In the Tall Grass

Halloween 2020! Spoiler!
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Story: Auf dem Weg nach San Diego halten die schwangere Becky (Laysla De Oliveira) und ihr Bruder Cal (Avery Whitted) neben einem Feld mit hohem Gras, da Becky mit Übelkeit zu kämpfen hat. Aus dem Feld hören sie die Stimme eines Jungen, der um Hilfe ruft. Die beiden betreten das Grasfeld, nur um festzustellen, dass hier etwas ganz und gar nicht mit rechten Dingen zugeht, denn jegliche Orientierung erweist sich als völlig unmöglich. Die Geschwister können einander zwar noch hören, aber nicht wiederfinden. Schließlich begegnen sie nicht nur dem Jungen, Tobin (Will Buie Jr.), sondern auch dessen Vater Ross (Patrick Wilson), die sich beide jedoch reichlich merkwürdig verhalten. Auch Beckys Ex-Freund und Vater ihres ungeborenen Babys, Travis (Harrison Gilbertson), der den beiden Geschwistern gefolgt ist, landet schließlich im Grasfeld und muss feststellen, dass dieser ominöse Ort nicht nur den Raum, sondern auch die Zeit verzerrt…

Kritik: Was wäre Halloween ohne ein wenig Stephen King? Bei „In the Tall Grass“ (deutscher Titel „Im hohen Gras“) handelt es sich um eine Novelle, die King gemeinsam mit seinem Sohn Joe Hill verfasste und die Regisseur Vincenzo Natali bereits seit 2015 filmisch umsetzen wollte – 2019 erschien die Adaption schließlich auf Netflix. Da ich besagte Novelle nicht gelesen habe, kann ich nichts zur Vorlagentreue sagen, eine kurze Recherche lässt allerdings vermuten, dass sich Natali einige Freiheiten genommen hat, besonders, was das Ende angeht. Wie dem auch sei, „In the Tall Grass“ reiht sich ganz gut in die Riege der King-Werke ein, in denen der Horror aus etwas scheinbar Gewöhnlichem erwächst; einer ähnlichen Grundprämisse folgten bereits der Roman sowie die zugehörige Filmadaption „Gerald’s Game“ sowie diverse Kurzgeschichten, zum Beispiel „A Very Tight Place“ oder „The Ledge“. Anders als bei diesen Beispielen kommt bei „In the Tall Grass“ allerdings ein eindeutig übernatürliches Element hinzu. Als Zuschauer wird man recht lange im Dunklen darüber gehalten, was eigentlich Sache ist, was den ersten Akt zum wirkungsvollsten Teil des Films macht – Natali gelingt es sehr gut, das Grasfeld zu einem klaustrophobischen, beklemmenden Ort zu machen und die völlige Orientierungslosigkeit seiner Protagonisten effektiv einzufangen. Diese Inszenierung des Grasfelds als Entität mit eigenem Willen lässt immer wieder Elemente des kosmischen Horrors anklingen, was beim Lovecraft-Fan King nicht weiter verwunderlich ist. Tatsächlich erinnert „In the Tall Grass“ ein wenig an Robert E. Howards wohl bekannteste Kurzgeschichte im Lovecraft’schen Stil, „The Black Stone“, nicht zuletzt, weil im Zentrum des Grasfeldes ein schwarzer Stein steht, von dem die Verzerrung von Zeit und Raum auszugehen scheint. Mehr noch, es werden kultische Rituale inklusive der Opferung eines Babys impliziert und auch in „The Black Stone“ findet gewissermaßen eine Zeitverzerrung statt.

Im weiteren Verlauf wird „In the Tall Grass“ allerdings schwächer als im atmosphärischen ersten Drittel. Der abstrakte Schrecken des Grasfeldes wird durch Patrick Wilson abgelöst, der, durch Berührung des schwarzen Steins, gewissermaßen zur Manifestation des Grasfelds wird. Wilson macht das nicht übel, die Fremdartigkeit und abstrakte Natur der Bedrohung geht nun allerdings teilweise verloren, da Wilsons Ross nun als eindeutiges „Gesicht des Bösen“ fungiert und stärker in den Fokus rückt. Darüber hinaus versucht Natali, den Horror persönlicher zu gestalten und den Hintergrund von Becky, Cal und Travis in die Narrative miteinzubeziehen, was allerdings nicht allzu gut gelingt. Die entsprechenden Szenen wirken aufgesetzt und muten wie Fremdkörper an. Mitunter wird man außerdem das Gefühl nicht los, dass Natali, der auch das Drehbuch verfasste, die Handlung der Novelle doch ein wenig ausdehnen musste, um auf die Filmlaufzeit zu kommen – das ist allerdings lediglich eine Vermutung.

Trotz des verhältnismäßig positiven Ausgangs (der mich letztendlich davon abhält, diesen Film tatsächlich als „kosmischen Horror“ zu klassifizieren; das mag bei der Vorlage allerdings anders sein), finden sich hier viele interessante Andeutungen. Als Zuschauer wird einem nie erklärt, wie genau das Grasfeld und der schwarze Stein „funktionieren“. Gerade dieser Ausgang deutet darauf hin, dass „die Entität“ (in Ermangelung eines besseren Wortes) vielleicht gar nicht per se bösartig ist, sondern dass die Natur derjenigen, die mit ihr interagieren, eine wichtige Rolle spielt. Ross wird in den wenigen Momenten, in denen er nicht vom schwarzen Stein beeinflusst wird, als nicht unbedingt positive Person charakterisiert – die Figurenarbeit ist allerdings nicht ausreichend genug, um diesbezüglich ein finales Urteil fällen zu können.

Fazit: Atmosphärischer, wenn auch recht unebener King/Hill-Horror mit leichten Anklängen kosmischen Grauens.

