Art of Adaptation: Dreams in the Witch-House

Unglaublich aber wahr: Nach der Sichtung der sechsten Episode von „Guillermo del Toro’s Cabinet of Curiosities“, „Dreams in the Witch-House“, sah ich mich gezwungen, die fünfte Episode, „Pickman’s Model“, zu reevaluieren. Bei beiden handelt es sich um sehr lose Adaptionen von Lovecraft-Geschichten; in meiner Rezension kam „Pickman’s Model“ nicht allzu gut weg. Nachdem ich nun aber die Adaption von Mika Watkins (Drehbuch) und Catherine Hardwicke (Regie) gesehen habe, musste ich „Pickman’s Model“ deutlich aufwerten. An meinen Kritikpunkten hat sich zwar nicht unbedingt etwas geändert, aber immerhin sind in dieser Episode der Serie noch erkennbare Spuren der ursprünglichen Geschichte vorhanden, von den sonstigen Qualitäten gar nicht erst zu sprechen.

Eine ausführliche Inhaltsangabe von Lovecrafts Kurzgeschichte lohnt sich an dieser Stelle praktisch nicht, da ohnehin kaum etwas geblieben ist, darum werde ich ausnahmsweise die Episode als Ausgangspunkt verwenden. Walter Gilman (als Kind: Gavin MacIver-Wright, als Erwachsener: Rupert Grint) muss mitansehen, die Seele seiner Schwester Epperley (Daphne Hoskins) ins Jenseits gezerrt wird. Fortan dreht sich sein Leben nur noch darum, mit Epperleys Geist Kontakt aufzunehmen – selbst seinem Freund Frank Elwood (Ismael Cruz Cordova), der ihn auf seiner spiritistischen Suche begleitet, wird es irgendwann zu viel. Walter glaubt, seinem Ziel näher zu kommen, indem er sich ein Zimmer im Haus der hingerichteten Hexe Keziah Mason (Lize Johnston) mietet. Schließlich gelingt es Walter, mithilfe einer speziellen Droge einen Weg in das Jenseits zu finden, doch genau dies wollen die zwar tote, aber doch noch ziemlich aktive Keziah und ihr Familiar Jenkins Brown (DJ Qualls) ausnutzen, um in die Welt der Lebenden einzudringen…

Wer mit der Geschichte vertraut ist, merkt sofort: Kaum etwas ist übriggeblieben, im Grunde haben Hardwicke und Watkins lediglich die Namen (Walter Gilman, Keziah Mason, Frank Elwood und Jenkins Brown, bei Lovecraft Brown Jenkin) sowie die sehr grobe Prämisse genommen und eine völlig eigene Geschichte erzählt. Konzeptioneller Kern von „The Dreams in the Witch-House“ ist die Idee, eine klassische Gestalt der Horrorliteratur, die Hexe, zu nehmen und sie in den Kontext kosmischen Horrors zu setzen. Lovecrafts Walter Gilman, Student an der Miskatonic Universität in Arkham, sucht nicht nach der Seele seiner Schwester, sondern glaubt, Keziah Masons „Magie“ sei in Wahrheit extrem fortschrittliche Mathematik, die es ihr unter anderem erlaubt, durch Raum und Zeit zu reisen. In ihr Haus zieht er ein, um seine Erforschung der noneuklidischen Geometrie weiterzutreiben. Nicht nur stellt sich heraus, dass Gilman recht hat, unglücklicherweise wird er von bösartigen Träumen heimgesucht und muss erkennen, dass Keziah Mason ihr finsteres Werk fortführen möchte und dabei den finsteren Göttern Nyarlathotep und Azathoth dient.

