämpfen, in welchen ihm der durch die Tarnkappe unsichtbare Siegfried unter die Arme greift, sondern im Zweikampf besiegen. Auch der zweite Kampf gegen Brunhild wird in „Die Nibelungen“ deutlich anders inszeniert als im „Nibelungenlied“, in welchem diese sich nach der Hochzeit mit Gunther weigert, die Ehe zu vollziehen. So muss Siegfried mit Tarnkappe erneut Brunhild bändigen, damit Gunther sie entjungfern kann, wodurch sie letztendlich ihre übernatürliche Stärke verliert. Da Siegfried Brunhild Gürtel und Ring abnimmt, um sie später Kriemhild zu schenken, entsteht das Gerücht, in Wahrheit habe Siegfried, nicht Gunther die Ehe vollzogen. Eine derartige Handlungsentwicklung wird inzwischen freilich als recht problematisch wahrgenommen, weshalb Wolf zwar eine ähnliche Situation schafft, Brunhild dabei aber nicht nur deutlich aktiver agieren, sondern sie überhaupt die Bedingungen dafür diktiert lässt, dass sie die brave Ehefrau spielt.

Kriemhilds Rache
Zwar wird gemeinhin Siegfried als Protagonist des „Nibelungenlieds“ wahrgenommen, das ist jedoch eine Fehleinschätzung, schließlich stirbt er bereits in der Mitte des Werkes. Die eigentliche Hauptfigur ist Kriemhild, nicht nur ist sie im zweiten Teil diejenige, die gnadenlos die Handlung vorantreibt, sie ist auch die Figur, die als erste, direkt in der ersten Aventiure vorgestellt wird, während Siegfried erst in der zweiten auftaucht. Ein zentrales Element des „Nibelungenlieds“ ist die Parallelentwicklung von Kriemhild und Brunhild. Kriemhild beginnt als fest in der höfischen Welt verwurzelte Figur, die Gewöhnliche, die Unspektakuläre, im Vergleich zu Brunhild, der übernatürlichen und exotischen Außenseiterin. Nachdem Brunhild allerdings zwei Mal besiegt wird, wird sie erst Teil der höfischen Welt und versinkt nach Siegfrieds Tod in der Bedeutungslosigkeit. Im zweiten Teil des Versepos spielt sie keine Rolle mehr, während Kriemhild sich zum Racheengel entwickelt, die höfische Welt verlässt, Etzel/Attila zu ihrem Werkzeug macht und schließlich ein Massaker an ihren Anverwandten, denen sie nicht zu Unrecht die Schuld an Siegfrieds Tod gibt, inszeniert. Diese doch sehr krasse Parallelentwicklung ist ein Element, das Wagner beispielsweise überhaupt nicht interessiert, weshalb seine Versionen von Brunhild und von Kriemhild (die in der „Götterdämmerung“ den Namen Gutrune trägt) sie auch nicht durchmachen, stattdessen ist und bleibt Brunhild die zentrale Weibliche Figur der Opern-Tetralogie – und das, obwohl sie im „Rheingold“ nicht einmal auftaucht. Wolf schien diese Parallelentwicklung wohl ebenfalls ein wenig zu krass bzw. zumindest für ein modernes Publikum zu unbefriedigend. Während sich Kriemhild in „Die Nibelungen“ ziemlich genauso entwickelt wie im Versepos, räumt Wolf Brunhild doch ein wenig mehr Platz ein, zeigt auf, wie sie sich nach Siegfrieds Tod als Figur entwickelt und gewährt ihr gewissermaßen das letzte Wort mit einem Epilog, der an Brunhilds finale Szene im „Ring des Nibelungen“ erinnert.

Obwohl es falsch wäre zu sagen, dass Wolf die zweite Hälfte des „Nibelungenlieds“ stiefmütterlich behandelt, fällt doch auf, dass er ihr und Kriemhilds Rache deutlich weniger Platz einräumt, als es bei der ersten Hälfte der Fall war. Zwar ist Kriemhild auch hier ohne Zweifel die eigentliche Hauptfigur des gesamten Romans, zugleich scheint es aber, als habe ihn die erste Hälfte des Versepos deutlich mehr interessiert als die zweite. Dies zeigt sich nicht zuletzt an den Ausgestaltungen und Eigeneinfällen, die in diesem Teil des Romans deutlich spärlicher ausfallen. Auffällig ist zudem, dass Wolf aus historischen Gründen auf den gemeinhin mit dem Ostgotenkönig Theoderich gleichgesetzten Dietrich von Bern verzichtet, der im „Nibelungenlied“ beim finalen Massaker zugegen ist. Gewissermaßen als Ersatz ist der römische Heermeister Flavius Aëtius präsent, der als Hauptrepräsentant des römischen Subplots fungiert.

Zum Abschluss noch eine Beobachtung bezüglich des Romantitels: Die Bedeutung des Wortes „Nibelungen“ bzw. die Identität besagter Gruppe ändert sich von Version zu Version, mal ist die Rede von einer familiären Abstammung, im „Nibelungenlied“ ist König Nibelung beispielsweise der ursprüngliche Besitzer des Nibelungenschatzes, seines Nachkommen sind dementsprechend die Nibelungen. Zumeist handelt es sich bei den Nibelungen um übernatürliche Wesen, primär Zwerge, gerne werden aber auch die Gibichungen, also Gunther, Hagen und Co. in letzter Konsequenz als Nibelungen identifiziert. Im Roman, der diesen Namen trägt, handelt es sich bei den Nibelungen allerdings nur um Brunhilds Leibgarde, deren Anführer den Namen Nibel trägt, weshalb seine Mannen als Nibelungen bezeichnet werden. Diese Konstruktion erscheint mit persönlich ein wenig antiklimatisch.

Fazit: In seinem Roman „Die Nibelungen“ inszeniert Roman Wolf das „Nibelungenlied“ als historischen Roman, der fest in der Zeit der Völkerwanderung verwurzelt ist. Dabei folgt er dem Plot des mittelalterlichen Versepos recht genau, nimmt aber größere und kleinere Feinjustierungen an den Figuren vor, um diese einem modernen Publikum zugänglicher zu machen. Alles in allem eine gelungene Neuinterpretation des „Nibelungenlieds“ vor spätantikem Hintergrund.

Bildquelle (Copyright: Rütten & Loening)

Siehe auch:
Wagner: Der Ring ohne Worte
Art of Adaptation: Der Ring des Nibelungen – RBB-Hörspiel
Art of Adaptation: Der Ring des Nibelungen – Comic von P. Craig Russel
Götterdämmerung

Art of Adaptation: The Vampire Lovers

Ich werde nicht müde zu betonen, wie essentiell Sheridan Le Fanus Novelle „Carmilla“ für das Vampir-Genre ist, sei es direkt oder indirekt. Wie „Dracula“ wurde auch „Carmilla“ einige Male adaptiert, wenn auch bei Weitem nicht so häufig und so medienwirksam wie Stokers Graf. Dennoch finden sich einige Adaptionen, die nicht nur den Vergleich mit der Vorlage lohnen, sondern zugleich auch zeigen, wie sich der Umgang mit der Thematik von Le Fanus Novelle und die Darstellung des Stereotyps „lesbischer Vampir“ geändert hat. Die wohl prominenteste Adaption von „Carmilla“ stammt von Hammer Film Productions, dem Studio, das uns mehr Dracula-Filme als jedes andere beschert hat. Eine Umsetzung der Novelle, die Stoker massiv beeinflusst hat, schein da sehr logisch zu sein. Das Ergebnis trägt den Titel „The Vampire Lovers“ und erschien 1970. Basierend auf dem Erfolg des Films drehte Hammer zwei Pseudofortsetzungen, die zwar relativ wenig mit „Carmilla“ zu tun haben, aber zumindest die Thematik weiterführen und in denen zudem Vampire der Karnstein-Familie vorkommen. Aus diesem Grund bilden „The Vampire Lovers“, „Lust for a Vampire“ (1971) und „Twins of Evil” (ebenfalls 1971) die Karnstein-Trilogie.

Struktur
Ähnlich wie „Dracula“ ist auch „Carmilla“ als tagebuchartiger Erlebnisbericht konzipiert, dabei aber an nur eine Perspektive gebunden, nämlich die von Laura, Carmillas Opfer. Le Fanu bemüht sich um einen langsamen und subtilen Spannungsaufbau: Carmilla kommt als Gast auf das Schloss von Lauras Vater, die beiden jungen Frauen schließen Freundschaft und dann häufen sich langsam die merkwürdigen Ereignisse, primär Lauras Träume von einer großen, schwarzen Katze und ihre beginnende Anämie. Selbst wenn man mit der Handlung von „Carmilla“ nicht bereits vertraut ist, ist es, nicht zuletzt wegen der vielfach wiederholten Genrekonventionen, ziemlich einfach zu erraten, woran man als Leser ist. Die Enthüllung kommt allerdings erst gegen Ende, als General Spielsdorf, ein Bekannter von Lauras Vater, von den Umständen des Todes seiner Nichte Bertha berichtet, die den Erlebnissen Lauras stark gleichen. Auf diese Weise schildert „Carmilla“ das Schicksal zweier Vampiropfer, bleibt dabei aber stets Lauras Perspektive verhaftet: Als Leser erfährt man erst, was Bertha wiederfahren ist, als es Laura auch erfährt. Nicht so im Film: Regisseur Roy Ward Baker, der im Verlauf seiner Karriere eine Reihe von Filmen für Hammer inszenierte, darunter auch „Scars of Dracula“, und Drehbuchautor Tudor Gates, nehmen eine ganze Reihe struktureller Änderungen vor: The Vampire Lovers“ zeigt die Leidensgeschichte beider Vampiropfer in chronologischer Reihenfolge. Außerdem erfolgt ein an die Dracula-Filme erinnernder, relativ grundlosen Namenswechsels. Die Nichte von Genereal Spielsdorf (Peter Cushing) ist wie in der Novelle das erste Opfer, heißt hier jedoch Laura (Pippa Steel) und nicht Bertha. Die eigentliche weibliche Hauptfigur, analog zur Novellen-Laura, trägt stattdessen den Namen Emma Morton (Madeline Smith).

Zumindest im Groben entfalten sich die Ereignisse sehr ähnlich wie bei Le Fanu, die zentrale Vampirin, die auch im Film gerne mit Anagrammen ihres ursprünglichen Namens Mircalla (Ingrid Pitt) spielt, schleicht sich bei den Familien ihrer ausersehenen Opfer ein, nährt sich für längere Zeit an ihnen, wobei sich zusätzlich eine intime Beziehung entwickelt, und zieht dann zum nächsten Opfer weiter, wobei sie immer dieselbe Masche anwendet. Während viele andere Vampire mitunter fast schon willkürlich töten, gleicht Mircallas/Carmillas Vorgehensweise eher der eines Serienkillers – das aber nur am Rande. Diesen Aspekt setzt „The Vampire Lovers“ auch um, weicht in den Details aber deutlich von der Vorlage ab. Kaum eine der Szenen, die Le Fanu in seiner Novelle beschreibt, schafft es tatsächlich in den Film, und wenn doch, dann nur stark verfremdet. Ein ideales Beispiel ist das Gemälde von Mircalla von Karnstein, das einen frühen Hinweis auf Carmillas Vampirdasein und tatsächliches Alter gibt. Während es in der Novelle ein Erbstück aus dem Nachlass von Lauras Mutter ist, taucht es im Film erst im Schloss der Karnsteins auf und wird somit seiner ursprünglichen dramaturgischen Funktion als Foreshadowing beraubt. Stattdessen handelt es sich um eine im Grunde zu diesem Zeitpunkt unnötige Bestätigung der Vampirnatur Carmillas.

Die Hammer-Formel
In vielerlei Hinsicht ist „Carmilla“ eine ziemlich typische Gothic Novel (bzw. Gothic Novella), sowohl Handlungsort als auch Plot und Figuren sind sehr genretypisch. Weniger typisch ist die für die Zeit fast schon progressive Darstellung von Homosexualität. Würde „Carmilla“ als Werk heute mit dem exakt selben Text erscheinen, würde man die Novelle mit ziemlicher Sicherheit als problematisch wahrnehmen, da Homosexualität und Vampirismus ziemlich eng und auf negative Weise miteinander verknüpft sind. Im Kontext des Jahres 1872 zeigt sich Le Fanu aber geradezu verständig, zumindest gemessen am Standard der Ära. Theoretisch ist die Queerness in „Carmilla“ Subtext, aber es ist derartig deutlicher Subtext, dass man schon fast verwundert ist, dass die Novelle keinen Skandal verursachte, wie es Beispielsweise bei den Werken Oscar Wildes der Fall war. Fast 100 Jahre nach Erscheinen hat sich die Lage natürlich geändert: In den 1970ern feierte der Exploitation-Film seine Triumpfe, Sex und Blut gehörten schon immer zum Erfolgsrezept der Hammer Studios. Dementsprechend ist „The Vampire Lovers“ in seiner Darstellung deutlich expliziter als die Novelle – aber auch deutlich fetischisierender. Gerade im Vergleich zur Dracula-Serie fällt auf, wie viel mehr „The Vampire Lovers“ zu zeigen bereit ist. Verließ man sich in Dracula-Filmen zumeist auf tiefe Ausschnitte, finden sich hier mehrere ausgedehnte Szenen mit den oberkörperfreien Darstellerinnen. Vielleicht noch schwerer wiegt der Umstand, dass „The Vampire Lovers“ der männlich-konservativen Perspektive noch einmal deutlich mehr Platz einräumt, als dies selbst Le Fanu tat – dieser verknüpfte schließlich alles mit Lauras Wahrnehmung. Alles in allem wirkt es fast, als habe „The Vampire Lovers“ Angst, zu lesbisch zu sein, weshalb sich Carmilla auch männliche Opfer sucht.