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Siehe auch:
Das Spiel (Gerald’s Game)

Das Spiel

Halloween 2017
geraldsgame
Story: Jessie (Carla Gugino) und Gerald (Bruce Greenwood) wollen wieder etwas Schwung und Feuer in ihre Ehe bringen und fahren deshalb zu einem Seehaus in Alabama, um dort das Wochenende zu verbringen. Auf Geralds Wunsch hin lässt sich Jessie mit Handschellen ans Bett fesseln. Leider erweist sich kurz darauf, dass das die beiden Viagra, die Gerald genommen hat, eine schlechte Idee waren, denn er erleidet einen Herzinfarkt und stirbt vor Ort. Nun ist Jessie allein und ans Bett gefesselt, während die Haustür offen steht, sodass sie sich fragen muss, ob noch mehr im Wald lauert als der streunende Hund, den sie auf der Herfahrt gesehen hat…

Kritik: 2017 ist das Jahr der Stephen-King-Adaptionen; zwei hochkarätige Filme haben es bereits ins Kino geschafft. Zwar erwies sich „Der dunkle Turm“ als wenig erfolgreich, dafür brach „ES“ aber diverse Rekorde und mauserte sich zum Publikums- und Kritikerliebling. Bei all dem Hype sollte man aber die dritte King-Verfilmung dieses Jahres nicht vergessen. „Das Spiel“ (Originaltitel: „Gerald’s Game“), basierend auf dem gleichnamigen Roman aus dem Jahr 1992, ist eine Netflix-Produktion, lief nur in wenigen Kinos in den USA und ist hierzulande ausschließlich bei besagtem Streamingdienst verfügbar. Anders als bei den anderen beiden King-Filmen handelt es sich bei „Das Spiel“ um eine weit intimere Geschichte ohne übernatürliche Einflüsse. Vor allem die ersten beiden Akte bauen ausschließlich auf Suspense, im dritten gibt es dann noch ein kurzes, aber ziemlich ekliges und schmerzhaftes Intermezzo, auf das ich hier aus Spoilergründen natürlich nicht näher eingehen werde.

Eine beliebte Quelle des Horrors sind in Kings Werken oftmals geradezu alltägliche Situationen, die einfach nur fürchterlich schief gehen. Ein besonders eindrückliches Beispiel ist die Kurzgeschichte „In der Klemme“, in welcher der Protagonist in einem umgestürzten Dixieklo festsitzt und ihm die Scheiße buchstäblich bis zum Hals steht. Jessie in „Das Spiel“ befindet sich in einer ähnlichen, wenn auch nicht so ekligen Situation. Die Spannung derartiger Geschichten rührt natürlich nicht nur aus der Situation selbst, sondern auch daher, dass die Protagonisten gezwungen sind, sich mit den Dämonen ihrer eigenen Vergangenheit herumzuschlagen. Ironischerweise hat Jessie diesbezüglich einige Gemeinsamkeiten mit Beverly aus „ES“. Wie dem auch sei, der Fokus auf Jessie gibt Carla Gugino jedenfalls die Gelegenheit zu zeigen, wie gut und unterschätzt sie ist. Tatsächlich macht Regisseur Mike Flanagan mit sehr wenig sehr viel. Der Großteil des Films spielt in einem einzigen Raum und zeigt, wie Jessie gegen ihr Schicksal und den Wahnsinn ankämpft, der sich in Form von Illusionen ihrer selbst und ihres toten Mannes manifestiert. Und ein Kindheitstrauma spielt natürlich auch noch mit. „Das Spiel“ lebt regelrecht von Guginos und, in geringerem Maße, Bruce Greenwoods exzellentem Spiel. Trotz der fast schon minimalistischen Ausstattung schafft Flanagan es vorzüglich, die Spannungsschraube anzudrehen und das physische und psychische Martyrium, das die Protagonistin durchstehen muss, anschaulich und eindringlich zu inszenieren.

Fazit: „Das Spiel“ ist ein fieser, kleiner und intimer Psychohorrorfilm, in dem Carla Gugnio zeigen kann, was für eine exzellente Schauspielerin sie ist. Definitiv eine der besseren Stephen-King-Verfilmungen.

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Halloween 2017:
Prämisse
Lovecrafts Vermächtnis: The Courtyard/Neonomicon/Providence
Geschichte der Vampire: Dracula – Bram Stokers Roman
ES

ES

Halloween 2017
es
Story: Eigentlich scheint Derry in Maine eine ganz gewöhnliche Kleinstadt zu sein, doch dem ist nicht so, denn alle 27 Jahre erwacht ES um zu morden. So auch im Oktober des Jahres 1988, in dem ES sich den kleinen Georgie Denbrough (Jackson Robert Scott) in der Gestalt des Clowns Pennywise (Bill Skarsgård) einverleibt, was seinen großen Bruder Bill (Jaeden Lieberher) sehr mitnimmt. Im folgenden Sommer verschwinden immer mehr Kinder, sodass Bill und seine Freunde vom „Club der Verlierer“, die alle aus dem einen oder anderen Grund Außenseiter sind, auf ES aufmerksam werden. Zum Club gehören der übergewichtige Ben Hanscom (Jeremy Ray Taylor), die angeblich promiskuitive Beverly Marsh (Sophia Lillis), der jüdische und mysophobe Stan Uris (Wyatt Oleff), der Hypochonder Eddie Kaspbrak (Jack Dylan Grazer), der schwarze Mike Hanlon (Chosen Jacobs) sowie Richie Tozier (Finn Wolfhard), der seine Klappe nicht halten kann. ES quält sie schon bald mit ihren schlimmsten Ängsten, was die „Verlierer“ nicht einfach so tatenlos hinnehmen wollen. Doch können sie überhaupt etwas gegen ein Wesen wie ES ausrichten…?

Kritik: „ES“ dürfte wohl eines der bekanntesten Werke von Stephen King sein, nicht zuletzt wegen der Adaption als Miniserie aus dem Jahr 1990, in welcher Tim Curry Pennywise spielte. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich besagte Serie nie zur Gänze gesehen habe, höchstens Mal einen Ausschnitt hier und da. Den Roman habe ich ebenfalls nicht gelesen, zur Vorbereitung auf den Film habe ich allerdings begonnen, die Hörbuchfassung zu hören. Zwar bin ich noch nicht fertig (das Teil dauert 50 Stunden), aber ich bin doch immerhin schon weit genug, um ein paar Dinge zum Thema Vorlagentreue beisteuern zu können.

Die Neuverfilmung von „ES“ ist schon eine ganze Weile in Arbeit und wurde auch schon von einigen Regisseuren betreut, darunter David Kajganich und Cary Fukunaga, die endgültige Umsetzung übernahm dann allerdings der Argentinier Andy Muschietti, der 2013 bereits mit dem von Guillermo del Toro produzierten „Mama“ bewies, dass er einen Horrorfilm eindrucksvoll inszenieren kann. Die ersten Trailer von Muschiettis Neuverfilmung generierten einen ziemlich Hype, der sich nun auszuzahlen scheint, denn für einen Horror-Film mit R-Rating erweist sich „ES“ als äußerst erfolgreich. Der Film passt allerdings auch ziemlich gut zum Zeitgeist, schließlich gab es erst letztes Jahr diverse Probleme mit Horror-Clowns und zudem ist 80er-Jahre-Nostalgie gerade sehr angesagt. Dementsprechend wurden gegenüber der Vorlage auch einige Anpassungen vorgenommen.