Jegliche Spuren des „Cthulhu-Mythos“, von den erwähnten Entitäten bis hin zum obligatorischen Gastauftritt des legendären Necronomicon, wurden vollständige aus der Adaption getilgt. Dasselbe gilt auch für den kosmischen Horror, der die Geschichte ausmacht. Ob Lovecrafts Versuch, klassischen Grusel mit seiner kosmizistischen Philosophie zu verknüpfen, wirklich erfolgreich war, ist freilich diskutabel, Lovecraft-Experte S. T. Joshi kann „The Dreams in the Witch-House“ beispielsweise kaum etwas abgewinnen. Die Adaption im Rahmen von „Guillermo del Toro’s Cabinet of Curiosities“ entnimmt der Story jedoch jeglichen interessanten Ansatz und macht ein generisches Gruselmärchen aus ihr, das nicht einmal besonders furchterregend ist. Keziah Mason wirkt eher lächerlich denn erschreckend und Jenkins Brown/Brown Jenkin, schon in der Kurzgeschichte ein Element, das für mich persönlich nicht funktioniert, wirkt ziemlich bescheuert. Selbst auf handwerklicher und struktureller Ebene bleibt „Dreams in the Witch-House“ hinter den anderen Episoden der Anthologie-Serie zurück. Ironischerweise ist es „Pickman’s Model“, das atmosphärisch näher an Lovecrafts Geschichte herankommt. Zumindest kommt die dort auftauchende Hexe meiner Vorstellung von Keziah Mason deutlich näher als das merkwürdige Baumwesen, zu dem sie im Kontext dieser Adaption gemacht wurde.

Fazit: „Dreams in the Witch-House“ hat mich der gleichnamigen Lovecraft-Geschichte so gut wie gar nichts zu tun, bietet keinen kosmischen Horror und kann auch sonst nicht überzeugen. Rupert Grints Performance ist der einzige Grund, sich diese schwächste Episode aus Guillermo del Toros Anthologie-Serie anzusehen.

Siehe auch:
Art of Adaptation: Pickman’s Model
Lovecrafts Vermächtnis: Dreams in the Witch-House
Lovecrafts Vermächtnis: Die Opferung

Lovecrafts Vermächtnis: The Colour out of Space – Teil II

Halloween 2020

„The Colour out of Space“ gilt nicht nur als eine der besten Lovecraft-Geschichte, es könnte sich dabei auch um diejenige handeln, die am häufigsten filmisch umgesetzt wurde. Das geht zurück bis ins Jahr 1965, in welchem die eher lose Adaption „Die, Monster, Die!“ von Daniel Haller ins Kino kam, in der zwar niemand geringerer als Horror-Ikone Boris Karloff die Hauptrolle spielte, die aber trotzdem nicht besonders gut aufgenommen wurde. Über die Jahrzehnte hinweg entstanden noch eine ganze Reihe weiterer Filme, meistens mit stark abgewandelten Titeln, die „The Colour out of Space“ in der einen oder anderen Form umsetzten. Selbst die Netflix-Produktion „The Annhiliation“ mit Natalie Portman könnte man als lose Umsetzung verstehen. Ich möchte mich allerdings mit den beiden wahrscheinlich vorlagengetreusten Filmadaptionen auseinandersetzen – wobei das nicht allzu viel zu sagen hat, da sich jede Version ordentliche Freiheiten nahm. Bei besagten beiden Filmen handelt es sich um „Die Farbe“, einen deutschen schwarz-weiß Film aus dem Jahr 2010 vom aus Stuttgart kommenden Regisseur Huan Vu und „Color out of Space“, die jüngste Umsetzung der Geschichte mit Nicolas Cage von Richard Stanley.

Die Farbe

Der führende Lovecraft-Experte S. T. Joshi bezeichnete „Die Farbe“ einmal als beste Lovecraft-Verfilmung – so weit würde ich nicht unbedingt gehen, allerdings ist es doch ein ordentlicher Unterschied zu Filmen wie Stuart Gordons „Dagon“ – auch wenn zumindest einige Ansätze ähnlich sind. Wie Gordon ändert auch Huan Vu Ort und Zeit der Handlung – statt im Neuengland der 1920er (bzw. der 1880er in der Binnenhandlung) spielt die Umsetzung in Deutschland der Nachkriegszeit (bzw. kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in den Rückblicken). Die Rahmenhandlung wurde dementsprechend angepasst, statt eines Landvermessers steht ein junger Amerikaner im Mittelpunkt, der nach dem Verbleib seines Vaters sucht und in diesem Kontext von den Begebenheiten um die Farbe erfährt. Die Binnenhandlung entfaltet sich dann wieder wie gewohnt – der Meteorit landet, die Farbe breitet sich aus und bringt Tod und Verfall mit sich. Ähnlich wie so oft bei Lovecraft spielen die Figuren dabei keine allzu große Rolle, die Änderung der Rahmenhandlung fällt kaum ins Gewicht und der Charakterisierung der Figuren, die letztendlich mit der Farbe in Berührung kommen, wird kaum etwas hinzugefügt.

