Art of Adaptation: Hannibal Rising

Spoiler!

Im Grunde gab es nur eine Person, die „Hannibal Rising“ wollte: Produzent Dino de Laurentiis, der überzeugt war, das Publikum hungere nach einem Hannibal-Lecter-Prequel. Die Leserschaft war überwiegend der Meinung, Harris habe bereits in „Hannibal“ zu viel über die Hintergründe des guten Doktors verraten und auch das Kinopublikum dürfte nicht wirklich Interesse an den Jugendjahren des Kannibalen gehabt haben. Selbst Thomas Harris hatte eigentlich kein Interesse daran, den Roman zu schreiben, aber de Laurentiis erklärte ihm, das Projekt werde so oder so entstehen, mit oder ohne Harris‘ Beteiligung, also schrieb er nicht nur den Roman, sondern auch gleich das Drehbuch, auf dessen Basis Regisseur Peter Webber, vor allem bekannt für „Girl with a Pearl Earring“, den Film drehte. Und weil er ohnehin dabei war, las Harris auch gleich das Hörbuch noch selbst ein. So fristet „Hannibal Rising“ als Roman und Film nun sein Dasein als ungeliebtes Prequel, kaum mehr als eine Fußnote in der Geschichte dieses unebenen Franchise, an das sich niemand, mich eingeschlossen, gerne zurückerinnert.

Handlung und Aufbau
Hannnibal Lecter (Gaspard Ulliel, Aran Thomas als Kind) verbringt mit seiner Schwester Mischa (Helena-Lia Tachovska) und seinen Eltern eine glückliche Kindheit auf Burg Lecter in Litauen – bis 1941 der Russlandfeldzug des Dritten Reiches beginnt. Die Familie Lecter versteckt sich in der zum Anwesen gehörenden Jagdhütte, doch 1944 werden sie entdeckt. Die Eltern sterben in einer Panzerexplosion, nur Mischa und Hannibal überleben – um anschließend einer Gruppe Nazi-Kollaborateuren, angeführt vom mitleidlosen Vladis Grutas (Rhys Ifans), in die Hände zu fallen. Als die Nahrung knapp wird, töten und essen die Kollaborateure Mischa, ein Ereignis, das Hannibal tief traumatisiert. Jahre später lebt Hannibal wieder auf Burg Lecter, die im kommunistisch kontrollierten Litauen als Waisenhaus dient. Von dort gelangt er schließlich nach Frankreich, wo er in die Obhut seiner Tante Lady Murasaki (Gong Li) kommt, zu der er eine vielleicht nicht ganz gesunde Bindung aufbaut. Dementsprechend reagiert er auch etwas überzogen, als der Metzger Paul Momund (Charles Maquignon) Lady Murasaki beleidigt. Erst greift er ihn auf offener Straße an, später tötet er ihn mit einer Katana und bringt seiner Tante den Kopf. Wegen der Prügelei verdächtigt der ermittelnde Inspektor Popil (Dominic West) ihn sofort, kann ihm jedoch nichts nachweisen. Bald darauf beginnt Hannibal sein Medizinstudium. Da er sich an die Ereignisse seiner Kindheit, primär Mischas Tod, nur noch sehr lückenhaft erinnern kann, spritzt er sich Thiopental, um die Mörder erkennen zu können, und reist anschließend nach Litauen, wo er in der alten Jagdhütte die Erkennungsmarken der Nazi-Kollaborateure findet. Enrikas Dortlich (Richard Brake) kann er gleich vor Ort töten, mit den Informationen macht er sich daran, Vladis Grutas und die anderen nach und nach aufzuspüren, um seine Rache zu komplettieren…