Kings Roman spielt auf zwei Zeitebenen, die parallel erzählt werden. 1956/57 findet die erste Begegnung des „Clubs der Verlierer“ mit ES statt, die in ausführlichen Rückblicken geschildert wird. Etwas mehr als 27 Jahre später, nämlich 1985/86, kehrt ES zurück und die inzwischen erwachsenen Club-Mitglieder kehren in ihre alte Heimatstatt Derry zurück, um das Wesen abermals zu bekämpfen. Muschiettis Neuverfilmung erzählt nur von der ersten Begegnung in den 50ern, es gibt keine zwei Zeitebenen und Rückblicke (es wurde aber bereits ein Sequel für 2019 angekündigt). Zudem wird die Handlung zum Großteil ins Jahr 1989 (zufälligerweise mein Geburtsjahr) verlegt, wohl gerade, um sich die 80er-Nostalgie gleich doppelt zunutze zu machen. Nicht umsonst gibt es inhaltliche wie inszenatorische Parallelen zur Netflix-Serie „Stranger Things“, mit Finn Wolfhard teilen sich beide Projekte sogar einen Darsteller. Ansonsten folgt der Film dem 50er-Handlungsstrang des Romans verhältnismäßig genau, auch wenn es einige Unterschiede bei den Details gibt. Da King alles sehr, sehr ausführlich schildert, muss selbst eine zweigeteilte Verfilmung Abstriche machen. Der Film kompensiert und verschlankt vieles deutlich und hat auch keinerlei Probleme damit, diverse Details zu verändern, um eine stringente Geschichte zu erzählen. So werden unter anderem die Familienverhältnisse angepasst (im Roman sterben Mikes Eltern nicht durch ein Feuer, während Beverly nicht mit ihrem Vater allein lebt) und auch die Ängste der Protagonisten werden zum Teil verändert (so taucht das Bild, vor dem Stan sich fürchtet und das eine große Ähnlichkeit zur Titelfigur von Muschiettis „Mama“ aufweist, im Roman nicht auf). Darüber hinaus beschäftigt sich der Film noch nicht wirklich mit der Überbau des Romans bzw. mit der Wesenheit ES und seinen Hintergründen, die u.a. Verknüpfungen zu Kings Dunkler-Turm-Saga haben. Tatsächlich handelt es sich bei ES um eine uralte Entität, die noch von ungefähr an eine Lovecraft’sche Wesenheit erinnert. Diese Elemente des Kosmischen Horrors treten in der Neuverfilmung allerdings (noch?) kaum auf, es gibt lediglich einige subtile Andeutungen (etwa die Lego-Schildkröte).

Insgesamt ist „ES“ zu gleichen Teilen Horror- und Kinder-Abenteuerfilm (soll heißen: Abenteuer mit Kindern, nicht Abenteuer für Kinder). Interessanterweise funktioniert er als Letzteres fast besser. Die Horrorelemente des Films sind mitunter tonal etwas inkonsistent. Manchmal sind die Auftritte von Bill Skarsgårds Pennywise rechtschaffen enervierend und erschreckend (besonders, wenn sie metaphorisch mit dem Erwachsenwerden zusammenhängen), manchmal sind aber auch etwas zu übertrieben und over the top, so als könne sich Muschietti nicht so recht entscheiden, welche Art von Horror er inszenieren will. Das trifft besonders zu, wenn Pennywise seine CGI-Zähne auspackt, die nie so recht überzeugen können. Außerdem übertreibt es Muschietti etwas mit den Jump Scares. Das alles hängt jedoch nicht wirklich mit Skarsgårds Spiel zusammen – er macht seine Sache als mörderischer Clown sehr gut – sondern primär mit der Inszenierung. Der Spannungsbogen des Films ist allerdings ziemlich gut gelungen – „ES“ geht zwar über zwei Stunden, ist aber niemals langweilig.

Die größte Stärke des Films liegt bei den durchweg exzellenten Kinderdarstellern, die alle ausnahmslos hervorragende Arbeit abliefern und eine spürbare Chemie haben – und das bei durchaus anspruchsvollen Rollen. Mehr noch, Muschietti schafft es, sie zugleich authentisch und sympathisch in Szene zu setzen. Die beste darstellerische Leistung stammt zweifellos von Sophia Lillis, die als einziges Mädchen im „Club der Verlier“ und beinahe-Missbrauchsopfer die wohl schwierigste Rolle spielt, während Finn Wolfhard mit seiner großen Klappe das komödiantische Highlight darstellt. Natürlich kann der Film nicht jeder der Figuren die Zeit widmen, die sie im Roman bekommen, sodass manch einer vielleicht etwas zu kurz kommt. Aber im Großen und Ganzen gelingt es Muschietti und den Darstellern gut, die Charaktere plastisch, anschaulich und nachvollziehbar zu zeichnen. Ebenso gelungen ist der Score von Benjamin Wallfisch, der nach „A Cure for Wellness“ dieses Jahr schon zum zweiten Mal beweist, dass er ein exzellenter Horror-Komponist ist.

Fazit: „ES“ ist bezüglich der Horror-Elemente zwar nicht immer ganz rund, dank der guten Figurenzeichnung und der hervorragenden jugendlichen Darsteller aber im Großen und Ganzen eine gelungene Neuverfilmung des Romans von Stephen King.

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Halloween 2017:
Prämisse
Lovecrafts Vermächtnis: The Courtyard/Neonomicon/Providence
Geschichte der Vampire: Dracula – Bram Stokers Roman

Lovecrafts Vermächtnis: Revival

Spoiler!
Revival von Stephen King
H. P. Lovecraft und Stephen King haben, zumindest für mich persönlich, noch eine weitere Eigenschaft neben ihrem Status als Großmeister des Horror-Genre gemein: Ihre Werke lassen sich besser hören als lesen. Tatsächlich habe ich noch nie ein Werk von Stephen King tatsächlich gelesen – aber doch inzwischen eine ganze Menge als Hörbuch gehört. Soweit ich weiß hat Stephen King mit Ausnahme der Kurzgeschichte „The Crouch“ (die ich allerdings weder gelesen noch gehört habe) nie direkt etwas zum „Cthulhu-Mythos“ beigetragen, ist aber dennoch ein großer Bewunderer Lovecrafts und hat einige Werke verfasst, die definitiv dem Sub-Genre „Kosmischer Horror“ zuzuordnen sind, darunter „ES“ und zumindest teilweise der Zyklus „Der dunkle Turm“. Kings eindeutigste Lovecraft-Hommage ist jedoch der 2014 erschienene Roman „Revival“ – Lovecraft taucht, neben einigen anderen populären Horror-Autoren wie Bram Stoker und Mary Shelley, sogar in der Widmung auf und wird im Roman als einziger von ihnen direkt erwähnt.