Die erste Frage, die sich bei einer Adaption dieser Geschichte stellt, ist natürlich, wie die Farbe dargestellt wird, schließlich ist es das Eine, über eine völlig unbekannte Farbe zu schreiben, eine solche Farbe visuell darzustellen aber etwas völlig anderes. Die eigentliche Farbe ist lila bzw. magenta, da allerdings der restliche Film in schwarz-weiß ist, sticht sie natürlich besonders hervor – auch diverse Comicadaptionen bedienen sich dieser doch recht naheliegenden Technik.

Insgesamt muss man nicht allzu aufmerksam sein, um schnell zu merken, dass Huan Vu kein allzu großes Budget zur Verfügung hatte, denn alles wirkt etwas amateurhaft – das trifft besonders auf die Darsteller und die Tonqualität zu. Allerdings hilft auch hier die Entscheidung, den Film in schwarz-weiß zu drehen, da sich die Atmosphäre dadurch ungemein steigert und einiges, das ansonsten vielleicht unangenehm aufgefallen wäre, verdeckt wird. Insgesamt muss man sagen, dass Vu hier aus der Not eine Tugend gemacht, „Die Farbe“ profitiert zweifelsohne davon, dass sie sich eben nicht wie ein konventioneller Horrorfilm anfühlt oder wie einer aussieht. Am schwächsten ist tatsächlich der „finale Auftritt“ der Farbe, da man hier das Fehlen eines Effektbudgets am deutlichsten merkt. Das Sammeln der lila Blasen ist verhältnismäßig unspektakulär, man möchte fast sagen, antiklimaktisch, und danach franzt der Film praktisch aus. Alles in allem dennoch eine durchaus gelungene Umsetzung, die sich vom Standard-Horror-Film angenehm unterscheidet und das Beste aus sehr begrenzten Möglichkeiten macht.

Color out of Space

Richard Stanleys Adaption ist deutlich mehr „Hollywood“ als „Die Farbe“, folgt stärker den üblichen Genre-Konventionen, vor allem in visueller Hinsicht, und hat mir Nicolas Cage natürlich auch einen sehr namhaften Hauptdarsteller. Gerade als Lovecraft-Fan sind derartige Tendenzen natürlich erst einmal beunruhigend, allerdings zeigt Richard Stanley hier, dass das Konzept aufgehen kann. Auch bezüglich des Adaptionsprozesses wurden durchaus einige interessante Entscheidungen getroffen, was „Color out of Space“ als Analyseobjekt deutlich ergiebiger macht. Anders als in „Die Farbe“ ist der Handlungsort tatsächlich Neuengland, u.a. wird Arkham erwähnt, aber die Handlung wird in die Gegenwart versetzt. Darüber hinaus verzichtet Stanley auf Rahmen- und Binnenhandlung, die Figur des Ammi Pearce als sekundärer Erzähler bzw. Vermittler zwischen den beiden Zeitebenen wird eliminiert. Stattdessen trifft der in der Geschichte namenslose Landvermesser aus Arkham, der im Film Hydrologe ist und Ward Phillips (Elliot Knight) heißt, direkt auf die Familie Gardner, deren Mitglieder ebenfalls neu getauft wurden. Der Vater heißt nun Nathan (Cage) statt Nahum, seine Frau Theresa (Joely Richardson) statt Nabby, der ältere Sohn Benny (Brendan Meyer) statt Thaddeus und der jüngere Jack (Julian Hillard) statt Merwin und die Tochter, die Sohn Nummer 3, Zenas, ersetzt, trägt den Namen Lavinia (Madeleine Arthur). Einige der Namen sind dabei sicher nicht zufällig gewählt, Ward verweist auf „The Case of Charles Dexter Ward“, Phillips natürlich auf Lovecraft selbst und Lavinia auf „The Dunwich Horror“. Darüber hinaus bemüht sich Stanley, die Figuren über ihre Rolle als Opfer der Farbe hinaus zu charakterisieren und eine Familiendynamik zu etablieren – so hat Nathan eine Alpaka-Farm aufgebaut, die ihm viel bedeutet, Theresa erholt sich von einem Krebsleiden und versucht, wieder in die Berufswelt einzusteigen und Lavinia ist mit dem isolierten Leben im Wald unzufrieden und beschäftigt sich mit Wicca. In diesem Zusammenhang bringt Stanley auch das Necronomicon im Film unter, wobei es sich bei der gezeigten Version um die Taschenbuchausgabe des Simon-Necronomicon handelt, die ich selbst ebenfalls mein Eigen nenne. Von einer Integration in die Handlung kann man allerdings kaum sprechen, es ist eher ein Cameo. Dementsprechend sorgt die Farbe nach ihrer Landung auch erst einmal dafür, dass die Spannungen, die unter der Oberfläche der Familie brodeln, hervorbrechen, bevor der wirklich kranke Scheiß passiert. Natürlich bekommt Nicoals Cage im späteren Verlauf noch die Gelegenheit, ein wenig aufzudrehen, was angesichts des sich steigernden Wahnsinns aber durchaus angemessen ist und nicht überstrapaziert wird.