Zwei der drei bisherigen Hannibal-Lecter-Romane waren um einen spezifischen Fall herum aufgebaut, in welchem Harris eine Ermittlerfigur gegen einen Serienkiller antreten ließ. Der dritte versuchte ein breitgefächertes Epos zu sein – während ich „Hannibal“ kein komplettes Scheitern attestieren würde, kann man doch auch nicht sagen, dass der Abschluss der ursprünglichen Trilogie erfolgreich ist. Mit „Hannibal Rising“ versucht sich Harrris nun an einer Art Bildungsroman und erzählt Hannibals Kindheit (zumindest Ausschnittsweise) und Jugend relativ chronologisch. Die große Enthüllung, der Umstand, dass Hannibal Mischa ebenfalls gegessen hat, kann der geneigte Leser schon eine Meile gegen den Wind riechen. Vielleicht wirkt sich das Vorwissen um Harris‘ Geisteshaltung und die Vorgeschichte des Romans auf die Lektüre aus, aber zumindest ich finde, dass der Mangel an Inspiration deutlich spürbar ist. Man kann an „Hannibal“ kritisieren, was man möchte, aber es ist ein Roman, den Harris schreiben wollte, während er zum Prequel genötigt wurde. Gerade im stilistischen Bereich ist „Hannibal Rising“ oft sehr dröge und lässt die Suspense vermissen, die vor allem „Red Dragon“ und „The Silence of the Lambs“ so großartig gemacht hat. Zudem wird vor allem eine stilistische Eigenheit hier zum Verhängnis: Harris behielt in seinen bisherigen Werken immer eine bestimmte Distanz zu seinen PoV-Charakteren, u.a., indem er sie im Erzähltext nur beim Nachnamen nannte (Starling, Graham) oder sogar noch den Titel hinzufügte (Dr. Lecter). Gleichzeitig gewährte er dem Lesser effektiv und anschauliche Einblicke in die Psyche der Figuren. Obwohl Harris Hannibal hier im Erzähltext beim Vornamen nennt, bleibt die Distanz bestehen, es fehlt allerdings an der Figurentiefe. In den bisherigen drei Romanen tauchte Harris verhältnismäßig selten in Lecters Gedanken ein und scheint auch hier oft unwillig, dem Leser wirklich zu offenbaren, was der Doktor in Spee tatsächlich fühlt und denkt, was beim Ansatz dieses Romans allerdings nötig gewesen wäre. Stattdessen baut er alles um die zentrale Mischa-Szene herum auf, die als filmisch anmutende Flashbacks in Präsens und Kursivschrift immer wieder angeschnitten wird.

Anpassungen
Da Harris auch das Drehbuch verfasst hat, verwundert es kaum, dass die Handlung des Films der des Romans relativ genau folgt. Natürlich gibt es einige Auslassungen und Anpassungen. So taucht Hannibals Onkel Robert Lecter im Roman tatsächlich auf und ist derjenige, der Hannibal aus dem Waisenhaus abholt und bei sich aufnimmt, während er im Film selbst seinen Weg nach Frankreich findet, wo er Lady Murasaki bereits als Witwe vorfindet. Zu dem Zeitpunkt, da sich Hannibal mit dem rassistischen Metzger prügelt, ist Robert Lecter zudem immer noch am Leben. Von derartigen Detailfragen abgesehen finden sich jedoch wenig tatsächliche Handlungsanpassungen, sondern primär Kürzungen und Auslassungen bestimmter sekundärer Elemente.

In mancher Hinsicht profitiert die Geschichte durchaus von der filmischen Umsetzung, auch wenn viele der Schwächen des Romans trotzdem nicht ausgebügelt werden können. Viele der Darstellerinnen und Darsteller schaffen es, den in meinen Augen relativ profillosen Nebenfiguren mehr Charakter zu verleihen, sei es Gong Li als Lady Murasaki oder Dominic West als Inspektor Popil. In besonderem Ausmaß trifft auf die Bande der Nazi-Kollaborateure zu. Diese sind im Pantheon der Harris-Widersacher mit Abstand die schwächsten. Während Harris sich bei Francis Dolarhyde und Jame Gumb um eine umfassende und tiefgreifende Charakterisierung bemühte, ging er ab „Hannibal“ dazu über, seine Antagonisten eher wie Comicschurken aufzubauen. Mason Verger hatte den Vorteil, immerhin interessant und, vor allem in den Film- und Serien-Umsetzungen, unterhaltsam zu sein. Auf Vlads Grutas und Co. trifft nicht einmal das zu, sie fungieren lediglich als Objekte, auf die Hannibal seine Rachelust konzentrieren kann. Dementsprechend hilft es, wenn Mimen wie Rhys Ifans oder Kevin McKidd diesen doch sehr stereotypen Charakteren mehr Profil verleihen.