In vielerlei Hinsicht passt Hammer „Carmilla“ stärker an die erzählerischen Konventionen der Dracula-Filme an und verzichtet dafür auf den subtilen Spannungsaufbau und die detailliertere Charakterarbeit, die die Novelle ausmachen. So beginnt der Film mit dem Einsatz eines Vampirjägers namens Baron von Hartog (Douglas Wilmer), der ein weibliches Mitglied der Familie Karnstein (Kirsten Lindholm) tötet. Besagter Baron taucht am Ende des Films als deutlich älterer Mann wieder auf und nimmt in der Geschichte die Stellung ein, die bei Le Fanu Baron Vordenburg innehat. Dieser Umstand sorgt dafür, dass der Fokus der Geschichte stärker auf der Vendetta dieses Vampirjägers statt auf dem persönlichen Schicksals Lauras bzw. Emmas liegt. Diese ist im Film zudem noch einmal deutlich passiver, ihre Inszenierung als Vampiropfer erinnert stärker an Lucy Westenra. Zum Vergleich: In der Novelle ist Laura bei Carmillas endgültigem Tod zugegen, im Film nicht, stattdessen ist sie im dritten Akt die meiste Zeit regelrecht katatonisch. Baker und Gates haben relativ wenig Interesse an der tatsächlichen romantischen Beziehung zwischen Carmilla und Laura/Emma, die in der Novelle sehr viel Raum einnimmt. Der Fokus liegt in „The Vampire Lovers“ eindeutig auf den Vampirjägern, zu denen neben Baron von Hartog der von Peter Cushing gespielte General Spielsdorf (was natürlich seinerseits sofort Dracula-Assoziationen weckt) und Emmas Vater Roger Morton (George Cole) gehören. Darüber hinaus macht sich Carmilla einige Taktiken Draculas zu eigen: Wie der von Christopher Lee dargestellte Graf macht sie aus zuerst Unbeteiligten durch ihre vampirischen Kräfte willige Häscher, das betrifft vor allem die im Film deutlich jüngere Morton-Angestellte Mademoiselle Perrodot (Kate O’Mara) sowie den Butler Renton (Harvey Hall). Zudem wird die Geschichte noch um diverse, an die Dracula-Filme erinnernde Actionszenen angereichert, der Kampf des Barons gegen die namenlose Karnstein-Vampirin wurde bereits erwähnt, zudem findet sich gegen Ende eine recht intensive Szene, in der Carmilla versucht, mit einer bewusstlosen Emma aus dem Anwesen der Familie Morton zu fliehen.

Familienbande
Einmal mehr erweisen sich die Abänderungen gegenüber der Vorlage als größte Schwäche: Viele Nuancen, die „Carmilla“ als Werk so interessant machen, gehen zugunsten des erhöhten Exploitationfaktors verloren. „The Vampire Lovers“ ist, im Guten wie im Schlechten, ein recht typischer Hammer-Film mit etwas mehr expliziter Nacktheit als gewöhnlich. Das bringt allerdings auch einige Vorteile mit sich: Die typische Hammer-Gothic-Atmosphäre steht Le Fanus Geschichte gut zu Gesicht und auch schauspielerisch gibt es wenig Beschwerden, lediglich Madeline Smith als Emma Morton wirkt für meinen Geschmack zu blauäugig, naiv und unschuldig. Peter Cushing ist natürlich über jeden Zweifel erhaben und auch Ingrid Pitt spielt die Hauptrolle wirklich gut, auch wenn ihr Spiel das eine oder andere Mal ein wenig überdramatisch ausfällt. Tatsächlich findet sich hier die größte Stärke des Films, denn es gelingt ihm tatsächlich, die komplexe und zerrissene Natur Carmillas gelungen zu vermitteln: Ihre eindeutige, ebenso besitzergreifende und obsessive Liebe zu ihren Opfern wirkt ebenso authentisch wie ihre alles verzehrende Blutgier. Zumindest in diesem Aspekt kann die Adaption durchaus als gelungen bezeichnet werden.

Ein besonders interessanter Aspekt dieser Adaption ist zudem der Umgang mit Carmillas Entourage. Wann immer sich die Vampirin in der Novelle in eine Familie einschleicht, ist ihre „Mutter“ beteiligt, die jedes Mal in einer Angelegenheit größer Wichtigkeit verreisen muss und ihre „Tochter“ deshalb in der Obhut der Familie des potentiellen Opfers zurücklässt. Beteiligt sind zudem ein finster aussehender Diener bzw. Kutscher und ein enigmatisches altes Weib, das sich kaum zeigt. Was es mit dieser Entourage auf sich hat, teilt uns Le Fanu nie mit: Handelt es sich ebenfalls um Vampire oder sind es nur menschliche Diener Carmillas, die ihr dabei helfen, die Scharade durchzuziehen? „The Vampire Lovers“ zieht definitiv die erste Auslegung vor und richtet den Fokus in deutlich stärkerem Ausmaß auf die Familie Karnstein. Wie erwähnt tauchen weder Baron von Hartog, noch seine Vendetta gegen die Vampirfamilie in der Novelle auf, die Natur der Karnsteins bleibt bei Le Fanu mysteriös und ungeklärt, während der Film weitere Karnstein-Vampire zeigt – vielleicht bereits mit Hintergedanken bezüglich weiterer Filme?

Fazit: „The Vampire Lovers“ ist die wahrscheinlich bekannteste Adaption von „Carmilla“ und kommt mit allen Vorzügen und Nachteilen eines Hammer-Films: Tolle, dichte Amtosphäre und gute schauspielerische Leistungen von Ingrid Pitt und Peter Cushing auf der einen, eine unnötige Banalisierung der Geschichte mit Fokus auf den Exploitationfaktor auf der anderen Seite. Gerade diese Banalisierung sorgt aber leider auch dafür, dass „The Vampire Lovers“ seiner Vorlage nicht gerecht wird.

Siehe auch:
Geschichte der Vampire: Carmilla
Geschichte der Vampire: Dracula – Hammers Graf
Scars of Dracula
First Kill – Staffel 1

Art of Adaptation: Dracula (1979)

Mitte der 70er endete die Dracula-Serie der Hammer-Studios auf ziemlich unrühmliche Art und Weise, Christopher Lee hatte bereits nach „The Satanic Rites of Dracula“ keinerlei Lust mehr, auch nur an eine Rückkehr zu denken und nicht einmal Peter Cushing als Van Helsing gelang es noch, das „fatale Finale“ dieser Filmreihe, „The Seven Golden Vampires“, groß aufzuwerten. Während Hammer sich also vom Grafen abwandte, versuchten andere Studios es mit einer Neuinterpretation. Dass Universal Films dazugehört, dürfte kaum verwunderlich sein, schließlich geht die erste offizielle Dracula-Adaption auf das Konto dieses Studios. John Badhams „Dracula“, der 1979 in den Kinos startete, ist in mehr als einer Hinsicht sowohl eine (ob bewusst oder unbewusst sei einmal dahingestellt) Abkehr vom Hammer-Stil und stellt zudem eine Rückbesinnung auf den Klassiker aus Universals Anfängen da. Das zeigt sich bereits daran, dass das Theaterstück von Hamilton Deane und John L. Balderston, wie schon bei Bela Lugosis Leinwanddebüt als Dracula, abermals statt Stokers Roman als Vorlage fungiert. Zudem trat Dracula-Darsteller Frank Langella, wie Lugosi, bereits zuvor als Graf auf der Bühne auf, bevor er die Rolle auch im Film übernahm.

Zumindest in einer Hinsicht folgen Badham und sein Drehbuchautor W. D. Richter dem ursprünglichen Theaterstück sogar genauer als der Film von 1931: Wie im Stück fehlt auch in diesem Film jegliche Szene, die auf Draculas Schloss in Transsylvanien spielt, weder Jonathan Harker (Trevor Eve) noch Renfield (Tony Haygarth), der hier statt R. M. den Vornamen Milo trägt, interagieren dort mit dem Grafen. Stattdessen beginnt der Film mit Draculas Ankunft in Whitby, natürlich stilecht per Schoner. Inhaltlich folgt der Film der Romanhandlung in groben Zügen, die beiden weiblichen Protagonisten werden eine nach der anderen zu Opfern Draculas, die erste stirbt und muss vom Vampirismus „erlöst“ werden. Der Rest des Films besteht aus der Verfolgung Draculas durch die Angehörigen. Dabei finden sich zwar immer wieder Szenen und auch erstaunlich viele Zitate, die direkt aus dem Roman stammen, oft aber anders kontextualisiert sind. Wie bei Stoker gibt es beispielsweise eine Verfolgungsjagd, während der sich Dracula in einer seiner Kisten befindet, diese passiert aber nicht in Sichtweite des Schlosses und statt mit Pferden sind die Vampirjäger dieses Mal mit dem Auto zugange. Der (zumindest vermeintlich) endgültige Todesstoß wird Dracula dieses Mal auf einem Schiff verpasst. Hier entscheiden sich Badham und Richter für einen recht spektakulären Abgang: Zuerst wird Dracula mit einem Haken aufgespießt und dann regelrecht gehisst, damit die Sonne den Rest erledigen kann. Statt des nicht auftauchenden Quincey Morris ist es dieses Mal Van Helsing, der sein Leben gibt.

All diese Ereignisse, egal ob vorlagengetreu oder nicht, finden mit stark reduzierter Besetzung statt. Nach bester Tradition werden erst einmal die Namen und Beziehungen der Figuren zueinander kräftig durchgemischt. Wie schon im Film von 1931 ist John Seward (Donald Pleasance) nicht nur deutlich älter als Jonathan, Lucy und Co., sondern der Vater einer der beiden weiblichen Hauptfiguren. Ab diesem Punkt wird es etwas komplizierter, da Badham und Richter Mina (Jan Francis) und Lucy (Kate Nelligan) bzw. ihre Rollen in der Geschichte getauscht haben: Hier ist es Mina, die als erste zu Draculas Opfer wird, stirbt und schließlich als Vampirin zurückkehrt, während Lucy als zweites Opfer und Motivation der männlichen Vampirjäger fungiert. Lucy ist zudem Sewards Tochter und mit Jonathan Harker liiert (so wie es Mina im Lugosi-Film war), während Mina zu allem Überfluss auch noch Van Helsings (Laurence Olivier) Tochter ist. Quincey Morris und Arthur Holmwood fehlen wie so oft komplett.

Der Unterschied zu Hammer zeigt sich vor allem in der Inszenierung der Geschichte und der Konzeption des Grafen. Auch in diesem Kontext ist die Rückbesinnung auf 1931 deutlich spürbar. Während Stokers Graf (meistens) monströs, böse und wenig ansprechend ist, legte Lugosi die Grundlage für den verführerischen, einnehmenden Dracula. Der von Christopher Lee dargestellte Vampirfürst ist, trotz des Umstandes, dass Lee alles andere als unattraktiv ist, eher an die Romanversion angelehnt – man erinnere sich nur an „Dracula: Prince of Darkness“, in welchem der Graf keinerlei Dialog hat. Frank Langella dagegen knüpft nicht nur an Lugosis Darstellung an, sondern fungiert als einer der attraktivsten und romantischsten Draculas – allein optisch wirkt er mit Cape und offenem Hemd, als stamme er direkt vom Cover eines klischeebehafteten romantischen Romans. Dementsprechend wenig bedrohlich kommt dieser Vampirgraf daher, seine düster-brütende Fassade kann als Vorgriff auf viele Vampire der 90er und 2000er gewertet werden. Sowohl Mina als auch (vor allem) Lucy geben sich dem Grafen zudem mehr oder weniger freiwillig hin, was den Eindruck des verführerischen Grafen noch unterstreicht. Hin und wieder darf Langella dann doch Zähne zeigen, angesichts der massiven Konkurrenz auf diesem Feld ist er allerdings weit davon entfernt, mein Lieblings-Dracula zu sein. Die hochkarätige Besetzung dieses Films soll dennoch nicht unerwähnt bleiben, schauspielerisch liefert der junge Frank Langella durchaus eine gute Performance ab, und auch Donald „Blofeld“ Pleasance und Shakespeare-Legende Laurence Olivier verleihen dem Film zusätzliche Gravitas.