Gerade in Bezug auf Body Horror geht „Color out of Space” natürlich deutlich weiter als „Die Farbe“ (für derartige Effekte ist schließlich ein gewisses Budget nötig) und auch als die ursprüngliche Geschichte – es wird mehr als deutlich, dass John Carpenters „The Thing“ ein Film ist, den Stanley mit großer Sicherheit sehr schätzt. Im Großen und Ganzen folgt „Color out of Space“ der Binnenhandlung in Lovecrafts Geschichte eigentlich relativ genau – nur eben erweitert um das persönliche Drama. Zudem wird im Finale auch ein Einblick in das gewährt, was man als Heimat der Farbe sehen könnte; abstrakte, fremdartige Eindrücke, die ein wenig an „Doctor Strange“ erinnern und in späteren Filmen – Stanley plant noch weitere Lovecraft-Adaptionen, darunter „The Dunwich Horror“ – eventuell dazu genutzt werden könnten, diesen Film mit dem „Cthulhu-Mythos“ zu verknüpfen.

Sprechen wir nun noch über die Farbe an sich, die hier im Grunde dieselbe ist wie in „Die Farbe“: ein stark leuchtendes Magenta bzw. Lila, dessen Wirkung hier nicht so stark herüberkommt wie in einem schwarz-weiß Film, das aber effekttechnisch deutlich mehr überzeugt. Gerade die sich ausbreitende Verderbnis und die Fremdartigkeit sowie die transformierenden Effekte sind hier deutlich eindrücklicher als bei Huan Vu – abermals dem deutlich höheren Budget geschuldet.

„Color out of Space“ wird wahrscheinlich Lovecraft-Puristen nicht unbedingt überzeugen, zeigt für mich aber, dass es durchaus möglich, das Werk HPLs zu modernisieren und für einen Mainstream-Horrorfilm anzupassen, ohne dass die Essenz des kosmischen Horrors verloren geht. Obwohl es sich bei Stanleys Werk sicher nicht um den innovativsten oder gelungensten Streifen des Genres handelt, ist er in meinen Augen definitiv eine der besten direkten Lovecraft-Adaptionen. Ich bin auf jeden Fall schon sehr auf „The Dunwich Horror“ gespannt.