Hannibal Begins
„Hannibal Rising“ markiert das Ende der Entwicklung Hannibal Lecters vom ruchlosen Serienkiller zum Antihelden – eine Entwicklung, die sich häufig beobachten lässt, besonders wenn einstmalige Schurken zu Protagonisten werden. Oft fällt es Autoren schwer, einstmalige Antagonisten auch weiterhin mitleid- und rücksichtslos handeln zu lassen. Ich schrieb es bereits mehrfach: Hannibal selbst erinnert hier mitunter an eine extremere (und natürlich mörderische) Version von Bruce Wayne, speziell Bruce Wayne aus „Batman Begins“ – inklusive einer ostasiatischen Kampfkunstausbildung. Der Fokus auf japanische Kultur mutet im Hannibal-Lecter-Kontext ohnehin etwas merkwürdig an, da Hannibal in den bisherigen Romanen keinerlei Neigung in diese Richtung zeigte. Nun könnte man argumentieren, dass sich Hannibal seit dem Ende der Beziehung von Lady Murasaki von allem, was mit Japan zu tun hat, ferngehalten haben könnte, um keine alten Wunden aufzureißen. Ich persönlich denke allerdings eher, dass diese Elemente Thomas Harris‘ aktuelle Interessenslage zum Zeitpunkt der Abfassung widerspiegelt und er sich so einen Roman, den er eigentlich nicht schreiben wollte, schmackhafter gemacht hat. Das ist freilich pure Spekulation. Immerhin bietet die Samuraimaske ein nettes Foreshadowing auf den späteren, ikonischen Bissschutz. Wie dem auch sei, Harris knüpft nahtlos an die Charakterzeichnung aus „Hannibal“ an, indem er den Doktor in Spee primär Leute töten lässt, die es auch wirklich verdient haben. Das Trauma der getöteten Schwester ist dabei allgegenwärtig und der primäre Antriebsmotor der Figur, was Hannibals Selbsteinschätzung aus „The Silence of the Lambs“ massiv widerspricht: „Nothing happened to me. I happened.“ Durch die Reduktion auf Trauma und Rache verliert die Figur Hannibal Lecter viel von dem, was sie so faszinierend, unberechenbar und fremdartig macht. Die Serie „Hannibal“ hat hier in meinen Augen den richtigen Weg beschritten, „Hannibal Rising“ so wenig wie möglich miteinbezogen und Mischas Tod nicht als Freud‘sche Motivation für seine Taten verwendet, sondern Mischa als das Element interpretiert, das den „wahren“ Hannibal Lecter zurückgehalten hat. Die Romane „Hannibal“ und „Hannibal Rising“ schließen diese Interpretation zwar nicht völlig aus, liefern aber auch nicht allzu viel Material, um sie zu unterfüttern. Schließlich ist es in „Hannibal“ das Ziel des Doktors, über Starling Mischa gewissermaßen „zurückzubringen“.

Da „Hannibal Rising“ ziemlich eindeutig als Prequel zu den Hopkins-Filmen inszeniert ist – dafür sprechen allein schon die visuellen Verweise – fragt man sich natürlich, ob Gaspard Ulliel (2022 tragisch bei einem Skiunfall verstorben) einen guten jungen Hopkins-Hannibal abgibt. Leider ist dem nicht unbedingt der Fall, sowohl visuell als auch darstellerisch fällt es zumindest mir schwer, in Ulliels Hannibal einen jungen Anthony zu sehen. Visuell passt er in meinen Augen ironischerweise besser zu Mads Mikkelsen, seinem Nachfolger in der Rolle. Ich denke allerdings nicht, dass die Schuld hierfür bei Ulliel zu suchen ist, der Film gibt ihm schlicht nicht die Gelegenheit, besonders viel aus der Figur zu machen und man kann durchaus verstehen, dass eine Hopkins-Imitation der Angelegenheit eher schädlich denn nützlich wäre. Dennoch ist Hannibal Lecter hier, was er einfach nicht sein sollte: über weite Strecken ziemlich unscheinbar und nur mäßig interessant. Zugegebenermaßen kann Ulliel durchaus gut dämonisch grinsen und in einzelnen Momenten ist die nötige Präsenz vorhanden, aber für einen Serienkiller dieses Kalibers ist das einfach nicht ausreichend.