Sehr interessant ist die Umsetzung des einzigen anderen Vampirs in diesem Film. Draculas Bräute wurden, zusammen mit seinem Schloss in Transsylvanien, komplett gestrichen, das heißt, dass Mina, die den Platz von Lucy im Roman einnimmt, neben der Titelfigur die einzige Untote ist. Angesichts der Wandlung Van Helsings zu ihrem Vater sowie Jack Sewards zu einer väterlichen Figur präsentiert sich Vampir-Mina, anders als Roman-Lucy, nicht als sündige Verführerin, sondern als unschuldiges, verspieltes Kind, sodass der Tötungsakt für Van Helsing noch einmal deutlich schwieriger wird. Diese Entscheidung, zusammen mit dem wirklich sehr guten Make-up, haben einen durchaus angenehm verstörenden Effekt und sind nicht nur einer der emotionalen Höhepunkte des Films, sondern auch eine äußerst effektive Neuinterpretation besagter Szene aus der Vorlage.

Besonders faszinierend ist die atmosphärische Rückbesinnung auf Universal. Während Hammer nicht nur keine Hemmungen hatte, Einflüsse anderer Genres miteinzuarbeiten, sondern oft farblich verhältnismäßig grelle Filme inszenierte und vor allem Wert auf das typische, hellrote Hammer-Blut legte, ist Badhams Film zwar nicht schwarzweiß, aber angesichts des Entsättigungsgrades ziemlich nahe dran. Tatsächlich gelingt die behutsame Modernisierung der klassischen Universal-Atmosphäre erstaunlich gut. Definitiv einen großen Anteil daran hat der Score, der von keinem Geringeren als John Williams persönlich stammt – bei Badhams Film handelt es sich um einen der wenigen Ausflüge des Maestros ins Horror-Genre. Sein opulentes, fast schon opernhaft anmutendes Hauptthema für die Titelfigur hilft noch einmal, diesen Film stärker von den musikalisch eher simplen Hammer-Filmen abzuheben.

Fazit: Sehr atmosphärische Neuauflage des Klassikers mit einer besonders romantischen Interpretation der Titelfigur, die aber wie üblich die Figuren und ihre Beziehungen wild durcheinanderwirft und die Handlung eher grob abarbeitet.

Siehe auch:
Geschichte der Vampire: Dracula – Bram Stokers Roman
Geschichte der Vampire: Dracula – Universals Graf
Geschichte der Vampire: Dracula – Hammers Graf
Dracula: Prince of Darkness
Art of Adaptation: Nachts, wenn Dracula erwacht

Art of Adaptation: Der Ring des Nibelungen – Comic von P. Craig Russell

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Richard Wagners Opernzyklus „Der Ring des Nibelungen“ dürfte schon allein aufgrund des Umfangs eines der fordernsten Werke der klassischen Musik sein – zum Glück gibt es Möglichkeiten, sich diesem Mammutwerk zu nähern, ohne sich durch vier Opern von insgesamt gut 14 Stunden zu arbeiten. Einige davon habe ich bereits vorgestellt, etwa das Instrumentalalbum „Der Ring ohne Worte“, das aus dem Zyklus praktisch ein Filmmusikalbum macht, oder die 2022 ausgestrahlte Hörspielserie des RBB. Wer hingegen eher einen visuellen Zugang bevorzugt und es zudem auf ein hochwertigeres (und teureres) Objekt abgesehen hat, kann zur kürzlich von Cross Cult in einem Hardcover-Sammelband auf Deutsch herausgebrachten Comic-Adaption von P. Craig Russell aus den frühen 2000ern greifen.

Wie so viele amerikanische Comicschaffende arbeitete auch der 1951 geborene Russell im Lauf seiner Karriere für die beiden großen Verlage DC und Marvel, für die er sowohl als Texter als auch als Zeichner und Inker tätig war. Bereits in den 80ern schrieb und zeichnete er die Anthologieserie „Night Stories“, in deren Rahmen er nicht nur Literaturklassiker, sondern auch Opern adaptiert. Besonderes Letztere sollten sein Comicschaffen immer begleiten, bis er sich in den frühen 2000ern für Dark Horse Wagners „Ring des Nibelungen“ annahm. Die epische Geschichte des deutschen Komponisten, basierend auf diversen mittelalterlichen Quellen, darunter primär die nordische Völsunga saga, aber auch (in geringerem Maße) das mittelhochdeutsche Versepos „Das Nibelungenlied“, setzt er in 14 Ausgaben um, vier für „Das Rheingold“, jeweils drei für „Die Walküre“ und „Siegfried“ und noch einmal vier für „Götterdämmerung“.

Anders als beispielsweise die französische Serie „Götterdämmerung“, die sich zwar an Wagner orientiert, viele Elemente aber sehr frei umsetzt und u.a. noch deutlich mehr nordische Mythologie einarbeitet, handelt es sich bei Russells Werk um eine sehr vorlagengetreue Umsetzung, weshalb Wagners Name auch das Cover ziert. Auf eine ausführliche Handlungswidergabe werde ich in diesem Kontext verzichten und verweise dafür auf meinen Artikel zum RBB-Hörspiel – sowohl dieses als Russells Comicadaption sind jeweils äußerst nahe an der Vorlage, die Abweichungen und Änderungen sind minimal. Diesbezüglich am interessantesten ist wahrscheinlich Russells Gestaltung des Endes. Im Finale der „Götterdämmerung“ sterben praktisch alle wichtigen Figuren und die alte Ordnung der Götter Walhalls endet, aber es liegt zumeist im Ermessen des jeweiligen Regisseurs, ob dieser Umstand positiv oder negativ bewertet wird. Russell zeigt nach dem eigentlichen Ende, wie Wotan nach der Rückgabe des Rings an die Rheintöchter Loge mit seinem Speer ersticht, woraufhin Walhall in Flammen aufgeht. Anschließend sehen wir Siegfried und Brünhild in ätherischem Licht, das einer verwüsteten Landschaft neues Leben bringt, die entstehende Pflanze könnte sogar als neue Weltesche interpretiert werden. Russell geht also von einem positiven Neuanfang nach dem Ende der alten Ordnung aus. Deutlich interessanter als die Handlungsabweichungen – bzw. der Mangel an denselben – ist die visuelle Umsetzung.

Wer moderne Operninszenierungen, in denen die Figuren in moderner Kleidung durch ein minimalistisches Bühnenbild rennen, absolut nicht ausstehen kann, dürfte mit dem von Russell gewählten visuellen Stil wirklich seine Freude haben, denn sein „Ring des Nibelungen“ sieht exakt so aus, wie man sich eine stereotype Wagner-Oper vorstellt. Russell inszeniert die Welt des deutschen Komponisten als romantisch verklärte Mischung aus Pseudo-Völkerwanderung, Pseudo-Mittelalter und Pseudo-Wikingern, will heißen: Es finden sich viele Flügel- und Hörner-Helme. Das Ganze mutet einerseits, vor allem für eine Leserschaft des Jahres 2023, die eine andere Darstellung von Mythologie, Wikingern und Fantasy gewohnt ist, reichlich kitschig an. Wenn Russell es sich allerdings zum Ziel gesetzt hat, den „Ring“ so in Szene zu setzen, dass er Wagners Idealvorstellung am nächsten kommt, kann das Ergebnis zweifelsohne als durchschlagender Erfolg bewertet werden.

Den romantisch-kitschigen Aspekt außen vorgelassen sind Russells Zeichnungen, Bildkompositionen und Panelanordnungen keinesfalls anspruchslos oder simpel, im Gegenteil. Russell bemüht sich um eine ausgeprägte Bildsprache und zeigt zudem eine stilistische Vielseitigkeit – so werden beispielsweise Rückblenden oder „Handlungsbrücken“, die in den Opern nur verbal vermittelt werden, als nicht kolorierte Bleistiftzeichnungen gezeigt. Mehr noch, Russell versucht auch, Wagners Musik visuell umzusetzen, spezifisch die Leitmotivik. Wagner ist nicht nur der Vorreiter dieser musikalischen Erzähltechnik, tatsächlich hat ihm bislang kaum ein Komponist diesbezüglich das Wasser reichen können, zumindest im Hinblick auf den „Ring“. Das liegt primär daran, dass Wagners Leitmotive im „Ring“ einer ständigen, von der Handlung bestimmten Entwicklung und Metamorphose unterworfen sind. Siegfrieds Thema, wie es am prominentesten in Siegfrieds Trauermarsch erklingt, entwickelt sich beispielsweise über den Verlauf der Tetralogie langsam und ist eine Ausarbeitung des Schwert-Motivs, beinhaltet eine invertierte Version des Ring-Motivs etc. Im Gegensatz dazu bleiben die Leitmotive und Themen in der Filmmusik zumeist relativ starr, um einen besseren Wiedererkennungswert zu gewährleisten. Zugegebenermaßen haben Filmkomponisten auch nur zwei bis drei Monate, um einen Film-Score zu schreiben, während Wagner mehrere Jahrzehnte an den vier Opern des „Rings“ arbeitete. Wie dem auch sei, Russell versucht, diese motivische Entwicklung immer wieder bildlich darzustellen, etwa wenn am Ende des „Rheingolds“ Wotan das Schwert Notung als zentrales Element seines Weltrettungsplanes ersinnt und Russell es in ein Geflecht aus visuellen Motiven einbindet, das Wagners leitmotivischer Entwicklung gleicht.

Ich muss allerdings zugeben, dass ich nicht jede grafische Gestaltung Russells vollauf gelungen finde. Vor allem der Drache Fafner wirkt nicht allzu einschüchternd oder schrecklich, sondern sieht primär aus wie ein großes Krokodil – die drachenartige Riesenschlange, in die sich Alberich im „Rheingold“ mithilfe der Tarnkappe verwandelt, ist da deutlich besser gelungen. Allgemein wirken die schurkischen Figuren, Alberich, Mime und Hagen, visuell äußerst uninteressant, gerade im Vergleich zu den Helden und Göttern. Während die Nibelungen meistens spärlich bekleidet durch die Gegend rennen, mutet Hagen an wie eine mit Hörnerhelm ausgestattete Version von Gríma Schlangenzunge. Ich denke, da wäre mehr drin gewesen. Absolut keinen Grund zur Klage liefert die Aufmachung der deutschen Ausgabe: Hardcover mit Lesebändchen und umfangreichem Bonusmaterial, darunter Cover, Skizzen P. Craig Russells sowie Kommentare und Erläuterungen zu seinem Adaptionsprozess, die mir das Verfassen dieses Artikels deutlich erleichtert haben.

Fazit: Gelungene, sehr vorlagengetreue Comicadaption des „Ring des Nibelungen“ in ansprechender Prachtausgabe, visuell verwurzelt in der Romantik des 19. Jahrhunderts, die aufwändig und komplex darstellt, wie Wagner selbst sich den „Ring“ vorgestellt haben könnte.

Bildquelle

Siehe auch:
Wagner: Der Ring ohne Worte
Art of Adaptation: Der Ring des Nibelungen – RBB-Hörspiel
Götterdämmerung

Art of Adaptation: Strider

Das zehnte Kapitel des „Lord of the Rings“ beinhaltet einen weiteren, ziemlich langen Dialog, der in der Jackson-Verfilmung deutlich reduziert wurde – die gesamte Angelegenheit umfasst auf der Leinwand gerade einmal etwa eine Minute und wurde zudem noch deutlich zügiger inszeniert – Jackson und Co. verliehen der Szene eine Dringlichkeit, die im Roman nicht vorhanden ist, nicht zuletzt, weil die Nazgûl auch hier noch eine ferne, schwer einzuschätzende Bedrohung sind und primär durch Spitzel und Häscher handeln, während sie im Film zu diesem Zeitpunkt schon deutlich aktiver sind und selbst Hand anlegen.

Ein Brief und ein Spaziergang
Bei Tolkien begeben sich die Hobbits und der Waldläufer ruhig und gesittet in den Privatraum zurück, während Frodo im Film von Aragorn recht aggressiv ins Nebenzimmer gedrängt wird und die anderen drei Hobbits hintherkommen, bereit, es mit dem einschüchternden und deutlich größeren Waldläufer aufzunehmen. Die meisten Dialogzeilen, die im Film ausgetauscht werden, stammen zwar von Tolkien, der Löwenanteil der Gespräche dieses Kapitels fiel allerdings der Schere zum Opfer. Aragorn verspricht Informationen, fordert dafür aber eine Belohnung, woraufhin Frodo befürchtet, einem Erpresser in die Hände gefallen zu sein. Zudem enthüllt Aragorn, dass er den Hobbits bereits folgt, seit sie sich von Tom Bombadil getrennt haben.