Siehe auch:
Lovecrafts Vermächtnis: The Colour out of Space – Teil I
Lovecrafts Vermächtnis: Das Necronomicon

Lovecrafts Vermächtnis: Necronomicon – The Wanderings of Alhazred

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Fiktive legendäre Bücher haben die Tendenz, irgendwann Realität zu werden, sei es „Das Buch Nod“ aus dem Pen&Paper-Rollenspiel „Vampire: The Masquerade“, das als Quellenband bzw. Requisit Anfang der 90er erschien (von diversen Nachfolgewerken wie den „Offenbarungen der dunklen Mutter“ gar nicht erst zu sprechen) oder „Der König in Gelb“ aus Robert W. Chambers gleichnamiger Kurzgeschichtensammlung (der Autor Thomas Ryng hat sich daran gemacht, das Theaterstück zu schreiben; es kann erworben werden). Für das Necronomicon gilt das mehr als für jedes andere dieser real gewordenen Werke, nicht zuletzt, weil genug Leser dachten, beim von H. P. Lovecraft erfundenen Grimoire handle es sich um ein tatsächliches schwarzmagisches Werk. Lovecraft betonte mehrmals, dass das Necronomicon ausschließlich seiner Fantasie entstamme, was dieser Einstellung allerdings kaum einen Dämpfer verpasste. Anders als bei den oben erwähnten Werken finden sich Bücher, die von sich behaupten, das „echte“ Necronomicon zu sein. Die markantesten sind das sog. Simon-Necronomicon sowie das „Buch der toten Namen“ – über die Glaubwürdigkeit dieser beiden Machwerke bzw. den Mangel derselbigen habe ich mich in einem Artikel bereits ausgiebig geäußert.

Lovecraft selbst spielte durchaus mit dem Gedanken, das Necronomicon zu verfassen, verwarf diese Idee allerdings schnell wieder. Dafür hatte er zwei Gründe. Der erste ist sehr praktischer Natur: In „The Dunwich Horror“ zitiert Lovecraft eine kurze Passage aus dem Grimoire, die von Seite 751 stammt – demzufolge müsste es wohl mindestens um die 800 Seiten haben, was ihm als Unterfangen deutlich zu aufwendig war. Der zweite hängt mit der erzählerischen Wirkung zusammen: Über ein Buch zu schreiben, das den Leser in den Wahnsinn treiben kann, ist eine Sache, aber selbst ein solches Werk zu verfassen noch einmal eine ganz andere. Lovecraft fürchtete, dass das Ergebnis nur enttäuschen könne. Was sich ein Leser in seiner Fantasie ausmalt, ist letztendlich meistens stärker als das, was er schwarz auf weiß gedruckt vorfindet. Ein Autor hat diese Aufgabe allerdings auf sich genommen: Donald Tyson.

Bei Tyson handelt es sich um einen kanadischen Schriftsteller, der sich durchaus ernsthaft mit Okkultismus, Magick und ähnlichen Formen der Spiritualität beschäftigt – Dingen also, die der Skeptiker Lovecraft mit Sicherheit abgelehnt hätte (und ich muss zugeben, ich bin da durchaus geneigt, ihm zuzustimmen). Tatsächlich hat Tyson bereits mehrere Veröffentlichungen in diesem Bereich vorzuweisen. „Necronomicon – The Wanderings of Alhazred“ behauptet allerdings, anders als das Simon-Necronomicon oder das „Buch der toten Namen“, nicht von sich, das echte Werk zu sein, sondern ist ganz offensichtlich Fiktion. Darüber hinaus hat sich Tyson, anders als die Autoren der beiden oben genannten Werke, tatsächlich intensiv mit Lovecrafts Werk beschäftigt, denn seine Version repräsentiert den tatsächlichen „Lovecraft-Mythos“, um S. T. Joshis Bezeichnung zu verwenden, und nicht den „Derleth-Mythos“, wie es bei den anderen beiden Werken der Fall ist.