Hätte es doch etwas werden können?
Tatsächlich denke ich, dass die Antwort auf diese Frage positiv ausfällt. Ja, die Geschichte von „Hannibal Rising“ hätte, mit nur einigen Anpassungen, deutlich besser sein können. Nach wie vor bin ich der Meinung, dass es nicht nötig gewesen wäre, aber wenn es sein muss… Ich denke, Harris hätte gut daran getan, sich auf die Stärken von „Red Dragon“ und „The Silence of the Lambs“ zu besinnen und das ganze als Ermittlungshandlung zu inszenieren. Protagonist wäre dann nicht Hannibal selbst gewesen, sondern Inspektor Popil und wir beginnen auch nicht mit Hannibals Kindheit, sondern mit Popil, der den Mord an Paul Momund aufklären möchte und dabei Hannibal und seinem Rachefeldzug gegen Grutas und Co. auf die Spur kommt. Dieses Element ist ja in der Handlung tatsächlich vorhanden, ihm wird nur nicht allzu viel Aufmerksamkeit gewährt und Popil bleibt ein relativ blasser, sekundärer Antagonist für Hannibal. Die Charakterisierung des Romans bietet diesbezüglich einiges an Potential, da Popil seine eigene Vergangenheit mit Kriegsverbrechern und Kollaborateuren hat. Dieser Perspektivwechsel könnte einerseits, über Popils Ermittlungen, Grutas, Kolnas und den Rest dieser „Bande“ interessanter und komplexer machen und gleichzeitig das Mysterium um Hannibal aufrechterhalten. Solange Harris uns nicht in Hannibals Kopf blicken lässt, bleibt unklar, was ihn tatsächlich motiviert und so können wir gemeinsam mit Popil spekulieren und abwägen.

Diabolus in Musica
Für „Hannibal Rising“ verpflichtete man den britischen Komponisten Ilan Eshkeri, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht allzu viel Filmerfahrung hatte. Stilistisch erinnert Eshkeris Score oft an einen Hybriden aus Howard Shores „The Silence of the Lambs“ und Hans Zimmers „Hannibal“. Besonders Eshkeris Thema für die Titelfigur klingt mitunter wie eine Erweiterung der Motive aus Shores Werk. Generell handelt es sich um eine düster-brütende, sehr streicherlastige Affäre, immer wieder unterbrochen von einigen lyrischen, religiös anmutenden Passagen; die entsprechenden Tracks tragen auf dem Album die passenden Titel Requiem und Agnus Dei. Eshkeris Score ist durchaus funktional, aber selten mehr, auch wenn es durchaus interessant ist, wie er die Stilmittel der Scores von Shore und Zimmer kombiniert. Ein Element, das man vielleicht erwarten könnte, das aber fast völlig fehlt, sind japanische Anklänge. Das ist umso merkwürdiger, da Eshkeri zum einen in späteren Filme oder Spielen wie „47 Ronin“ oder „Ghosts of Tsushima“ bewiese, dass er sich in dieser musikalischen Kultur sehr gut bewegen kann und er, zum anderen, bei „Hannibal Rising“ mit dem angesehenen japanischen Komponisten Shigeru Umebayashi zusammenarbeitete.

Fazit
Sowohl in Roman- als auch in Filmform ist „Hannibal Rising“ ein sehr unterwältigendes Werk und der eindeutige Tiefpunkt des Franchise. Bestenfalls handelt es sich dabei um einen zweitklassigen Thriller mit einigen interessanten Ansätzen und schlimmstenfalls um die endgültige Entmystifizierung eines der einnehmendsten und faszinierendsten Serienkillers der Literatur- und Filmgeschichte. Zum Glück ist „Hannibal Rising“ größtenteils in Vergessenheit geraten, während Mads Mikkelsen und Anthony Hopkins die beiden definitiven Interpretationen der Figur bleiben.

Siehe auch:
Art of Adaptation: Red Dragon
Art of Adaptation: The Silence of the Lambs
Art of Adaptation: Hannibal
Art of Adaptation: Hannibal Staffel 1 bis 3

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