Nicht unerwähnt bleiben sollte Butterblume, der zwar erst später hinzukommt, aber einen ziemlich großen Anteil am Gespräch hat, da er über einen Brief von Gandalf verfügt. Diesen hätte er ursprünglich bereits zustellen lassen sollen, hat es aber gewissermaßen verbummelt, weshalb er nun ein äußerst schlechtes Gewissen hat. Derartige Querverbindungen existieren im Film nicht, Butterblumes Rolle wurde sehr stark reduziert. Während die Hobbits im Film Aragorn mehr oder weniger aus der Not heraus blind vertrauen müssen, bekommen sie im Roman durch diesen Brief deutlich mehr Informationen an die Hand, inklusive eines Gedichts über Aragorn, das dieser zitiert, ohne den Brief gelesen zu haben, was zusätzliche Sicherheit gibt.

Während der Geschehnisse in der Schankstube fehlt Merry vollkommen; er taucht erst in der zweiten Hälfte dieses Kapitels wieder auf und berichtet, dass er auf eigene Faust einen Abendspaziergang in Bree unternommen hat und dabei auf mehrere Nazgûl gestoßen ist, um zum ersten, aber nicht letzten Mal mit ihrer verheerenden Wirkung Bekanntschaft zu machen. Diese Episode fehlt im Film völlig, abermals zeigt sich, dass die Ringgeister bei Tolkien deutlich subtiler vorgehen und sich ungesehen einschleichen, während sie bei Jackson schlicht das Eingangstor samt Torwächter umreiten. Nachdem Merry wieder sicher bei der Gruppe ist, werden Vorbereitungen getroffen, um etwaige nächtliche Angreifer in die Irre zu führen; u.a. stopft man die Betten mit Kissen aus. Aus dramaturgischen Gründen wird dieser Umstand im Film erst später enthüllt. Einige der markanten Zitate tauchen ebenfalls erst später auf. Aragorn verspricht Frodo: „‚ […] if by life or death I can save you, I will.’” (FotR, S. 224), ein ähnliches Versprechen gibt Aragorn in Bruchtal bei Elronds Rat. Auch Frodos Einschätzung bezüglich Streicher „‚I think one of [the Enemy’s] spies would – well, seem fairer and feel fouler, if you understand.’” (FotR, S. 224) findet sich leicht abgewandelt etwas später, während der Fünfertrupp bereits auf Wanderschaft ist.

Der König im Exil
Dieser Zeitpunkt eignet sich ganz gut, um die Romanversion von Aragorn mit ihrem Filmgegenstück zu vergleichen, denn hier gibt es einige gewaltige Unterschiede. Tolkiens Aragorn ist im wahrsten Wortsinn ein König im Exil, er hat seine Bestimmung erkannt und strebt ihr entgegen. Trotz seines abgehalfterten Äußeren lässt er den König immer wieder durchblitzen. Die Figur bleibt über den Verlauf des Romans recht statisch, bereits zu Beginn hat sie ihr Ziel und arbeitet daran, es zu erreichen, macht aber ansonsten nur wenige mentale oder emotionale Veränderungen durch. Im Gegensatz dazu ist Film-Aragorn deutlich weniger selbstsicher und will eigentlich nicht König werden, er zweifelt immer wieder an sich und seiner Befähigung und befürchtet, dieselben Fehler zu machen wie sein Vorfahr Isildur, wie er im Gespräch mit Arwen in Bruchtal enthüllt – eine Szene, die in dieser Form nicht im Roman zu finden ist. Das spiegelt sich natürlich auch in Viggo Mortensens Performance wider; ich könnte mir vorstellen, dass ein Charakter mit größerem innerem Konfliktpotential und mehr Selbstzweifeln auch eine interessantere Herausforderung darstellt, gerade für einen Schauspieler von Mortensens Kaliber.

Diese Sachlage zeigt sich an mehreren kleinen Details. Nicht nur wird Aragorns Name bereits im Kapitel „Strider“ enthüllt, durch den Brief bzw. das enthaltene Gedicht erfahren wir zusammen mit den Hobbits, dass dieser Waldläufer irgendeinen königlichen Anspruch hat, wenn auch noch nicht, welchen. Im Gegensatz dazu bleibt Film-Aragorn bis zum Rat von Elrond nur Streicher. Und während Aragorn bei Tolkien die Bruchstücke von Narsil als Erkennungszeichen mit sich herumträgt und als sein Eigentum betrachtet, werden sie in der erzählten Welt des Films in Bruchtal aufbewahrt und deutlich später zu Anduril verarbeitet, als es im Roman der Fall ist. Jackson, Walsh und Boyens wollten Aragorn eine traditionellere Entwicklung geben, die eher den Hollywood-Konventionen entspricht – die Entwicklung der Figur soll für den Zuschauer greifbarer und nachvollziehbarer erscheinen.

Apropos Entwicklung, zum Schluss noch eine amüsante Anekdote: Aragorn begann sein literarisches Leben als eigenwilliger Hobbit namens „Trotter“ statt Streicher („Strider“), dessen markantestes Merkmal der Umstand war, dass er über hölzerne Fußprothesen verfügte, nachdem er in Mordor gefoltert wurde. In früheren Entwürfen des „Lord of the Rings“ nahm er Aragorns Rolle in Bree und später bei den Gefährten ein. Sein tatsächlicher Name in diesen Entwürfen lautete Peregrin Boffin. Irgendwann wurde aus diesem Hobbit der Waldläufer, den wir heute kennen, er behielt den Spitznamen „Trotter“ allerdings noch ziemlich lange, erst 1948 wurde aus Trotter Strider. Nachzulesen ist dieser durchaus amüsante Fun Fact in „The Return of the Shadow”, dem sechsten Band der „History of Middle-earth”.

Zitiert nach:
Tolkien, J. R. R.: The Lord of the Rings Part 1: The Fellowship of the Ring. London 2007 [1954]

Siehe auch:
Art of Adaptation: A Long-expected Party
Art of Adaptation: The Shadow of the Past
Art of Adaptation: Three Is Company
Art of Adaptation: A Shortcut to Mushrooms
Art of Adaptation: The House of Tom Bombadil
Art of Adaptation: At the Sign of the Prancing Pony
Art of Adaptation: Tolkiens Erzählstruktur und Dramaturgie
Art of Adaptation: Saruman der Weiße
Art of Adaptation: Die Nazgûl

Art of Adaptation: Dreams in the Witch-House

Unglaublich aber wahr: Nach der Sichtung der sechsten Episode von „Guillermo del Toro’s Cabinet of Curiosities“, „Dreams in the Witch-House“, sah ich mich gezwungen, die fünfte Episode, „Pickman’s Model“, zu reevaluieren. Bei beiden handelt es sich um sehr lose Adaptionen von Lovecraft-Geschichten; in meiner Rezension kam „Pickman’s Model“ nicht allzu gut weg. Nachdem ich nun aber die Adaption von Mika Watkins (Drehbuch) und Catherine Hardwicke (Regie) gesehen habe, musste ich „Pickman’s Model“ deutlich aufwerten. An meinen Kritikpunkten hat sich zwar nicht unbedingt etwas geändert, aber immerhin sind in dieser Episode der Serie noch erkennbare Spuren der ursprünglichen Geschichte vorhanden, von den sonstigen Qualitäten gar nicht erst zu sprechen.

Eine ausführliche Inhaltsangabe von Lovecrafts Kurzgeschichte lohnt sich an dieser Stelle praktisch nicht, da ohnehin kaum etwas geblieben ist, darum werde ich ausnahmsweise die Episode als Ausgangspunkt verwenden. Walter Gilman (als Kind: Gavin MacIver-Wright, als Erwachsener: Rupert Grint) muss mitansehen, die Seele seiner Schwester Epperley (Daphne Hoskins) ins Jenseits gezerrt wird. Fortan dreht sich sein Leben nur noch darum, mit Epperleys Geist Kontakt aufzunehmen – selbst seinem Freund Frank Elwood (Ismael Cruz Cordova), der ihn auf seiner spiritistischen Suche begleitet, wird es irgendwann zu viel. Walter glaubt, seinem Ziel näher zu kommen, indem er sich ein Zimmer im Haus der hingerichteten Hexe Keziah Mason (Lize Johnston) mietet. Schließlich gelingt es Walter, mithilfe einer speziellen Droge einen Weg in das Jenseits zu finden, doch genau dies wollen die zwar tote, aber doch noch ziemlich aktive Keziah und ihr Familiar Jenkins Brown (DJ Qualls) ausnutzen, um in die Welt der Lebenden einzudringen…

Wer mit der Geschichte vertraut ist, merkt sofort: Kaum etwas ist übriggeblieben, im Grunde haben Hardwicke und Watkins lediglich die Namen (Walter Gilman, Keziah Mason, Frank Elwood und Jenkins Brown, bei Lovecraft Brown Jenkin) sowie die sehr grobe Prämisse genommen und eine völlig eigene Geschichte erzählt. Konzeptioneller Kern von „The Dreams in the Witch-House“ ist die Idee, eine klassische Gestalt der Horrorliteratur, die Hexe, zu nehmen und sie in den Kontext kosmischen Horrors zu setzen. Lovecrafts Walter Gilman, Student an der Miskatonic Universität in Arkham, sucht nicht nach der Seele seiner Schwester, sondern glaubt, Keziah Masons „Magie“ sei in Wahrheit extrem fortschrittliche Mathematik, die es ihr unter anderem erlaubt, durch Raum und Zeit zu reisen. In ihr Haus zieht er ein, um seine Erforschung der noneuklidischen Geometrie weiterzutreiben. Nicht nur stellt sich heraus, dass Gilman recht hat, unglücklicherweise wird er von bösartigen Träumen heimgesucht und muss erkennen, dass Keziah Mason ihr finsteres Werk fortführen möchte und dabei den finsteren Göttern Nyarlathotep und Azathoth dient.

Jegliche Spuren des „Cthulhu-Mythos“, von den erwähnten Entitäten bis hin zum obligatorischen Gastauftritt des legendären Necronomicon, wurden vollständige aus der Adaption getilgt. Dasselbe gilt auch für den kosmischen Horror, der die Geschichte ausmacht. Ob Lovecrafts Versuch, klassischen Grusel mit seiner kosmizistischen Philosophie zu verknüpfen, wirklich erfolgreich war, ist freilich diskutabel, Lovecraft-Experte S. T. Joshi kann „The Dreams in the Witch-House“ beispielsweise kaum etwas abgewinnen. Die Adaption im Rahmen von „Guillermo del Toro’s Cabinet of Curiosities“ entnimmt der Story jedoch jeglichen interessanten Ansatz und macht ein generisches Gruselmärchen aus ihr, das nicht einmal besonders furchterregend ist. Keziah Mason wirkt eher lächerlich denn erschreckend und Jenkins Brown/Brown Jenkin, schon in der Kurzgeschichte ein Element, das für mich persönlich nicht funktioniert, wirkt ziemlich bescheuert. Selbst auf handwerklicher und struktureller Ebene bleibt „Dreams in the Witch-House“ hinter den anderen Episoden der Anthologie-Serie zurück. Ironischerweise ist es „Pickman’s Model“, das atmosphärisch näher an Lovecrafts Geschichte herankommt. Zumindest kommt die dort auftauchende Hexe meiner Vorstellung von Keziah Mason deutlich näher als das merkwürdige Baumwesen, zu dem sie im Kontext dieser Adaption gemacht wurde.

Fazit: „Dreams in the Witch-House“ hat mich der gleichnamigen Lovecraft-Geschichte so gut wie gar nichts zu tun, bietet keinen kosmischen Horror und kann auch sonst nicht überzeugen. Rupert Grints Performance ist der einzige Grund, sich diese schwächste Episode aus Guillermo del Toros Anthologie-Serie anzusehen.

Siehe auch:
Art of Adaptation: Pickman’s Model
Lovecrafts Vermächtnis: Dreams in the Witch-House
Lovecrafts Vermächtnis: Die Opferung

Art of Adaptation: Pickman’s Model

Halloween 2022

Dass Guillermo del Toro ein gewisses Faible für H. P. Lovecraft hat, ist nun wirklich kein Geheimnis: Immer wieder finden sich Anspielungen in seinen Filmen und natürlich hat wahrscheinlich kein Lovecraft-Fan del Toros gescheiterte Adaption von „At the Mountains of Madness“ vergessen. So verwundert es kaum, dass der Schriftsteller aus Providence auch in der neuen Horror-Anthologieserie „Guillermo del Toro’s Cabinet of Curiosities“ eine Rolle spielt, und das nicht nur in einzelnen Anspielungen (die natürlich auch vorhanden sind), sondern in Form von zwei Episoden, die sich als direkte Adaptionen von Lovecraft-Geschichten präsentieren. Das Konzept der Netflix-Serie erinnert an „Alfred Hitchcock Presents“: Zu Beginn jeder Episode gibt es ein paar einleitende Worte von del Toro, darauf folgen die von verschiedenen Regisseuren inszenierten Horror-Geschichten. Bei Folge 5, Regie führt Keith Thomas, handelt es sich um eine, wenn auch ziemlich freie, Umsetzung der Geschichte „Pickman’s Model“, was sie zu einem interessanten Sujet für mich macht.