Ansonsten lässt sich Tysons Necronomicon am ehesten als Reiseführer bzw. Reisebericht durch den Mythos beschreiben – der Untertitel „The Wanderings of Alhazred“ ist also durchaus gerechtfertigt. Im Grunde berichtet Abdul Alhazred, besagter legendärer Autor des Necronomicons, von seinen Reisen, zum Teil zu realen Orten, zum Teil zu diversen Mythos-Schauplätzen wie R’yleh oder dem Plateau von Leng. Man darf hier allerdings keinen wirklich durchgehenden Handlungsstrang erwarten, auch ein Spannungsbogen fehlt völlig. Ein wirklicher Roman ist es nicht, aber ebenso wenig handelt es sich um ein fiktives Grimoire, auch wenn Tyson hin und wieder diverse Siegel zeigt oder Rituale erwähnt. Hier besteht durchaus die Möglichkeit, dass er „echte“ okkulte Inhalte integriert hat – um das zu bewerten fehlt es mir in diesem Bereich an Expertise.

Immerhin, die Lovecraft’schen Inhalte stimmen soweit und decken sich mit den Inhalten von HPLs Geschichten – es findet sich sogar ein cleverer Seitenhieb auf die falsche Interpretation des „Derleth-Mythos“. Zwar mischt Tyson immer wieder Elemente anderer Mythologien und Glaubenssysteme ein, etwa altägyptische, jüdische oder christliche, aber er bedient sich tatsächlich ausschließlich des „Lovecraft-Mythos“. Populäre Hinzufügungen des „Cthulhu-Mythos“ von anderen Autoren wie etwa Tsathoggua (von Clark Ashton Smith), Hastur/der König in Gelb (von Robert W. Chambers bzw. August Derleth) oder Glaaki (von Ramsay Campbell), finden keine Erwähnung. Die üblichen Lovecraft-Verdächtigen, von Dagon über Cthulhu bis hin zu Azathoth, sind allerdings prominent vertreten.

Obwohl Tysons Versuch, das Necronomicon zu konstruieren, deutlich besser gelungen ist, als es bei den beiden anderen der Fall war, bewahrheitet sich doch letztendlich Lovecrafts Befürchtung: Für ein mystisches Werk, das den Leser ob seiner Enthüllungen und Grauen in den Wahnsinn treibt, ist „Necronomicon: The Wanderings of Alhazred“ recht trocken. Zu deskriptiv fällt die Sprache letzten Endes aus; von einem fiktiven Autor, der den Spitznamen „the Mad Arab“ trägt, erwartet man doch ein wenig mehr. Derartig katalogisiert funktioniert der Mythos schlicht nicht mehr so gut – das hat sich bereits bei Derleth und anderen Autoren gezeigt, die zu dem noch versuchten, die Lovecrafts Götter und Entitäten diversen Elementen zuzuordnen oder sie im Stil der griechischen und ägyptischen Götter in Stammbäumen zu sortieren. Von Derartigem sieht Tyson zwar glücklicherweise ab, aber die Wirkung ist dennoch ähnlich. Die Lektüre gleicht am ehesten der eines Quellenbandes des RPGs „Call of Cthulhu“ (hierzulande bei Pegasus unter dem Titel „Cthulhu“ erschienen) und gerade hierfür würde Tysons Werke auch sicher sehr gut als Material anbieten, sei es um weitere Necronomicon-Zitat unterzubringen oder sich für Plots zu inspirieren.

Fazit: Von den Werken, die von sich behaupten, das Necronomicon zu sein, ist Donald Tysons „Necronomicon – The Wanderings of Alhazred“, das immerhin nicht den Anspruch erhebt, authentisch zu sein, zwar mit Abstand das Gelungenste, wer aber hofft, eine gute kosmische Horrorgeschichte zu finden, wird wohl enttäuscht werden. Wer hingegen zusätzliches Material für sein Cthulhu-Rollenspiel braucht, kann bedenkenlos zugreifen.