„Revival“ baut Spannung und das zentrale Mysterium der Handlung sehr langsam, fast schon ein wenig langatmig auf, zumindest für mich hat das allerdings recht gut funktioniert – wer jedoch plakativen Horror auf den ersten hundert Seiten erwartet, wird definitiv enttäuscht werden. Jamie Morton ist zugleich Erzähler und Protagonist; der Roman ist, ähnlich wie so viele Lovecraft-Geschichten, als Bericht inszeniert, erzählt die Handlung aber nicht immer chronologisch. Zwar werden alle Lebensabschnitt der Hauptfigur mehr oder weniger ausführlich geschildert, Dreh- und Angelpunkt sind jedoch die Begegnungen mit dem Pastor Charles Jacobs. Jede dieser Begegnungen steht unter einem anderen thematischen Schwerpunkt.

Die erste Begegnung findet 1962 statt, Jamie ist noch ein Kind, während der junge Jacobs Pfarrer der kleinen Gemeinde Harlow in Maine (wo auch sonst?) wird, in der Jamie mit seiner Familie lebt. Zwischen Jamie und Jacobs entwickelt sich  eine Freundschaft, der junge Pastor sowie seine junge, attraktive Frau Patsy und sein niedlicher kleiner Sohn Morrie werden bald äußerst populär, vor allem bei der Jugend von Harlow. Dann kommt es jedoch zu einem Desaster: Patsy und Morrie sterben in einem Autounfall und Jacobs reagiert mit einer für das ländliche Amerika der 60er äußerst verstörende Predigt, in der er atheistische Schlüsse zieht. Religion und Theodizee sind das Thema dieses ersten Abschnitts des Romans, der zugleich Jamies Kindheit und Jugend sehr ausführlich schildert.

Jamie wird schließlich Musiker und dabei letztendlich heroinabhängig. 1992 begegnet er Charles Jacobs auf dem Tiefpunkt seines Lebens wieder: Er ist aus seiner Band geflogen, hat kein Geld mehr und ist von seiner Drogensucht gezeichnet. Bereits während Jamies Kindheit interessierte sich Jacobs für Elektrizität; als sie sich nun wiederbegegnet, fertigt Jacobs auf einem Jahrmarkt „Porträts in Blitzen“ als Attraktion und bietet Jamie an, ihn durch die „geheime Elektrizität“ von seiner Sucht zu heilen. Das gelingt tatsächlich und Jamie bekommt sein Leben nach und nach wieder auf die Reihe, auch wenn die Heilung einige merkwürdige Nebenwirkungen hat. Das Thema dieser zweiten Begegnung ist selbstverständlich Sucht.

2008, sechzehn Jahre nach der mysteriösen Heilung, kreuzen sich Jamies und Jacobs Wege erneut. Jacobs ist teilweise zu seinem alten Handwerk zurückgekehrt und betätigt sich als Wanderprediger und Wunderheiler, was Jamie natürlich sehr interessiert, weshalb er sich das alles genauer anschaut und auf einige Merkwürdigkeiten stößt: Nebenwirkungen, Selbstmorde und andere Ungereimtheiten, die ihm Sorgen um sich selbst und andere, die von Jacobs geheilt wurden, bereiten. Im Gespräch mit Jacobs offenbart sich schließlich, dass dieser zu einem verbitterten alten Mann geworden ist, der rücksichtslos seine Forschungen zur „geheimen Elektrizität“ fortführt. Ab diesem Zeitpunkt werden die Horroraspekte des Romans immer stärker, Jacobs erinnert an Doktor Frankenstein.

Die letzte Begegnung findet schließlich 2014 statt; in diesem letzten Abschnitt driftet der Roman endgültig in den Kosmischen Horror ab. Jacobs bringt Jamie durch Erpressung dazu, ihm bei einer letzten Heilung zu assistieren und anschließend mit ihm die „geheime Elektrizität“ zu erforschen, die zu einer erschreckenden Entdeckung führt.

Diese Inhaltsangabe mag ausführlich erscheinen, gibt Kings Roman allerdings nur recht unzureichend wieder, da er das gesamte Leben seines Protagonisten schildert; es tauchen diverse Nebenfiguren aus Jamies familiärem und sozialem Umfeld auf, King bemüht sich, die Entwicklung des Protagonisten sehr anschaulich zu schildern und auch die jeweiligen Lebensumstände authentisch darzustellen. Für meine Rezension sind diese Aspekte jedoch eher sekundär, da es mir um den Kosmischen Horror geht. Ganz ähnlich wie Lovecraft vermittelt King hier alptraumhafte Ideen, die er mit ein wenig Pulp anreichert. Prinzipiell greift King dabei nicht direkt auf Lovecraft oder den „Cthulhu-Mythos“ zurück, kann es aber nicht lassen, eine sehr direkte Referenz zu einem essentiellen Teil des Werkes zu machen. Der Schlüssel zu Jacobs „geheimer Elektrizität“ ist ein Grimoire namens De Vermis Mysteriis („Die Geheimnisse des Wurms“), das King bereits in anderen Geschichten erwähnte. Ursprünglich erfunden wurde dieses finstere Buch von Robert Bloch (taucht ebenfalls in der Widmung auf), der ein großer Bewunderer Lovecrafts war und in seiner Jugend Cthulhu-Mythos-Geschichten verfasste – sein bekanntestes Werk ist allerdings der von Alfred Hitchcock verfilmte Roman „Pycho“. King baut diesbezüglich einen netten Metaverweis ein, indem er eine Figur in „Revival“ erklären lässt, De Vermis Mysteriis hätte Lovecraft zum Necronomicon inspiriert, obwohl natürlich das Necronomicon Bloch inspiriert hat.

Obwohl er sich durchaus an Lovecraft orientiert, bemüht sich King doch, seinen Kosmischen Horror eigenständig zu halten. In vielen Lovecraft-Geschichten bleibt Selbstmord der einzige Ausweg für den traumatisierten Protagonisten, der tiefe, erschreckende Wahrheiten über das Universum und die eigene Insignifikanz erfahren hat. An diesen Punkt knüpft King an und nimmt auch diesen Ausweg, denn die „geheimen Elektrizität“ öffnet sehr spezifische Tore und gibt Einblicke in eine andere Welt. Genau wie bei Lovecraft geht es letztendlich um die Beantwortung fundamentaler Fragen, in diesem Fall: „Was kommt nach dem Tod?“ Und wie bei Lovecraft ist die Antwort keine angenehme. Jamie erhascht letztendlich tatsächlich auf ein Blick in ein Jenseits, in dem jeder Verstorbene von gewaltigen, Ameisen gleichenden Kreaturen versklavt wird, unabhängig davon, ob man im Leben gut war oder nicht. Natürlich steckt hinter dieser „Hölle für alle“ eine Kreatur jenseits menschlichen Verständnisses, „die Mutter“, eine Art Ameisenkönigin mit einem langen, haarigen schwarzen Bein und einer Klaue, die aus menschlichen Gesichtern besteht.