Die Lovecraft-Geschichte
Lovecraft verfasste „Pickman’s Model“ 1926, ein Jahr später wurde die Kurzgeschichte auf den Seiten des Magazins „Weird Tales“ publiziert. Gemessen an vielen der späteren und populäreren Storys wie „The Call of Cthulhu“ oder „The Shadow Over Innsmouth“ ist „Pickman’s Model“ eine eher konventionelle Geschichte, die eigentlich nicht wirklich dem „Cthulhu-Mythos“ oder dem Sub-Genre des kosmischen Horrors zuzurechnen ist, auch wenn Elemente der Geschichte, sei es Richard Upton Pickman selbst oder die Ghule, die er abbildet, in Mythos-Geschichten anderer Autoren nur allzu gerne auftauchen.

Erzählerisch ist die Geschichte recht simpel aufgebaut, wie so oft bei Lovecraft haben wir es mit einem Ich-Erzähler zu tun, der allerdings ausnahmsweise einmal keinen Bericht über erschreckende Ereignisse hinterlässt; stattdessen ist die Geschichte als „einseitiger Dialog“ aufgebaut. Der Erzähler Thurber (in der Geschichte ohne Vornamen, in der Adaption heißt er Will) berichtet seinem Freund Eliot von seinen Erlebnissen mit dem Maler Richard Upton Pickman, wobei der Text Eliots Antworten und Erwiderungen ausspart, sodass der Leser gewissermaßen als Dialogpartner fungiert. Thurber berichtet, dass seine Angst vor der U-Bahn, Kellern und dem Untergrund im Allgemeinen von einem Erlebnis mit dem kürzlich verschwundenen Maler Richard Upton Pickman herrührt, der wie Thurber und Eliot Mitglied des Kunstvereins von Boston ist bzw. war. Pickman eckte dort mehrmals wegen seiner ebenso grausigen wie realistischen Gemälde an, die viele andere Mitglieder verschreckten, während sie Thurber nachhaltig beeindrucken und faszinieren – trotz seines Traumas hält er an der Meinung fest, dass es sich bei Pickman um einen außergewöhnlichen Künstler handelt.

Pickman, der sich von Thurbers Bewunderung offenbar geschmeichelt fühlt, lädt ihn in sein „geheimes Atelier“ in den heruntergekommenen Norden Bostons ein, in welchem er Thurber Gemälde von blutrünstigen Monstrositäten zeigt, gegen die jene, die im Kunstverein schon ausgestellt wurden, regelrecht harmlos sind. Merkwürdige Geräusche veranlassen Pickman, mit einem Revolver das Zimmer zu verlassen, angeblich um Ratten zu verscheuchen – tatsächlich fallen Schüsse. Pickman und Thurber trennen sich hastig. Später stellt Thurber fest, dass er bei Pickman ein Stück Papier eingesteckt hat, bei welchem es sich um eine Fotografie handelt, die eines jener grausigen Wesen zeigt, die Pickman gemalt hat. So muss Thurber feststellen, dass diese Kreaturen keinesfalls der Fantasie entstammen, sondern dass es sich bei Pickmans Gemälden „nur“ um realitätsnahe Wiedergaben handelt.

„Pickman’s Model“ ist eine Geschichte, die heute zugegebenermaßen in dieser Form nicht mehr allzu viele Neuleser besonders beeindrucken dürfte, im Vergleich zu anderen Enthüllungen, besonders Enthüllungen kosmischen Schreckens, ist die hiesige relativ zahm. Wie viele andere Geschichten Lovecrafts ist sie in ihrem Aufbau und in ihren Andeutungen deutlich stärker als in ihrer tatsächlichen Auflösung. Der interessanteste Aspekt dürften wahrscheinlich die immer wieder eingestreuten Diskussionen zum Thema Kunst sein, Thurber dient hier zweifellos als Avatar für Lovecrafts eigene Meinung zum Thema „erschreckende Gemälde“. Tatsächlich funktioniert „Pickman’s Model“ für mich persönlich in der Hörspieladaption der Reihe „Gruselkabinett“ von Titania Medien mit Abstand am besten, da sie unheimlich stimmig inszeniert ist und von dem großartigen Zusammenspiel von Dietmar Wunder (dt. Stimme von Daniel Craig) und Sascha Rotermund (dt. Stimme von Benedict Cumberbatch) profitiert. Dabei bleibt das Hörspiel nah am Text und schafft es, allein durch die Performance der Sprecher das Grauen zu vermitteln. Kaum weniger gelungen ist zudem die GM-Factory-Lesung von Gregor Schweitzer. Eine visuelle Adaption hat es da natürlich schwerer – dementsprechend verwundert es kaum, dass Keith Thomas und Drehbuchautor Lee Patterson sich vom Text sehr weit entfernen.

Die Umsetzung
Zumindest auf handwerklicher Ebene kann man dieser Folge, wie der gesamten Serie (zugegeben, ich habe noch nicht alle Folgen gesehen) wenig vorwerfen. „Guillermo del Toro’s Cabinet of Curiositys“ sieht definitiv sehr gut aus und ist durchweg enorm atmosphärisch. Die Handschriften der einzelnen Regisseure sind sehr wohl präsent, zugleich haftet allen Folgen aber auch eine gewisse, nennen wir es „Del-Toro-haftigkeit“ an, sei es in der Atmosphäre oder im Design der Kreaturen. Inhaltlich ist es leider eine etwas andere Geschichte: Wie bereits zu erwarten war, wird eher die grobe Prämisse als die tatsächliche Geschichte adaptiert: Thurber (Ben Barnes) und Pickman (Crispin Glover) sind beide Schüler einer Kunstakademie. In einer Sitzung beobachtet Thurber zufällig, wie das gewöhnliche Modell, das gemalt werden soll, auf Pickmans Bild vier Arme hat und blutet. Wie in der Geschichte übt Pickman eine gewisse Faszination auf Thurber aus, man unterhält sich und Pickman erzählt Thurber ein wenig von seinen Hintergründen – eine Vorfahrin namens Lavinia (Megan Many) war laut Pickman in diverse kultische bzw. schwarzmagische Handlungen verwickelt, setzte Gästen ihren gekochten Ehemann vor und wurde dafür als Hexe verbrannt – dieses kannibalistische Motiv taucht in der Episode immer wieder auf. Gewisse Andeutungen diesbezüglich finden sich tatsächlich in Lovecrafts Geschichte, auch hier werden Verbindungen zu den Hexenprozessen von Salem erwähnt und eines von Pickmans Werken trägt den Titel „Leichenfresser beim Fraße“, diese sind allerdings weit weniger spezifisch. Der Lovecraft-Kenner wird bei dem Namen Lavinia zudem sofort hellhörig und muss an „The Dunwich Horror“ denken.

Die Werke Pickmans, die Thurber in Kombination mit der Familiengeschichte gezeigt bekommt, haben einen verstörenden Einfluss auf den jungen Maler, er scheint zu halluzinieren und Elemente aus Pickmans Gemälden in der Realität zu sehen, was zur Folge hat, dass seine Geliebte Rebecca (Oriana Leman) glaubt, er sei Betrunken auf ihrer Party erschienen, woraufhin sie die Beziehung beendet. Als Thurber Pickman erneut in seiner Wohnung aufsucht, sind sowohl der Maler als auch seine Gemälde verschwunden. An dieser Stelle macht die Handlung einen Sprung von 17 Jahren, Thurber und Rebecca sind inzwischen verheiratet und haben einen gemeinsamen Sohn. Zudem ist Thurber inzwischen ein einflussreicher Künstler. Da taucht, recht unverhofft, Richard Upton Pickman wieder auf – und mit ihm und seinen Gemälden kehren auch die Visionen und Alpträume zurück, die sich nun direkt auf Thurber und seine Familie auswirken. Pickman taucht schließlich sogar bei Thurber zuhause auf und beteuert, er wolle nur, dass seine Bilder gesehen werden. Abermals lädt er den Kollegen zu sich ein, bei Pickman kommt es allerdings zum Handgemenge, das schließlich mit Pickmans Tod endet. Um ganz sicher zu gehen, verbrennt Thurber die unheilvollen Bilder, doch es stellt sich heraus, dass der unheilvolle Einfluss bereits von Thurbers Frau und Sohn Besitz ergriffen hat, sodass sich Lavinias Tat wiederholt…

Wie bereits erwähnt: „Pickman’s Model“ ist eine Geschichte, die so, wie sie Lovecraft erzählt, weder besonders furchterregend, noch besonders filmisch ist. Thomas und Patterson ließen sich für diese Folge der Anthologie eher von der Prämisse und der Figurenkonstellation inspirieren, entwickelten sie dann jedoch in eine völlig andere Richtung. Gewisse Reste der ursprünglichen Geschichte sind noch vorhanden, so wird Thurber unter anderem auch mit dem tatsächlichen Ghul konfrontiert, anstatt nur dessen Foto zu sehen, ironischerweise hätte man diese Szene jedoch problemlos entfernen können. Wo sich die eigentliche Story auf die Ghule und deren Abbildung konzentriert, schaffen Regisseur und Drehbuchautor aus Implikationen und Andeutungen einen kultischen Überbau, der ironischerweise an „Dreams in the Witch House“ erinnert – zufällig handelt es sich hierbei um die zweite Lovecraft-Geschichte, die im Rahmen des „Cabinet of Curiosities“ verfilmt wird. Das Problem bei der Sache ist, dass die ganze Angelegenheit ziemlich holprig erzählt ist, die einzelnen Bestandteile wollen nicht ineinandergreifen. Es wirkt, als hätten Thomas und Patterson versucht, das Grauen der ursprünglichen Kurzgeschichte zu erweitern, um sie für ein modernes Horror-Publikum ansprechender zu machen, diese Bemühungen sorgen allerdings dafür, dass das Ergebnis recht generisch daherkommt und sich nicht mehr recht nach Lovecraft anfühlen will – man fühlt sich eher etwas an „The Conjuring“ erinnert. Dementsprechend fand ich persönlich die finale Realwerdung eines der Bilder auch nicht allzu überraschend oder schockierend. Hinzu kommt, dass leider auch die beiden Hauptdarsteller ihn ihren Rollen nicht völlig überzeugen können, was primär damit zusammenhängt, dass sie mit ihrem Akzent kämpfen: Sowohl Ben Barnes (dessen Mitwirken angesichts der Tatsache, dass er in „The Picture of Dorian Gray“ die Hauptrolle spielte, wohl als Casting-Gag verstanden werden kann) als auch Crispin Glover scheinen mit dem Bostoner Sprach-Duktus nicht völlig zurechtzukommen. Während das bei Barnes nicht allzu viel ausmacht, ist Glovers Akzent wirklich merkwürdig und klingt eher wie die Parodie eines Iren. Vielleicht bin ich durch Sascha Rotermund, der Pickman sehr charismatisch anlegt, zu sehr vorgeprägt, aber ich persönlich finde Glovers autistisch anmutendes Overacting hier ziemlich fehl am Platz.

Fazit: Die Umsetzung von „Pickman’s Model“ im Rahmen von „Guillermo del Toro’s Cabinet of Curiosities“ kann zwar nicht wirklich als misslungen bezeichnet werden, vor allem auf technischer und atmosphärischer Ebene weiß sie durchaus zu überzeugen. Allerdings scheitern Regisseur Keith Thomas und Drehbuchautor Lee Patterson an einer wirklich effektiven Modernisierung der Lovecraft-Geschichte, die zudem an Fokusproblemen und Crispin Glovers Darstellung von Richard Upton Pickman leidet.

Siehe auch:
Hörbuch: Pickman’s Model bei GM Factory
Lovecraft im Gruselkabinett
Lovecrafts Vermächtnis: Der Cthulhu-Mythos

Art of Adaptation: Georges Bess‘ Frankenstein

Halloween 2022
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Letztes Jahr erschien die deutsche Fassung der Dracula-Comicadaption des französischen Künstlers Georges Bess – da scheint „Frankenstein“ der nächste logische Schritt zu sein. Tatsächlich war das Erscheinen dieses üppigen Comicbandes im Hardcover-Format – wie der Vorgänger komplett in schwarz-weiß – der auslösende Faktor, der mich dazu gebracht hat, mich im Rahmen dieses Blogs verstärkt mit Mary Shelleys Roman und den diversen Adaptionen zu beschäftigen. Vielleicht wäre es angebrachter gewesen, mit Universals Film von 1931 zu beginnen, aber hin und wieder muss man auch mal das Pferd von hinten aufzäumen und mit der neuesten Umsetzung starten.