Bildquelle

Siehe auch:
Lovecrafts Vermächtnis: Das Necronomicon
Lovecrafts Vermächtnis: Der Cthulhu-Mythos
The Rise, Fall, and Rise of the Cthulhu Mythos

The Rise, Fall, and Rise of the Cthulhu Mythos

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Unglaublich, dass ich diese Monographie jetzt erst entdeckt habe, ist sie doch praktisch die definitive Auseinandersetzung mit dem sog. „Cthulhu-Mythos“. „The Rise, Fall, and Rise of the Cthulhu Mythos” wurde, wie könnte es auch anders sein, von S. T. Joshi verfasst, der nach wie vor und völlig zurecht als führende Autorität der Lovecraft-Forschung gilt – er hatte sogar einen kleinen Gastauftritt in Alan Moores Lovecraft-Meta-Comicserie „Providence“. Die erste Edition von „The Rise, Fall, and Rise of the Cthulhu Mythos” erschien bereits 2008, für die zweite Auflage, die 2015 auf den Markt kam, wurde das Werk noch einmal überarbeitet und natürlich um die seit 2008 erschienen Werke erweitert. Man sollte hier allerdings keine komplette Auflistung aller Autoren und Geschichten erwarten, die jemals etwas zum „Cthulhu-Mythos“ beigetragen haben – dafür bräuchte es ein mindestens doppelt so dickes Werk. Auch konzentriert sich Joshi fast ausschließlich auf englischsprachige Beiträge, sodass beispielsweise Christian von Asters „Ein Porträt Torquemadas“, nach wie vor eine meiner liebsten Mythos-Geschichten, keine Erwähnung findet.

Da der Begriff „Cthulhu-Mythos“ an sich schon umstritten ist, bemüht sich Joshi um eine begriffliche Abgrenzung; „Cthulhu-Mythos“ fungiert dabei als Oberbegriff. Für alle Geschichten von Lovecraft selbst, die dem Mythos zugeordnet werden, benutzt er den Begriff „Lovecraft-Mythos“. Bekanntermaßen hat sich HPL nie selbst um eine Bezeichnung für seine Pseudomythologie gekümmert, auch wenn er das eine oder andere Mal spaßeshalber von „Yog-Sothothery“ sprach. Wenn Joshi also vom „Lovecraft-Mythos“ spricht, bemüht er sich, Lovecrafts Geschichten von denen aller anderen Autoren abzugrenzen. Dem entgegen setzt er den Begriff „Derleth-Mythos“, mit dem er die spezifische Ausprägung des Mythos bezeichnet, die auf August Derleth und dessen Uminterpretation von Lovecrafts Werk zurückzuführen ist.

Die Definition des Mythos, sei es „Lovecraft-„ oder „Cthulhu-“, ist grundsätzlich recht diffizil. In der Einführung legt Joshi vier Kriterien bzw. Elemente fest, die man den Mythos-Geschichten attestieren kann und die deren Mythos-Zugehörigkeit aufzeigt. Dazu gehören Lovecrafts fiktive Topographie Neuenglands mit Städten wie Arkham oder Innsmouth, die immer wieder auftauchenden okkulten Werke wie das Necronomicon, die diversen außeridischen Götter und kosmischen Entitäten wie Cthulhu, Azathoth oder Yog-Sothoth und schließlich der Kosmizismus, also die philosophische Einstellung an sich. Aus diesem Grund rechnet Joshi „The Colour out of Space“ beispielsweise auch zum „Lovecraft-Mythos“, obwohl hier keine der Gottheiten auftaucht.

Das erste Kapitel, „Anticipation“, setzt sich mit Lovecrafts Werken von 1917 bis 1926 und der „Mythos-Entwicklung“ auseinander – hier bespricht Joshi Geschichten wie „Dagon“, „The Nameless City“ oder „The Festival“, die Stilmittel oder Elemente des Mythos beinhalten, aber noch nicht unbedingt als vollwertige Mythos-Geschichten zu werten sind. Das zweite Kapitel, „The Lovecraft Mythos: Emergence“, behandelt die Werke von 1926 bis 1930. Hier beginnt sich der tatsächliche Mythos, angefangen mit „The Call of Cthulhu“ – in Thema, Struktur, Aufbau etc. immer noch DIE archetypische Mythos-Geschichte – tatsächlich zu entwickeln. Kapitel III, „The Lovecraft Mythos: Expansion“, setzt sich schließlich mit der dritten Phase von Lovecrafts Schaffen auseinander und handelt die Geschichten von 1931 bis 36 ab. Diese Phase ist vor allem von einer Wandlung geprägt; Lovecrafts Geschichten bekommen in dieser Zeit eine stärkere Science-Fiction-Färbung, gerade Storys wie „At the Mountains of Madness“ dekonstruieren den Mythos regelrecht. Die Kapitel IV und V beschäftigen sich mit den Autoren, die bereits zu Lovecrafts Lebzeiten und in Rücksprache mit ihm Mythos-Geschichten verfasst haben, wobei hier ein „Geben und Nehmen“ zu beobachten ist. Autoren wie Robert E. Howard, Clark Ashton Smith und Frank Belknap Long (viertes Kapitel „Contemporaries: Peers“) bedienten sich nicht nur diverser Elemente aus Lovecrafts Geschichten, Lovecraft baute seinerseits Verweise in seine Werke ein. Ähnlich verhält es sich mit einigen etwas jüngeren Autoren, beispielsweise Robert Bloch, der später vor allem durch seinen Roman „Psycho“ (und nicht zuletzt durch die Verfilmung) bekannt werden sollte (fünftes Kapitel, „Contemporaries: Scions“).