Ob „Revival“ letztendlich funktioniert, hängt von der Perspektive ab, da der Roman über weite Strecken sehr geerdet und realistisch wirkt. Das Übernatürliche schleicht sich nur sehr langsam und subtil ein, die endgültige Enthüllung kommt dann fast ein wenig plötzlich und scheint sich mit dem Ton des restlichen Romans nicht ganz zu vertragen. Wer jedoch Lovecraft-affin ist, erwartet spätestens ab der Erwähnung von De Vermis Mysteriis genau so etwas. Die Gestaltung des Jenseits erinnert ebenfalls an Lovecraft, eigentlich wie immer, wenn zyklopische Ruinen auftauchen, das betrifft aber gerade auch die Konzeption: Riesige Ameisen, die Menschen versklaven klingen nach Pulp und Schundheften – genau wie ein geflügelter Tintenfisch. Es ist gute Genre-Tradition, Pulp-Elemente als Ausdruck eines weitaus tiefergehenden, kosmischen Schreckens zu verwenden. Somit ist „Revival“ ein schönes Beispiel dafür, wie man eine kosmische Horrorgeschichte schreibt, ohne sich (mit einer Ausnahme) direkt auf Lovecraft’sche Elemente zu beziehen.

Zum Schluss noch kurz ein paar Worte zur Hörbuchversion, da ich „Revival“ ja auf diese Weise konsumiert habe: Sie ist äußerst empfehlenswert. Wie so viele King-Romane (und auch eine ganze Reihe von Lovecraft-Geschichten) liest David Nathan, seines Zeichens Synchronsprecher von Johnny Depp und Christian Bale, und er liest so ausgezeichnet wie immer.

Fazit: „Revival“ kann man zwar nicht wirklich zur Riege von Kings besten Werken rechnen, aber es ist doch ein gelungener Roman mit interessanten Themen. Der Spannungsaufbau ist zwar langsam und subtil, aber keinesfalls langweilig. Am gelungensten ist jedoch Kings Verarbeitung der Lovecraft’schen Thematik, der er eine interessante neue Idee hinzufügt, ohne sich dabei des „Cthulhu-Mythos“ zu bedienen.

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Lovecrafts Vermächtnis:
Der Cthulhu-Mythos
Nathaniel
Dagon
Die Opferung
Das Alien-Franchise

Lovecrafts Vermächtnis: Der Cthulhu-Mythos

cthulhu
Dieser Artikel ist der Start einer neuen Reihe, die sich gezielt mit den Erben H. P. Lovecrafts auseinandersetzt, also mit Autoren, die sein Werk direkt oder indirekt fortsetzen, Film-, Comic- und Serienschaffenden, die seine Werke adaptieren oder von ihnen zumindest inspiriert wurden etc. Zum Start der Reihe möchte ich mich noch einmal mit dem so genannten „Cthulhu-Mythos“ auseinandersetzen, da dies nicht nur ein zentrales Element in Lovecrafts Œuvre ist, sondern auch eines, das häufig missverstanden wird. Das habe ich im Rahmen meines Necronomicon-Artikels zwar schon einmal in Ansätzen getan, gerade als Start für diese Artikelreihe bietet es sich jedoch noch einmal an.

Im engeren Sinn handelt es sich bei dem Begriff „Cthulhu-Mythos“ um den Versuch, einige von Lovecrafts Geschichten zu kategorisieren. In den Erzählungen des Schriftstellers aus Providence tauchen immer wieder verknüpfende Elemente auf: Fiktive neuenglische Städte wie Arkham oder Innsmouth, okkulte Bücher mit verbotenem Wissen wie das Necronomicon und übermächtige außerirdische Götter wie Cthulhu, Yog-Sothoth oder Azathoth. Vor allem Letztere sind für den „Cthulhu-Mythos“ von Bedeutung. Theoretisch gehören zu diesem alle Geschichten Lovecrafts, die sich mit dem Mythos-Entitäten beschäftigt. So weit, so gut. Nun ist allerdings zu beachten, dass Lovecrafts selbst den Begriff „Cthulhu-Mythos“ nicht nur nicht verwendete, er nahm die ganz Angelegenheit nicht allzu ernst. Anders als etwa J. R. R. Tolkien ging es Lovecraft nie darum, eine umfassende, in sich geschlossene Kunstmythologie zu schaffen, sie war eher ein Hintergrundelement, eine Spielerei und ein Ausdruck von Lovecrafts Philosphie des Kosmizismus, die eine wichtige Rolle in seinem Gesamtwerk spielt und ein Horror-Subgerne, den „Kosmischen Horror“ begründete. Der Kosmizismus geht davon aus, dass der Mensch als Individuum und als Spezies völlig insignifikant ist. Sollte es tatsächlich höhere bzw. außerirdische Mächte geben, so sind diese weit jenseits des menschlichen Verständnisses. Lovecraft nutzte seine Götter, um dies auszudrücken; er schuf dabei nicht nur eine lose zusammenhängende Kunstmythologie, er dekonstruierte sie zugleich auch; vor allem in seinen späteren Geschichten wie „At the Mountains of Madness“. Dabei sah er Cthulhu keinesfalls als zentrale Entität (er sprach einmal scherzhaft von seiner Mythenschöpfung als „Yog Sothothery“), noch kümmerte er sich um eine einheitliche Kanonisierung. Der Mythos musste sich immer den Geschichten anpassen und nicht umgekehrt, sodass es durchaus auch zu Widersprüchen kommen konnte.

Darüber hinaus wurde der Mythos durch einige besondere Umstände gefördert: Lovecraft ermutigte einige Freunde und Mitautoren (gerne als „Lovecraft Cycle“ bezeichnet) dazu, sich Elemente aus seinen Geschichten „auszuborgen“. So tauchten das Necronomicon oder die fremdartigen Götter auch bei Autoren wie Robert E. Howard, Clark Ashton Smith oder Robert Bloch auf, während Lovecraft seinerseits Anspielungen an die Geschichten seiner Freunde in seinen Werken unterbrachte, etwa Howards „Von unaussprechlichen Kulten“, ein weiteres Buch mit gefährlichem Wissen.