Tatsächlich beginnt die Comicadaption genauso wie der Roman: Auf Captain Waltons Schiff, wo er seine Erlebnisse in einem Tagebuch festhält. Zu diesen Erlebnissen gehört ein kurzer Blick auf die Kreatur und natürlich ein stark geschwächter Victor Frankenstein, der beginnt, seine Geschichte zu erzählen. Tatsächlich folgt Bess, wie schon bei seiner Dracula-Adaption, der Handlung des Romans sehr genau, wenn auch mit einigen Abstrichen und einem etwas veränderten Fokus. Frankensteins familiäres Umfeld spielt beispielsweise eine deutlich kleinere Rolle, wo Elizabeth, William und Co. zu Beginn des Romans ausführlich vorgestellt werden, tauchen sie bei Bess deutlich später auf, nämlich erst dann, wenn sie wirklich handlungsrelevant sind. Zu Beginn der Rückblickshandlung legt Bess den Fokus stattdessen (und mit einigen wohlplatziertem direkten Shelley-Zitaten) auf Frankensteins Forscherdrang, sodass die Universität Ingolstadt zum ersten wichtigen Handlungsort wird. Zudem baut er hier ein kleines Zugeständnis an die Universal-Filme ein. Wie in besagten Filmen und anders als im Roman verfügt Frankenstein hier über einen buckligen Diener, der zwar weder Fritz (wie im Film von 1931) noch Igor bzw. Ygor (erstmals in „Son of Frankenstein“ aus dem Jahr 1939, gespielt von Bela Lugosi), sondern Sven heißt, aber im Grunde denselben Zweck erfüllt. Zudem kann Bess es nicht lassen, hier und da einige zusätzliche Details einzustreuen. Mary Shelley bleibt bezüglich Frankensteins Rohmaterial sehr vage, während die Adaptionen zumeist versuchen, ein wenig mehr Kontext zu liefern, so auch in dieser. Die gewaltige Größte der Kreatur erklärt Bess damit, dass Frankenstein sich unter anderem des Leichnams eines riesigen Zirkusartisten bedient.

Ebenso vage bleiben Shelleys Beschreibungen der Kreatur, und natürlich gilt es auch hier, den Universal-Faktor nicht zu unterschätzen. Einerseits ist Boris Karloff in der Rolle des Monsters so dominant, dass man an der entsprechenden Assoziation nicht vorbeikommt, andererseits ist es, besonders nach unzähligen Parodien, schwierig, den viereckigen Kopf und die Schrauben im Hals noch ernst zu nehmen. Bess versucht so gut wie möglich, sich an Mary Shelleys Beschreibung zu orientieren und zeichnet die Kreatur sehr groß und muskulös, mit langen, schwarzen Haaren und Narben – zudem zitiert er ihre Beschreibung im Erzähltext.

Ab dem Moment, in dem die Kreatur aus dem Labor flüchtet, nimmt Bess einige strukturelle Änderungen vor. Wie im Roman erfährt Frankenstein von seiner Schöpfung, was dieser zwischen Flucht und Wiedersehen widerfahren ist, Shelley hält sich hier strikt an Frankensteins Perspektive, wir als Leser erfahren erst, was geschehen ist, als Frankenstein es auch erfährt. Bess hingegen zieht diesen Teil der Geschichte vor, sodass Frankenstein Captain Walton nun chronologisch und nicht an seine Wahrnehmung gebunden erzählt. Dieser Binnenerzählung räumt Bess enorm viel Platz ein, etwa ein Drittel des gesamten Comics, und gibt sie inhaltlich insgesamt sehr vorlagengetreu wieder, erweitert sie allerdings etwas und streut einige Hintergründe der Familie, mit der die Kreatur agiert, in die Erzählung ein. Auch der Mord an William Frankenstein wird bereits an dieser Stelle thematisiert, wobei Bess die Szene deutlich anders und knapper darstellt. In Mary Shelleys Roman ist William einer der wenigen Menschen, die der Kreatur Güte zuteilwerden lassen, woraufhin diese den Jungen gewissermaßen „adoptieren“ möchte. Erst, als sie den Nachnamen des Jungen erfährt, tötet sie ihn und hadert dabei mit sich selbst. Im Comic dagegen ist die Szene sehr knapp, William zeigt keine Güte und wird getötet, bevor er seinen Namen verraten kann.

Im Anschluss kehren wir gemeinsam mit Frankenstein in die Schweiz zurück und erst an dieser Stelle werden die familiären Figuren sehr knapp eingeführt; auf Elizabeth verwendet Bess kaum Zeit bzw. Panels und auf Justine Moritz praktisch gar keine. Die Szenen im Gefängnis entfallen komplett, Justines Tod wird ausschließlich im Erzähltext erwähnt, was ein wenig merkwürdig anmutet, da Bess im Anschluss auf mehreren Seiten üppige Landschaftsbilder inszeniert, während Frankenstein nach der Kreatur sucht, die er für den Mord an seinem Bruder verantwortlich macht. Der Dialog zwischen Schöpfer und Schöpfung fällt hier natürlich deutlich kürzer aus, da die lange Binnenerzählung ja bereits abgearbeitet ist. Ab diesem Zeitpunkt folgt Bess wieder sehr genau Mary Shelleys Geschichte, von den Reisen auf die britischen Inseln über den schließlich abgebrochenen Versuch, einer Frau für die Kreatur zu schaffen bis hin zum Tod von Henry Clerval. Es folgen Frankensteins Rückkehr in die Schweiz, die Hochzeit mit Elizabeth und ihr anschließender Tod sowie der von Frankensteins Vater. Das alles arbeitet Bess relativ zügig ab und stellt relativ wenig szenisch dar, sondern arbeitet mit Erzähltext und Einzelbildern. Etwas mehr Platz widmet Bess Frankensteins Jagd nach der Kreatur; zudem räumt er Captain Waltons Gedanken einige Textkästen ein, bis es schließlich zum unweigerlichen Ende kommt: Frankenstein stirbt und die Kreatur verschwindet mit dem Leichnam ins Ungewisse.

Visuell knüpft Bess direkt an seine Dracula-Adaption an: Wem diese stilistische zusagte, könnte auch mit den Zeichnungen in dieser Version von „Frankenstein“ zufrieden sein – beeindruckend sind sie zweifelsohne, allerdings finde ich persönlich die Dracula-Umsetzung deutlich gelungener. Das mag allerdings auch mit meinen persönlichen Vorlieben zusammenhängen. Wo Bess‘ „Dracula“ äußerst gotisch daherkommt und mitunter fast kafkaesk wirkt, konzentriert er sich in „Frankenstein“ in größerem Ausmaß auf die bereits erwähnten, üppigen Landschaften. Im visuellen Fokus steht außerdem zweifelsohne die Kreatur, die hier, zumindest meinem empfinden nach, deutlich präsenter ist als im Roman. Tatsächlich scheint Bess sich für alles abseits des Titelhelden, seiner Schöpfung und deren Beziehung zueinander kaum zu interessieren. Die Rolle der diversen Nebenfiguren, seien es Frankensteins Geliebte Elizabeth, die restlichen Familienmitglieder oder sein Freund Henry Clerval, sind bestenfalls Randerscheinungen und werden z.T. erst dann in die Handlung eingeführt, wenn sie unbedingt nötig sind – Justine Moritz sehen wir nur einmal von hinten, als die Kreatur ihr Williams Amulett unterschiebt, um sie zu belasten.

Fazit: Georges Bess‘ „Frankenstein“ ist, wie schon seine Dracula-Adaption, eine visuell beeindruckende Umsetzung des Klassikers, die jedoch hinter besagtem „Vorgänger“ ein wenig zurückbleibt. Bess legt seinen Fokus auf Frankenstein und die Kreatur, vernachlässigt aber die meisten anderen Figuren, deren Geschichte durchaus angemessen auf den Seiten mit Erzähltext und Landschaftsabbildungen hätten untergebracht werden können.

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Siehe auch:
Art of Adaptation: Frankenstein – Mary Shelleys Roman
Art of Adaptation: Georges Bess’ Dracula

Art of Adaptation: The Hellbound Heart

Halloween 2022
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Beim 1987 erschienen Film „Hellraiser“ handelt es sich um einen der seltenen Fälle, in denen ein Autor nicht einfach nur als Drehbuchschreiber oder Berater an der Filmadaption beteiligt ist, sondern das Ganze auch noch in Eigenregie umsetzt. Zustand kam diese Konstellation, weil Clive Barker mit vorherigen Adaptionen seiner Werke absolut unzufrieden war – die Umsetzung der Novelle „The Hellbound Heart“ wollte er deshalb selbst durchführen. Gerade in diesem Kontext traf Barker bei der filmischen Umsetzung einige interessante Entscheidungen. Nicht wenige, die die Novelle lesen, nachdem sie den Film gesehen haben, sind etwas erstaunt, wenn nicht gar enttäuscht, dass Pinhead (oder der „Hell Priest“; bekanntermaßen verabscheut Barker den Spitznamen Pinhead, den diese Horrorikone aber wohl nicht mehr loswird). Die deutsche Übersetzung, die den Filmtitel trägt, hat zu allem Überfluss auch noch Pinhead auf dem Cover und auch eine der englischen Ausgaben deutet Doug Bradleys ikonische Figur zumindest an, in der Geschichte selbst findet sich allerdings kaum eine Spur von ihm.

Handlung und Konzeption der Novelle
Zumindest im Groben stimmen Handlung von Novelle und Film überein: Der Hedonist Frank Cotton sucht nach neuen fleischlichen Genüssen und wird auf den sog. „Lemarchand-Würfel“ aufmerksam, der Wollust jenseits aller Vorstellungskraft verspricht. Frank gelingt es, den Würfel an sich zu bringen, sodass er die Cenobiten beschwören kann – bei diesen handelt es sich allerdings nicht, wie Frank angenommen hat, um willige, überirdisch schöne Frauen, sondern um entstellte Kreaturen, die Frank mit in ihr Reich nehmen, um ihm zu zeigen, dass Schmerz und Lust zwei Seiten derselben Medaille sind. Einige Zeit später ziehen Franks Bruder Rory und seine Frau Julia in Franks und Rorys Elternhaus ein – jenes Haus, in welchem Frank den Lemarchand-Würfel löste. Beim Einzug verletzt sich Rory und Blut tropft auf die Stelle, an der Frank bei seiner Begegnung mit den Cenobiten unwillentlich und -wissentlich etwas Ejakulat zurückließ – dies ermöglicht es Frank, dem Reich der Cenobiten zu entkommen und in die Welt der Lebenden zurückzukehren, wenn auch als geschwächtes und hautloses Etwas. Julia ist derweil in ihrer Ehe gelangweilt und unbefriedigt, sie sehnt sich nach Frank, mit dem sie kurz vor ihrer Hochzeit eine Affäre hatte. Als sie entdeckt, dass Frank noch… existiert und sich im Haus versteckt, entschließt sie sich, zuerst widerwillig, ihm zu helfen. Denn um sich zu regenerieren benötigt Frank vor allem Blut, und der attraktiven Julia ist es ein Leichtes, Männer ins Haus zu locken, damit Frank sie aussagen kann. Rorys Freundin Kirsty, die heimlich in Rory verliebt ist, schöpft allerdings Verdacht, als sie beobachtet, wie Julia fremde Männer ins Haus führt. Doch die Wahrheit, die sie bald darauf entdeckt, ist noch einmal deutlich schlimmer, denn sie entdeckt den hautlosen Frank, der sie zu töten versucht. Kirsty gelingt es, den Lemarchand-Würfel als Waffe gegen Frank zu verwenden und aus dem Haus zu entkommen. Kurz darauf bricht sie zusammen und wacht in einem Krankenhaus wieder aus. Eher aus Langweile löst auch sie den Würfel und beschwört unwillentlich einen Cenobiten, der jedoch bereits ist, Kirsty gehen zu lassen, wenn sie ihm Frank ausliefert. Also kehrt sie zurück und muss feststellen, dass Frank inzwischen Rory getötet und sich dessen Haut „angezogen“ hat. Chaos bricht aus, in welchem Frank eher versehentlich Julia tötet. Bald darauf tauchen die Cenobiten auf, um Frank zurück in ihr Reich zu holen…

Als Novelle ist „The Hellbound Heart” sehr geradlinig aufgebaut und schnörkellos erzählt. Die primären Figuren, durch deren Augen man Leser am Geschehen teilhat, sind Julia und Kirsty, aber auch an Frank Cottons Gedanken dürfen wir zumindest im ersten Kapitel teilhaben. Zugleich ist „The Hellbound Heart“ aber auch deutlich vielseitiger, als auf den ersten Blick deutlich wird. Nachdem der erste Hellraiser-Film Kultstatus erlangte, von den kontinuierlich schlechter werdenden Sequels gar nicht erst zu reden, mag das heute nicht mehr ganz so offensichtlich sein, aber Barkers Novelle ist innerhalb des „Übergenres Horror“ praktisch ein Chamäleon, das flüssig zwischen diversen Subgenres wechselt, in seinen Themen, primär der Dualität von Lust und Schmerz, aber immer konsistent bleibt. Die Novelle beginnt mit okkultem Horror und Franks Ritual, sodass man nun den Eindruck bekommen könnte, die Cenobiten seien die Monster des Werkes, dies erweist sich aber bald als Trugschluss. Daraufhin kombiniert Barker verschiedene Elemente: Spukhaus-, Vampir- und Serienkillergeschichte, von den dominanten Body-Horror-Elementen gar nicht erst zu sprechen. Diese werden in der Verfilmung natürlich noch einmal besonders betont, einerseits durch das grandiose Design der Cenobiten, aber auch durch Franks nicht minder grandiose Rückkehr in die Welt der Lebenden. Diese verläuft in der Novelle deutlich weniger spektakulär. Stets vorhanden bleibt dabei das erotische Element – und natürlich ist „The Hellbound Heart“ nach Barkers Aussage auch eine Liebesgeschichte, wenn auch eine extrem toxische, die die negativen Auswirkungen obsessiver Liebe und Lust schildert. Am Ende kehren die Cenobiten zurück und schließen damit den Kreis.