In Kapitel VI setzt sich Joshi ausführlich mit August Derleth und seiner Interpretation bzw. Umdeutung des Mythos auseinander – statt kosmischer Horror ein Kampf von Gut gegen Böse inklusive guter „Äußerer Götter“ als Gegenstück zu den bösen „Großen Alten“; besagte „Äußere Götter“ gab es in dieser Form bei Lovecraft nie. Der Atheist Lovecraft hätte mit der katholisch geprägten Umdeutung seines Werkes sicher massive Probleme gehabt. In jedem Fall merkt man, dass Joshi Derleth nicht allzu sehr schätzt – um es milde auszudrücken. Hätte Derleth „nur“ Mythos-Geschichten mit dieser philosophischen Haltung geschrieben, wäre das Urteil wahrscheinlich bei weitem nicht so harsch ausgefallen, Joshis primäres Problem mit Derleth ist allerdings der Umstand, dass er Lovecraft seine Interpretation „aufdrückt“ und zur einzig gültigen erklärt, obwohl aus Lovecrafts Geschichten und Briefen mehr als deutlich wird, dass Derleth falsch liegt.

Dass sich Derleths Version des Mythos nicht durchgesetzt hat, attestiert Joshi primär der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Lovecraft. Nach Kapitel VIII, „Interrgenum“, in dem er die Mythos-Werke abseits von Derleth bis in die 70er bespricht, beschreibt er in Kapitel IX, „The Scholarly Revolution“ die Entwicklung besagter Auseinandersetzung und die Auswirkung, die diese auf Mythos-Autoren und Werke hatte. Besonders wird dabei ein Essay mit dem Titel „The Derleth Mythos“ von Richard L. Tierney hervorgehoben, das Joshi als essentiell für das Absterben des „Derleth-Mythos“ ansieht, aber die Beiträge zur Lovecraft-Forschung von Dirk W. Mosig, David E. Schultz oder auch Joshi selbst werden gewürdigt.

In den letzten beiden Kapiteln, „Recrudescence“ und „Resurgence“, bemüht sich Joshi, einen Überblick über die verschiedenen Werke und Strömungen des „Cthulhu-Mythos“ in englischer Sprache zu bieten, was aufgrund der schieren Masse an Publikationen natürlich ein schwieriges Unterfangen ist, weshalb er auch nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Dennoch, wer Empfehlungen für Mythos-Geschichten aus den letzten drei bis vier Jahrzehnten sucht, wird in diesen beiden Kapiteln definitiv fündig.

Fazit: S.T. Joshis „The Rise, Fall, and Rise of the Cthulhu Mythos” ist für alle Lovecraft-Fans und Forscher ein unverzichtbares Begleitwerk, in dem detailliert die Entwicklung des sog. „Cthulhu-Mythos“ gezeichnet wird, von den Ursprüngen bei Lovecraft über August Derleths Entgleisungen bis hin zu den modernen Ausprägungen.

Bildquelle

Siehe auch:
Lovecrafts Vermächtnis: Der Cthulhu-Mythos