Letztendlich ist es jedoch August Derleth, auf den der Begriff „Cthulhu-Mythos“ zurückgeht. Derleth war ein Brieffreund Lovecrafts, der ebenfalls Geschichten schrieb und sich letztendlich als Nachlassverwalter seines Freundes sah. Nach Lovecrafts Tod gründete Derleth den Verlag Arkham House; letztendlich ist es sein Verdienst, dass viele Geschichten Lovecrafts überhaupt erst publiziert und einem größeren Publikum bekannt wurden. Allerdings ist Derleth auch für eine Verzerrung von Lovecrafts ursprünglichen Konzepten verantwortlich. Anders als der Atheist Lovecraft war Derleth Katholik und interpretierte die Geschichten seines Freundes als Kampf des Guten gegen das Böse. Er versuchte, dem, was er als „Cthulhu-Mythos“ bezeichnete, feste Strukturen zu geben, er ordnete die Gottheiten verschiedenen Elementen zu und stellte den Großen Alten bzw. Äußeren Göttern gute „Ältere Götter“ gegenüber, die in dieser Form nie bei Lovecraft auftauchten und absolut nicht zu seiner Philosophie passten. Darüber hinaus schrieb Derleth eine ganze Reihe eigener Mythos-Geschichten und publizierte in seinem Verlag viele weitere Werke, die seiner Interpretation von Lovecraft entsprachen; vor allem die von Brian Lumley verfassten Erzählungen sind erwähnenswert.

Es zeigt sich also, dass der Begriff „Cthulhu-Mythos“ in vielerlei Hinsicht problematisch ist. Nicht nur ist er nicht korrekt, da Cthulhu weder der zentrale, noch der mächtigste Gott aus Lovecrafts Pantheon ist, er repräsentiert auch August Derleths Philosophie, die der Lovecrafts und des eigentlichen kosmischen Horrors diametral entgegengesetzt ist – aus diesem Grund schlug der Lovecraft-Forscher Dirk W. Mosig als Alternative und zur Abgrenzung von Derleth den Begriff „Yog-Sothoth-Mythos“ vor. Es gibt allerdings noch ein weiteres, viel praktischeres Problem: Welche Geschichten Lovecrafts sind denn nun Teil des wie auch immer bezeichneten Mythos? Bei manchen ist die Antwort eindeutig, aber einige seiner Geschichten fallen in eine Grauzone. Die Stadt Arkham etwa ist ein Element, das häufig in eindeutigen Mythos-Geschichten auftaucht, aber auch in „Herbert West, Re-Animator“ oder „The Colour out of Space“ – beide haben keine direkten Bezüge zu den Lovecraft’schen Gottheiten. Auch das Necronomicon gilt als Grimoire mit Mythosverbundenheit, taucht aber in Erzählungen wie „The Hound“ oder „The Festival“ auf, die ebenfalls keine Verweise auf die Mythos-Götter haben. Und dann wären da noch die Geschichten des sog. „Dreamland Cycle“, die sich atmosphärisch stark von der typischen Mythos-Geschichte unterscheiden, in denen aber immer wieder Mythos-Götter wie Nyarlathotep auftauchen.

Ich werde in Zukunft dennoch, wenn nötig, „Cthulhu-Mythos“ als Oberbegriff verwenden, ganz einfach, weil er sich nach all den Jahrzehnten festgesetzt hat und den größten Widererkennungswert besitzt. Erfreulicherweise bedeutet das nicht, dass Derleths Deutung des Mythos die vorrangige ist, im Gegenteil. In der Zwischenzeit sind Autoren, die sich der Elemente und Konzepte Lovecrafts annehmen, in weitaus größerem Maße zur ursprünglichen Philosophie des Schriftstellers aus Providence zurückgekehrt und bemühen sich, tatsächliche Kosmische Horrorgeschichten zu schreiben. Die Menge an Geschichten, die Elemente aus Lovecrafts Werk entlehnen, sind inzwischen unüberschaubar, tatsächlich scheint fast jeder Autor, der im Horror oder den anderen phantastischen Genres tätig ist, irgendwann einmal eine Cthulhu-Geschichte geschrieben zu haben. Dazu zählen neben den bereits erwähnten wie Lumley, Smith oder Bloch auch große Namen wie Stephen King, Kim Newman, Neil Gaiman, Wolfgang Hohlbein, Alan Moore und, und, und…

Natürlich gibt es nach wie vor genug Autoren, die sich, bewusst oder unbewusst, eher an Derleths Interpretation anlehnen, weshalb im modernen, von TV Tropes geprägten Jargon eine Distinktion vorgenommen wurde: In der klassischen, von Lovecraft geprägten Kosmischen Horrorgeschichte ist das Ende hoffnungslos und der Protagonist wird von der Erkenntnissen zumeist in den Wahnsinn getrieben. Eine Geschichte, die dagegen Hoffnung oder ein Sieg der Menschen gegen die übermächtigen, außerirdischen Götter zulässt, wird gerne als „Lovecraft Lite“ bezeichnet. Es sollte jedoch hinzugefügt werden, dass eine Geschichte dieser Art natürlich nicht prinzipiell etwas schlechtes ist, Lovecraft selbst ließ hin und wieder menschliche Triumphe zu, etwa in „The Dunwich Horror“. Letztendlich kommt es immer darauf an, wie die Geschichte erzählt ist – für Geschichten des „Cthulhu-Mythos“ gilt das genauso wie für alle anderen auch.

Geschichte der Vampire: Nosferatu

Halloween 2014
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Sinfonie des Grauens
Nachdem ich mich im Rahmen dieser Artikelreihe bereits mit dem literarischen Ursprung des modernen Vampirs beschäftigt habe, folgt nun ein Blick auf die filmischen Ursprünge. Friedrich Wilhelm Murnaus „Nosferatu: Eine Sinfonie des Grauens“ aus dem Jahr 1922 ist zwar nicht der allererste, aber doch der älteste erhaltene Vampirfilm – somit gilt er, zu Recht, nicht nur als Wegbereiter des Genres, sondern auch als Meisterwerk des deutschen Stummfilms.