Familienbande
Handlungsverlauf und -struktur bleiben im Film größtenteils unverändert erhalten: Zu Beginn ruft Frank (Sean Chapman) die Cenobiten und wird von ihnen mitgenommen, sein Bruder und seine Schwägerin ziehen ins Haus ein, verursachen seine Rückkehr, Julia (Clare Higgins) wird zur Komplizin, Kirsty (Ashley Laurence) kommt dem allem auf die Spur und schafft es am Ende, die Cenobiten dazu zu bringen, Frank zurückzuholen. Die Änderungen finden sich vor allem in den Details und der Konzeption der Charaktere – und damit meine ich nicht den Umstand, dass Rory im Film Larry Cotton (Andrew Robinson) heißt. Für die Adaption entschloss sich Barker, das Ganze in noch stärkerem Ausmaß zu einem Familiendrama zu machen, in dem er Kirsty zur Larrys Tochter macht. Vielleicht wollte er rückwirkend Franks „Come to Daddy“, das im Film wie in der Novelle auftaucht, etwas mehr Kontext zu verleihen. Dementsprechend ändert sich auch das Alter der Figuren etwas: Es wird zwar nicht eindeutig erwähnt, aber doch impliziert, dass sich die vier Hauptfiguren alle etwa im gleichen Alter, Ende 20, Anfang 30 befinden. Im Film dagegen hat Larry nun eine erwachsene Tochter und ist damit automatisch älter, auch Julia und Frank scheinen ein paar Jahre hinzugewonnen zu haben. Davon abgesehen stimmen sie charakterlich mit der Vorlage ziemlich genau überein. Abermals ist es Kirsty, die sich am stärksten verändert hat.

Die Novellenversion ist ein ziemlich passiver Charakter, der sich vor allem durch die hoffnungslose Verliebtheit in Rory auszeichnet. Film-Kirsty dagegen wirkt deutlich aktiver und selbstbestimmter, sie ist zwar Larrys Tochter, wohnt aber nicht mehr bei ihm und hat eindeutig ihr eigenes Leben, während Buch-Kirstys Existenz sich größtenteils um Rory zu drehen scheint. Diese Unabhängigkeit wird u.a. durch ihren Freund Steve (Robert Hines) ausgedrückt, der in der Novelle natürlich nicht auftaucht. Kirstys Identität als Larrys Tochter sorgt zudem für zusätzlichen Inzest-Subtext, der in der Novelle ebenfalls nicht vorhanden ist.

Der erzählerische Kern bleibt im Film jedoch definitiv erhalten. Pinhead und die Cenobiten mögen die Poster des Films (und natürlich der Sequels) zieren, gerade in diesem ersten Film sind sie aber nur Randerscheinungen, weder Pro- noch Antagonisten, sondern fast schon passive Figuren, die nur reagieren, wenn jemand die Lemarchand-Box löst. Es ist Frank, der alles beginnt, es ist Julia, die sich entschließt, ihm zu helfen und es ist Kirsty, die schließlich die Cenobiten dazu bringt, Frank in ihr Reich zurückzuholen.

Einige Anpassungen sind zudem dem visuellen Medium geschuldet: Im ersten Kapitel erfährt man als Leser beispielsweise genau, wie Frank denkt, welche Ausmaße sein Hedonismus angenommen hat und wie und weshalb er die Lemarchand-Box in seinen Besitz gebracht hat. Der Film vermittelt diese Elemente nicht direkt über die Narration, sondern indirekt über visuelle Hinweise, beispielsweise die erotische Skulptur, die Julia im Haus findet. Auf die Hintergründe des Würfels, hier zumeist als „Lament Configuration“ bezeichnet, geht der Film zudem kaum ein, statt eines kurzen Abrisses von Franks okkulter Recherche sehen wir nur, wie er die Box in Marokko erwirbt. Manche der erwähnten Details werden dann allerdings in späteren Filmen aufgegriffen, primär in „Hellraiser: Bloodline“, dem vierten Teil, in welchem die Konstruktion der Box thematisiert und ihr Schöpfer Philippe Lemarchand (Bruce Ramsay) als wichtige Figur etabliert wird. Statt dieser Hintergründe taucht in „Hellraiser“ allerdings ein ominöser Wächter der Box in Gestalt eines insektenfressenden Obdachlosen auf, der die ganze Situation beobachtet und am Ende, als Kirsty versucht, die Box zu verbrennen, einschreitet und sich in einen aus Knochen bestehenden Drachen verwandelt.

„We Have Such Sights to Show You”
Die Beschreibung der vier Cenobiten in Barkers Novelle bleibt verhältnismäßig vage, sie werden als verstümmelt, vernarbt und größtenteils geschlechtslos beschrieben, fahlhäutig, mit Asche gepudert und von einem Vanille-Duft begleitet. Die Mischung aus S/M-Ästhetik und katholisch anmutenden Gewändern, derer sich der Film bedient, wird nicht wirklich erwähnt und entstand erst bei der visuellen Konzeption des Films. Der in diesem Jahr erschienene Reboot (der bislang in Deutschland weder stream- noch erwerbbar ist) zeigt diesbezüglich durchaus interessante Alternativen. Das Quartett, mit dem es Frank zu Beginn der Novelle zu tun bekommt, entspricht zumindest ungefähr den späteren Filmgegenstücken: Einer mit entstelltem Mund entwickelte sich im Schaffensprozess zum Chatterer (Nicholas Vince), aus dem Cenobiten mit wulstigen Narben im Gesicht wurde Butterball (Simon Bamford), ein eindeutig weiblicher entwickelte sich zum Female Cenobite (Grace Kirby) und schließlich hätten wir noch den Cenobiten mit Nadeln im Kopf, der sich schließlich zu Pinhead entwickeln sollte. Dieser Cenobit unterscheidet sich vor allem in zwei Eigenschaften von der von Doug Bradley verkörperten Horror-Ikone: Seine Stimme wird als hoch und mädchenhaft beschrieben, in Kontrast zu Bradleys beeindruckendem Bass, und er ist zudem nicht der Wortführer der Cenobiten, sondern derjenige, der am wenigsten sagt. Dass sich Letzteres im Film änderte, ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass Chatterer und Butterball aufgrund der aufwändigen Masken nicht sprechen konnten, weshalb man ihre Dialogzeilen aus der Novelle Pinhead in den Mund legte.

In der Adaption wie in der Vorlage tauchen die Cenobiten in drei Szenen auf, die Gewichtung unterscheidet sich allerdings ein wenig. Der große Auftritt des Quartetts erfolgt in der Novelle bereits am Anfang, inklusive ausführlicher Dialoge mit Frank. Der Film hingegen zeigt nur vage Eindrücke und kurze Einblendungen. Ihre tatsächliche, große Szene im Film erfolgt erst im Krankenhaus, als Kirsty die Lament Configuration löst – abermals in deutlichem Unterschied zur Novelle. Kirsty gerät im Film zuerst in das Reich der Cenobiten, wo sie von einem bizarren Monster angegriffen wird (hierzu später mehr), erst danach trifft sie auf das Quartett. In der Vorlage hingegen taucht an dieser Stelle nur ein einziger Cenobit auf, das literarische Gegenstück des Female Cenobite. Am Ende erscheinen die Cenobiten noch einmal, um Frank einzusammeln, werden in der Novelle aber vom „Ingenieur“, ihrem Anführer begleitet, dessen Beschreibung sehr vage bleibt. Im Film existiert ebenfalls ein Wesen, das als „Ingenieur“ bezeichnet wird, dabei handelt es sich allerdings um das oben erwähnte, bizarre Monster, das Kirsty durch die Gänge des Labyrinths jagt. Es sei noch zu erwähnen, dass die Cenobiten Kirsty in der Novelle, anders als in der Adaption, nicht angreifen, der Ingenieur gibt ihr lediglich die Lemarchand-Box.

Fazit: Trotz einiger größerer Änderungen ist „Hellraiser“ eine würdige Adaption der Novelle „The Hellbound Heart“. Oftmals kommt es vor, dass ein Autor, der sein eigenes Werk adaptiert, nicht gewillt ist, die nötigen Änderungen für einen funktionierenden Medienwechsel vorzunehmen, auf Clive Barker trifft das allerdings nicht zu, im Gegenteil. Mit „Hellraiser“ schuf Barker nicht nur einen vollauf gelungenen Horrorfilm, sondern, zusammen mit Doug Bradley, auch eine Ikone des Genres.

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Trailer

Siehe auch:
The Scarlet Gospels
Hellbound Hearts
Stück der Woche: Hellbound
Hemators Empfehlungen: Horror-Soundtracks

Art of Adaptation: Frankenstein – Mary Shelleys Roman

Halloween 2022
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Während Dracula beständiger Gast meines Blogs ist, habe ich mich mit der anderen großen, klassischen Horror-Ikone deutlich seltener bzw. bislang so gut wie gar nicht beschäftigt: Frankenstein. Das hängt natürlich einerseits mit meiner wahrscheinlich nicht völlig gesunden Fixierung auf Vampire zusammen, allerdings boten sich in den letzten Jahren auch deutlich weniger Gelegenheiten. Mary Shelleys Roman wurde zwar ebenfalls unzählige Male adaptiert, aber doch deutlich seltener als Stokers Graf, der nicht nur regelmäßig alle paar Jahre in einer neuen Adaption zu sehen ist, sondern auch in allen möglichen und unmöglichen Werken Gastauftritte absolviert und sich nach wie vor mit Sherlock Holmes um die Krone der am häufigsten adaptierten literarischen Figur streitet. Vielleicht hängt das auch damit zusammen, dass im Zentrum von „Frankenstein, or the Modern Prometheus“ zwei Figuren und nicht eine stehen. Zwar denken die meisten bei der Erwähnung des Titels an die von Boris Karloff dargestellte Version des Monsters, aber, wie Klugscheißer wie ich nicht müde werden immer wieder anzumerken, bezieht sich der Titel auf den Schöpfer des Monsters und nicht auf das Monster selbst. Gerade im Hinblick auf Adaptionen ist diese Doppelung faszinierend. Es existieren zwei mehrere Filme umfassende Frankenstein-Filmreihen, die von Universal konzentriert sich stärker auf das Monster (wenn auch nicht immer von Boris Karloff dargestellt), während der Dreh- und Angelpunkt der Hammer-Frankenstein-Filme der von Peter Cushing gespielte Doktor ist. Tatsächlich bekommt man das ursprüngliche Monster (Christopher Lee) nach dem ersten Film nicht mehr zu sehen. Aber darum soll es in diesem Artikel (noch) nicht gehen, stattdessen werde ich erst einmal den eigentlichen Roman unter die Lupe nehmen, bevor in den Folgeartikeln die diversen Adaptionen an der Reihe sind.

Entstehung
Die Entstehungsgeschichte des Romans (oder zumindest ein essentielles Element) ist tatsächlich ziemlich bekannt und wurde ihrerseits schon das eine oder andere Mal filmische umgesetzt, etwa im Kontext eines biografischen Films wie „Mary Shelley“ (2017) mit Elle Fanning in der Titelrolle, häufiger ist aber tatsächlich eine Adaption des auslösenden Ereignisses, wie sie in „Gothic“ (1986) mit Natasha Richardson oder „Haunted Summer“ (1988) mit Alice Krige zu finden ist. Im Jahr 1816, dem „Jahr ohne Sommer“ (ausgelöst durch einen Vulkanausbruch) befanden sich die damals 18-jährige Mary Wollenstonecraft Godwin, ihre Verlobter Percy Bysshe Shelley, ihre Stiefschwester Claire Clairmont sowie der berühmte Poet Lord Byron und dessen Leibarzt John William Polidori in der Villa Diodati am Genfer See in der Schweiz, wo sie ihren Urlaub verbrachten, aufgrund des schlechten Wetters aber drinnen bleiben mussten. Also beschäftigten sie sich mit einem Band deutscher Geistergeschichten und kamen schließlich auf die Idee, sich selbst am Abfassen einer derartiger Storys zu versuchen. Während Byron und Shelley nicht allzu weit kamen, erdachte Mary Godwin hier die Grundlage für „Frankenstein“, die, nach eigener Aussage, auf einem Traum basierte. Zudem fanden viele Elemente aus Shelleys bisherigem Leben Eingang in den Roman, die nach und nach sterbenden Verwandten und Angehörigen des Titelhelden erinnern beispielsweise an die Tragödien, die Mary Shelley selbst durchleben musste, vom Tod der Mutter (der auch zu Beginn von Frankensteins Erzählung steht) bis hin zum Tod ihres ersten Kindes kurz nach der Geburt im Jahr 1815.