Ähnlich wie bei der Vampirliteratur kommt man auch beim Vampirfilm letztendlich nicht um Bram Stokers „Dracula“ und seine Auswirkungen herum, denn bei „Nosferatu“ handelt es sich auch gleichzeitig um die erste Leinwandadaption von Stokers Roman – dies war zumindest der ursprüngliche Plan von Murnau und Albin Grau, dem Produzenten des Films. Allerdings gelang es ihnen nicht, die Rechte an „Dracula“ zu erwerben, weshalb sie gezwungen waren, die Namen der Personen zu ändern. Auch verlegten sie die Handlung des Films vom Großbritannien des späten 19. Jahrhunderts ins Deutschland des Jahres 1838.
Dort lebt, in der fiktiven Stadt Wisborg, der Anwalt Thomas Hutter (Gustav von Wangenheim) mit seiner Frau Ellen Hutter (Greta Schröder). Im Auftrag seines Vorgesetzten Knock (Alexander Granach) begibt er sich ins ferne Transsylvanien, um dort dem Grafen Orlok (Max Schreck) beim Kauf diverser Immobilien in Wisborg behilflich zu sein. Bereits auf dem Weg warnen ihn die Einheimischen vor Orlok und lassen ihm das „Buch der Vampyre“ zukommen. Der Verkauf wird abgeschlossen, allerdings muss Hutter bald feststellen, dass die Warnungen berechtigt waren, denn Orlok ist in der Tat ein Vampir, der nach Wisborg umsiedeln möchte. Als Hutter dies herausfindet, flieht er vom Schloss des Grafen. Doch er kommt zu spät, an Bord der Empusa hat Orlok sich bereits nach Wisborg begeben, um dort das Blut der Unschuldigen zu trinken. Ihm folgt die Pest auf dem Fuße. Nun gibt es nur noch ein Möglichkeit, den Vampir zu besiegen: Ellen muss sich, als Frau reinen Herzens, dem Vampir opfern und ihm freiwillig ihr Blut anbieten, wodurch dieser den Hahnenschrei überhört und durch die Strahlen der Sonne vernichtet wird. Durch Ellens Opfer wird Wisborg schließlich aus der Umklammerung des Untoten befreit.

Wer mit der Handlung von Stokers Roman vertraut ist, erkennt sofort, dass es sich beim Plot von „Nosferatu“ in der Tat um eine, wenn auch reduzierte, Adaption handelt, und es dürfte auch nicht schwerfallen, den handelnden Personen ihre Gegenstücke zuzuordnen: Thomas Hutter ist Jonathan Harker, seine Frau Ellen ist Mina Murray bzw. Mina Harker, da sie als Opfer des Vampirs stirbt, besitzt sie allerdings auch Eigenschaften von Lucy Westenra, der irre Makler Knock ist Renfield, Orlok ist selbstverständlich Dracula und Professor Bulwer (John Gottowt) und Dr. Sievers (Gustav Botz) fungieren wohl als Gegenstücke zu Abraham van Helsing und Dr. Seward, auch wenn die Nosferatu-Versionen der Figuren weniger ernstzunehmende und auch weniger erfolgreiche Gegenspieler des Grafen darstellen, denn letztendlich versuchen sie nur, die durch den Untoten ausgelöste Krankheit zu bekämpfen, und nicht den Vampir selbst.

Die Namensänderungen waren aber letztendendes nicht erfolgreich: Florence Stoker, die Witwe Bram Stokers, klagte gegen Murnaus Film wegen Urheberrechtsverletzung und gewann im Jahr 1925 – ein Berliner Gericht entschied, dass alle Kopien des Films vernichtet werden sollten. Glücklicherweise entgingen einige Kopien diesem Schicksal, vor allem jene, die sich bereits in anderen Ländern befanden. Dabei handelte es sich allerdings zum Teil um unterschiedliche Schnittfassungen oder Schwarzweiß-Versionen (in der ursprünglichen Version war das Bild jeweils komplett eingefärbt, je nach Tageszeit; blau für nächtliche Außenaufnahmen, sepiabraun für nächtliche Innenaufnahmen, gelb für Szenen die am Tag spielten und rosa für die Morgendämmerung). Erst zu Beginn der 80er Jahre veranlasste das Filmmuseum München eine Widerherstellung der ursprünglichen Fassung, wobei man sich vieler verschiedener Schnittfassungen zur Rekonstruierung bediente. Seit 2006 ist „Nosferatu: Eine Sinfonie des Grauens“ auch auf DVD erhältlich, mit digitalisierten und gereinigten Bildern, der ursprünglichen Einfärbung, den originalen deutschen Zwischentiteln und der ursprünglichen Filmmusik von Hans Erdmann.
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Graf Orlok (Max Schreck)

Über Murnaus Film kann man selbstverständlich sehr viel schreiben (was man auch getan hat), seien es die gesellschaftskritischen Untertöne, die okkulte Symbolik (Albin Grau verkehrte in okkulten Kreisen), die hervorragende Arbeit mit Licht und Schatten etc. Mir geht es allerdings in erster Linie um die Darstellung des Vampirs und die massiven Auswirkungen, die „Nosferatu“ auf die weitere Darstellung der untoten Blutsauger hatte.

Während die Handlung „Dracula“ noch relativ genau folgt, ist die Konzeption des Vampirs doch eine ganz andere. Dracula begann als alter Mann und wurde im Verlauf des Romans ein junger Verführer. Die Tiere, die mit ihm assoziiert werden, sind Wolf und Fledermaus. Orlok dagegen verändert sich nicht (was er mit vielen späteren Leinwand-Draculas Gemeinsam hat), und darüber hinaus unterscheidet sich sein Aussehen stark vom allgemeinen Dracula-Bild. Der von Max Schreck dargestellte Vampirgraf ist kahl, hakennasig, spindeldürr und hat statt zweier spitzer Eckzähne zwei spitze Schneidezähne. Alles in allem hat er ein sehr rattenhaftes Aussehen, und die Ratte ist auch das Tier, mit dem er vor allem assoziiert ist. Ratten folgen Orlok nach Wisborg, und wie sie bringt er die Pest mit sich. Die Konzeption des Vampirs hängt auch mit der anders gelagerten Thematik zusammen. Wie in „Dracula“ spielt unterdrückte Sexualität eine Rolle, auch Orlok kann als Metapher für verdrängte Triebe interpretiert werden. Der Konflikt der unterschiedlichen Welten, der „Dracula“ ebenfalls dominiert, wird in „Nosferatu“ allerdings weit weniger stark betont. In Stokers Roman ist der Graf in der für den Autor modernen und aufgeklärten Welt des viktorianischen Englands ein Eindringling aus einer älteren, mythischen und nicht rationalen Zeit – am Ende wird er durch die Bemühungen Van Helsings und seiner Verbündeter, die für eine aufgeklärte Welt stehen, vernichtet. In „Nosferatu“ wird der Vampir zwar ebenfalls besiegt, aber eher durch ein märchenhaft-mythisches Vorgehen, das Opfer einer Frau mit reinem Herzen. Aus diesem Grund funktionieren Bulwer und Sievers auch nur sehr bedingt als Gegenstücke zu Van Helsing und Seward: In „Nosferatu“ sind die Vertreter der Aufklärung im Grunde nicht nötig, das mythische Ungeheuer wird mit seinen eigenen Waffen geschlagen. In Murnaus Film scheint das Übernatürliche viel stärker in die „normale Welt“ eingebettet zu sein, weshalb er auch oft dem magischen Realismus zugerechnet wird.