Es sollte zudem erwähnt werden, dass Polidori ebenfalls mit seinem Vorhaben durchaus erfolgreich war, denn seine Kurzgeschichte „The Vampyre“ entstand ebenfalls in diesem Kontext – die Kurzgeschichte, die dem adeligen und scheinbar zivilisierten Vampir, den wir heute kennen, zu seinem Debüt verhalf, ein ganzes Subgenre des Horrors begründete und in letzter Konsequenz auch „Dracula“, „Interview with the Vampire“ und so viele andere direkt oder indirekt inspirierte. Somit war der Sommer 1816 für die Horrorliteratur zweifelsohne ein Wendepunkt – das aber nur am Rande.

„Frankenstein“ wurde schließlich bis zum Jahr 1818 fertiggestellt und auch veröffentlicht, zuerst anonym, weshalb der Roman zu Anfang Percy Shelley zugeschrieben wurde, vielleicht auch, weil er es war, den die Verträge mit dem Verlag aushandelte. 1931 erschien eine von Mary Shelley stark überarbeitete Version des Romans – in literaturwissenschaftlichen Kreisen wird mitunter heftig diskutiert, ob die Ausgabe von 1818 oder die von 1931 als primäre Forschungsgrundlage dienen sollte, generell ist es allerdings die neuere Auflage, die häufiger in Umlauf ist, eine ganze Reihe an Forschern und Literaturwissenschaftlern, beispielsweise Leslie S. Klinger, der Verfasser bzw. Herausgeber von „The New Annotated Frankenstein“, zieht die ursprüngliche Version vor.

Handlung und Struktur
„Frankenstein“ besitzt drei unterschiedliche Erzählebenen mit drei unterschiedlichen Ich-Erzählern. Der erste ist Captain Robert Walton, der sich an Bord eines Expeditionsschiffes befindet, das Richtung Nordpol fährt und der dabei seiner Schwester Margaret Walton Saville Briefe schreibt, in denen er ihr von seinen Erlebnissen berichtet. Eines Tages sehen Walton und die Crew aus der Ferne einen übergroßen Mann auf einem Hundeschlitten. Einige Stunden später nehmen sie einen beinahe erfrorenen Schiffbrüchigen an Bord, der sich als Victor Frankenstein vorstellt. Walton und Frankenstein verstehen sich sofort gut, sind sie doch beide Männer der Wissenschaft, Frankenstein warnt Walton allerdings vor dem, was ungebremster Wissensdurst anrichten kann und beginnt, dem Captain seine Geschichte zu erzählen. Diese Geschichte macht den Hauptteil des Romans aus. Frankenstein berichtet von seiner Jugend in Genf und seiner Familie – besonders zu seinem Bruder William und seiner Stiefschwester Elizabeth hat er ein inniges Verhältnis. Schließlich beginnt er, von wissenschaftlicher Neugier getrieben, sein Studium an der Universität Ingolstadt.

Schon bald ist er faszinierte von der Idee, selbst Leben schaffen zu können und beginnt schließlich, mit Hilfe von Leichenteilen und anatomischen Studien einen Humanoiden zu schaffen, dem er mit einer speziellen, nicht näher erläuterten Technik Leben einhauchen möchte. Dies gelingt auch, doch beim Anblick des monströs aussehenden Wesens ist Frankenstein schockiert und flieht aus seinem Labor. Als er mit seinem Freund Henry Clerval zurückkehrt, ist seine Schöpfung allerdings verschwunden. Die Erfahrungen sorgen für eine mehrmonatige Krankheit Frankensteins, während der er von Clerval gepflegt wird. Erst ein Brief aus der Heimat, der vom Tod seines Bruders William berichtet, reißt ihn aus der Katatonie. In Genf erhascht Victor einen kurzen Blick auf die von ihm erschaffene Kreatur und hat sie sofort als Täter im Verdacht. Die Gerichtsbarkeit hat allerdings eine andere Schuldige gefunden Justine Moritz, die nicht nur Williams Kindermädchen, sondern auch eine gute Freundin von Frankenstein und Elizabeth ist, wird des Mordes beschuldigt und schließlich hingerichtet. Victor macht sich daraufhin in die Berge auf, um die Wahrheit in dieser Sache herauszufinden.

Und tatsächlich findet Victor Frankenstein die von ihm geschaffene Kreatur, die sich als äußerst gesprächig erweist und Frankenstein bittet, sich ihre Geschichte anzuhören. Hier setzt die dritte Erzählebene ein und Frankensteins künstlicher Mensch berichtet von seinem Schicksal seit seiner Erschaffung, von seiner Zeit in der Wildnis und der ersten Begegnung mit Menschen, die ihn aufgrund seines abstoßenden Äußeren zurückweisen, weshalb er verbittert und zynisch wird. Wie nicht anders zu erwarten ist die Kreatur auch für den Mord an William verantwortlich, ebenso wie für die Verhaftung Justines. Schließlich bittet die Kreatur ihren Schöpfer, ihr eine Gefährtin zu machen und verspricht als Gegenleistung, Frankenstein und alle Menschen in Ruhe zu lassen.

Zuerst ist Victor einverstanden, begibt sich nach Irland und beginnt mit der Arbeit, schreckt dann allerdings vor dem Gedanken zurück, hier eine neue Spezies monströser Wesen zu schaffen und zerstört seine Arbeit schließlich. Die Kreatur ist außer sich und nimmt blutige Rache, indem sie Victors Freund Clerval tötet. Frankenstein selbst wird für den Mord verantwortlich gemacht, kann jedoch seine Unschuld beweisen und kehrt nach Genf zurück. Bereits seit langem planten Frankensteins Eltern, Victor mit seiner Stiefschwester Elizabeth zu verheiraten, doch noch in der Hochzeitsnacht tötet die Kreatur nun auch Elizabeth. Der Schreck über den Tod der Adoptivtochter kostet auch Victors Vater das Leben. Daraufhin verfolgt Frankenstein seine Schöpfung durch ganz Europa – so haben sowohl er als auch die Kreatur den Polarkreis erreicht. Kurz nachdem er seine Erzählung beendet hat, stirbt Frankenstein an Entkräftung. Daraufhin erscheint die Kreatur, betrauert den Tod ihres Schöpfers und verschwindet mit dem Leichnam, um nie wieder aufzutauchen.

Deutung und Wirkung
Zumindest mit dem groben Konzept von „Frankenstein“ sind die meisten Menschen ebenso vertraut wie mit dem von „Dracula“: Verrückter Wissenschaftler erschafft ein Monster aus Leichenteilen – diese groben, wenn nicht gar unzutreffende Handlungsbeschreibung ist der Aspekt, der sich in der Popkultur festgesetzt und am häufigsten reproduziert wird, nicht zuletzt bedingt durch die frühen filmischen Adaptionen von Universal. Von Lovecrafts „Herbert West – Reanimator“ bis hin zu Tim Burtons „Frankenweenie“ finden sich unzählige Verarbeitungen, Parodien oder Pastichen. Wenn Mary Shelleys Roman dann tatsächlich gelesen wird, sind die meisten, die die Geschichte durch die Filme oder popkulturelle Osmose kennen, zumeist darüber verblüfft, wie eloquent die Kreatur ist oder wie sehr sich der eigentliche Horror zurückhält, zumindest der Horror, den man vielleicht erwarten würde. Tatsächlich verwendet Mary Shelley nicht allzu viel Platz für die Beschreibung der Erschaffung oder des Äußeren der Kreatur. Bezüglich seiner Forschungen hält sich Frankenstein als Erzähler bewusst zurück, da er fürchtet, diese könnten reproduziert werden. Das Monster hat laut Beschreibung im Roman gelbe Haut, die Muskeln und Adern nur unzureichend verbirgt, schwarze Lippen und Haare sowie wässrige Augen. Den genauen Entstellungsgrad schildert Shelley nicht und überlässt vieles der Vorstellungskraft; keine Spur vom viereckigen Schädel, den Narben oder den Schrauben im Hals, die Boris Karloffs Version der Figur unsterblich machen sollten.

Weder ist Frankenstein der tatsächlich verrückte Wissenschaftler, als der er zumeist wahrgenommen wird, noch ist seine Schöpfung ein Monster im eigentlichen Sinn, und schon gar kein tumbes Wesen, das nicht einmal weiß, was es tut, wie es in Universals Filmen der Fall war. Sowohl Frankenstein als auch die Kreatur sind zutiefst fehlerhafte, aber auch tragische Figuren, in beiden Fällen allerdings nicht, weil sie naiv wären oder sich der Konsequenzen ihrer Taten nicht bewusst sind. Beiden gelingt es allerdings nicht, ihre eigene Perspektive außen vorzulassen. Zwar erkennt Frankenstein schließlich seine Verantwortung an, kann sich aber nicht dazu durchringen, seiner Schöpfung Empathie entgegenzubringen. Die Kreatur fungiert in diesem Aspekt als Spiegelbild Frankensteins – zurecht ist sie wütend auf ihren Schöpfer, tötet und vernichtet dann aber völlig unschuldige Menschen, um sich an Frankenstein rächen zu können. Tatsächlich ist William einer der wenigen Menschen, die der Kreatur Mitgefühl entgegenbringt. Der eigentliche Horror von „Frankenstein“ entstammt nicht einem Monster aus Leichenteilen, sondern der konsequenten Uneinsichtigkeit und des Empathiemangels zweier Personen, die dabei so viele andere mit in den Abgrund reißen.

Natürlich ist „Frankenstein“ für das Science-Fiction-Genre mindestens ebenso essentiell wie für das Horror-Genre, vielleicht sogar noch essentieller. Nicht nur das gesamte Konzept des künstlichen Menschen lässt sich zumindest in großen Teilen auf diesen Roman zurückführen, auch die Art und Weise, wie ein Sci-Fi-Element, hier die Erschaffung eines künstlichen Menschen, zu sehr menschlichem Drama führt, bereitet die Klassiker der Science-Ficition-Literatur und natürlich die daraus entshenden Filme und Serien vor. Thematisch ist ein Film wie „Ex Machina“ (2014) deutlich näher an Shelleys Roman als Action-Trash wie „I, Frankenstein“ (ebenfalls 2014), obwohl Letzterer sich direkt auf den Titel beruft.

Vermächtnis
Wie bereits erwähnt wurde „Frankenstein“ unzählige Male adaptiert, von der kleinen Billigproduktion bis hin zum großen Studioprojekt mit vielen Stars. Und ebenso wie bei „Dracula“ haben die Verfilmungen die Wahrnehmung des Romans massiv beeinflusst – das trifft natürlich vor allem auf die Universal-Adaption aus den 1930ern zu, vielleicht sogar noch mehr, als es bei Stoker der Fall war. Neben den tatsächlichen Umsetzungen des Romans finden sich natürlich auch unzählige Gastauftritte des Monsters und (nicht ganz so häufig) seines Schöpfers. Gerade in Crossover-Projekten, ernsten wie parodistischen, ist Frankensteins Monster ein gern gesehener Gast. Das geht zurück zu Universal Filmen wie „Abbott and Costello Meet Frankenstein“ (1948) über „The Munsters“ (Originalserie 1964 bis 1966) bis hin zu moderneren Crossovern wie „Van Helsing“ (2004) oder „Penny Dreadful“ (2014 bis 2016). Natürlich werde ich im Rahmen dieser Artikelreihe nicht alle Adaptionen besprechen, der Fokus soll zuerst einmal auf den „drei großen Filmen“ liegen: Universals „Frankenstein“ (1931), Hammers „Curse of Frankenstein“ (1957) und „Mary Shelley’s Frankenstein“ (1994). Zudem möchte ich den Fokus auf die eine oder andere Comicadaption legen, die nicht aus dem anglo-amerikanischen Raum stammt.

Wie üblich folgt an dieser Stelle die obligatorische Empfehlung der Gruselkabinett-Adaption von „Frankenstein“, besonders für alle, die mit über hundert Jahre alten Romanen vielleicht so ihre Probleme habe. Wie gewohnt handelt es sich beim zweiteiligen Hörspiel von Marc Gruppe und Stephan Bosenius um eine ebenso atmosphärische wie hochwertige und Vorlagengetreue Umsetzung von Mary Shelleys Geschichte. Besonders zu überzeugen wissen Peter Flechtner (deutsche Stimme von Ben Affleck) als Victor Frankenstein und Klaus-Dieter Klebsch (deutsche Stimme von Hugh „Dr. House“ Laurie und Josh Brolin) als Kreatur – beiden gelingt es, die tragischen, vielschichtigen Figuren des Romans angemessen stimmlich darzustellen.

Bildquelle

Siehe auch:
Geschichte der Vampire: The Vampyre
Geschichte der Vampire: Dracula – Bram Stokers Roman
Penny Dreadful Staffel 1