„Nosferatu“ hatte enormen Auswirkungen viele Vampirdarstellungen (diese werden weiter unten detailliert behandelt), die bedeutendste aber, die sich auf fast alle Vampirfilme, -romane, -comics und sonstige Darstellung der blutsaugenden Untoten bis heute auswirkt, lässt sich mit einem Wort ausdrücken: Sonne. Graf Orlok war der erste Vampir, der durch das Licht der Sonne vernichtet wurde. Zwar hatte die Sonne auch schon zuvor eine schwächende Wirkung auf Vampire, doch erst Orlok verbrannte in ihrem Licht zu Asche. Die Sonne als größte Schwäche des Vampirs hat sich unwiederbringlich mit der Wahrnehmung des Vampirs verbunden, sodass selbst jemandem, der sonst keine Ahnung von Vampiren hat, die in der Sonne glitzernden Meyer-Vampire seltsam vorkommen.

Phantom des Nacht
Es gibt zwei Filme, die die Tradition von „Sinfonie des Grauens“ direkt fortsetzen und Murnaus Film gewissermaßen thematisieren und kommentieren. Der erste ist „Nosferatu: Phantom der Nacht“. Hierbei handelt es sich um ein Remake des Murnau-Films von Werner Herzog. Die Rolle des Vampirgrafen spielt Herzogs Stammschauspieler und Lieblingsfeind Klaus Kinski, in weiteren Rollen sind Bruno Ganz, Isabelle Adjani und Walter Ladengast zu sehen.
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Graf Dracula (Klaus Kinski)

Die Konzeption des zweiten Nosferatu-Films ist dabei sehr interessant: Statt der Ersatznamen, die Murnau und Grau den Figuren gaben, verwendet Herzog, der auch das Drehbuch schrieb, wieder die Namen aus Stokers Roman, der Vampirgraf heißt Dracula, der junge Makler Jonathan Harker, seine Frau Lucy (was freilich nicht ganz passt, aber auch nicht das erste Mal ist, dass die beiden Frauenfiguren des Romans vertauscht werden) und auch Van Helsing taucht auf, ist aber ziemlich inkompetent. Andererseits behält Herzog aber das Setting Murnaus bei, auch wenn er statt Wisborg die reale Stadt Wismar verwendet, in der „Sinfonie des Grauens“ zum Teil gedreht wurde.

Auch sonst orientiert sich Herzog stilistisch und inhaltlich stark an der Vorlage: Der von Kinski dargestellte Dracula ist kahl, hat fledermausohren und spitze Vorderzähne, die Sets ähneln denen des Originals sehr stark, die Thematik des Vampirs als Pestbringer wird sogar noch stärker herausgearbeitet, und darüber hinaus ist dieser Dracula auch eine sehr einsame, von seiner Unsterblichkeit gepeinigte Kreatur, ein Element, das im Original weit weniger stark vorhanden war.

In einem Punkt weicht Herzog allerdings von Murnaus Film ab: Zwar opfert sich Lucy auch bei ihm, sodass der Vampir vernichtet werden kann (hier wird er von der Sonne nur paralysiert und muss anschließend noch gepfählt werden), doch das Opfer ist letztendlich umsonst: Jonathan Harker wurde bereits infiziert und reitet am Schluss in die Welt hinaus, um die Seuche weiter zu verbreiten. Herzogs Version ist somit sehr viel pessimistischer als Murnaus Film, und insgesamt auch sehr viel deprimierender.

Schatten des Vampirs
„Shadow of the Vampire“ aus dem Jahr 2000 von E. Elias Merhige ist der zweite Film, der sich direkt mit dem Vermächtnis des ursprünglichen „Nosferatu“ auseinandersetzt. Anders als Herzogs „Phantom der Nacht“ ist „Shadow of the Vampire“ kein Remake, sondern ein Metafilm, er erzählt die fiktionalisierte Entstehungsgeschichte von Murnaus „Nosferatu“. Der Twist dabei: Da Murnau (John Malkovich) in „Shadow of the Vampire“ den realistischsten Vampirfilm drehen möchte, schafft er es, mit Max Schreck (Willem Dafoe) einen echten Vampir aufzutreiben. Als Gegenleistung für das Mitwirken in seinem Film darf er am Ende der Dreharbeiten die Hauptdarstellerin Great Schröder (Catherine McCormack) aussaugen.
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Max Schreck (Willem Dafoe)

Merhiges Film ist, wie nicht anders zu erwarten, eine einzige Liebeserklärung an „Eine Sinfonie des Grauens“, viele Filmszenen werden minutiös nachgestellt und zum Teil in einen neuen Kontext gesetzt. Gleichzeitig thematisiert „Shadow of the Vampire“ auch das Filmemachen und den absoluten Willen zur Kunst an sich. Nicht von ungefähr stellt sich am Schluss die Frage, ob Murnau auf seine Art nicht ein genauso großes Monster ist wie Max Schreck.

Wirkung des Pestbringers
„Nosferatu“ mag auf Dracula basieren, mit seinem Film hat Murnau allerdings einen ganz eignen Vampir-Archetypen geschaffen. Das Wort Nosferatu stammt aus Stokers Roman und fungierte dort als Synonym für Vampir. Das tut es heutzutage zwar auch noch, aber meistens ist mit einem Nosferatu gezielt ein an Orlok angelehnter Vampir gemeint. Kahler Schädel, krumme Nase, Feldermausohren und übermäßige Fangzähne trifft man im Vampirfilm fast so häufig wie den stereotypen Aristokraten (in manchen Fällen, wie auch bei Orlok selbst, ist der Vampir sowohl hässlich als auch aristokratisch). Ein Beispiele wäre etwa Kurt Barlow in der Verfilmung von Stephen Kings „Brennen muss Salem“ aus dem Jahr 1979. Während Barlow im Roman an Dracula angelehnt ist, sieht er in besagter Adaption aus wie eine türkise Version von Orlok. Auch in moderneren Vampirfilmen, etwa „30 Days of Night“ oder „Daybreakers“ (um nur zwei zu nennen) finden sich Variationen des Nosferatu-Vampirs. Und selbst in vielen nicht-Vampirfilmen findet man die Spuren Orloks, etwa wenn man sich die Fremden in „Dark City“ oder den Pinguin in „Batmans Rückkehr“ (wo zu allem Überfluss auch noch eine Figur namens Max Shreck auftaucht) ansieht.
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Kurt Barlow (Reggie Nalder) in „Brennen muss Salem“

Und natürlich zollt auch das Rollenspiel „Vampire: The Masquerade“ Orlok und Murnaus Film seinen Respekt, in dem es einen ganzen Vampirclan nach Orloks Vorbild formt. Bei diesem handelt es sich, wie könnte es anders sein, um die Nosferatu.

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