Unglaublich, dass ich diese Monographie jetzt erst entdeckt habe, ist sie doch praktisch die definitive Auseinandersetzung mit dem sog. „Cthulhu-Mythos“. „The Rise, Fall, and Rise of the Cthulhu Mythos” wurde, wie könnte es auch anders sein, von S. T. Joshi verfasst, der nach wie vor und völlig zurecht als führende Autorität der Lovecraft-Forschung gilt – er hatte sogar einen kleinen Gastauftritt in Alan Moores Lovecraft-Meta-Comicserie „Providence“. Die erste Edition von „The Rise, Fall, and Rise of the Cthulhu Mythos” erschien bereits 2008, für die zweite Auflage, die 2015 auf den Markt kam, wurde das Werk noch einmal überarbeitet und natürlich um die seit 2008 erschienen Werke erweitert. Man sollte hier allerdings keine komplette Auflistung aller Autoren und Geschichten erwarten, die jemals etwas zum „Cthulhu-Mythos“ beigetragen haben – dafür bräuchte es ein mindestens doppelt so dickes Werk. Auch konzentriert sich Joshi fast ausschließlich auf englischsprachige Beiträge, sodass beispielsweise Christian von Asters „Ein Porträt Torquemadas“, nach wie vor eine meiner liebsten Mythos-Geschichten, keine Erwähnung findet.
Da der Begriff „Cthulhu-Mythos“ an sich schon umstritten ist, bemüht sich Joshi um eine begriffliche Abgrenzung; „Cthulhu-Mythos“ fungiert dabei als Oberbegriff. Für alle Geschichten von Lovecraft selbst, die dem Mythos zugeordnet werden, benutzt er den Begriff „Lovecraft-Mythos“. Bekanntermaßen hat sich HPL nie selbst um eine Bezeichnung für seine Pseudomythologie gekümmert, auch wenn er das eine oder andere Mal spaßeshalber von „Yog-Sothothery“ sprach. Wenn Joshi also vom „Lovecraft-Mythos“ spricht, bemüht er sich, Lovecrafts Geschichten von denen aller anderen Autoren abzugrenzen. Dem entgegen setzt er den Begriff „Derleth-Mythos“, mit dem er die spezifische Ausprägung des Mythos bezeichnet, die auf August Derleth und dessen Uminterpretation von Lovecrafts Werk zurückzuführen ist.
Die Definition des Mythos, sei es „Lovecraft-„ oder „Cthulhu-“, ist grundsätzlich recht diffizil. In der Einführung legt Joshi vier Kriterien bzw. Elemente fest, die man den Mythos-Geschichten attestieren kann und die deren Mythos-Zugehörigkeit aufzeigt. Dazu gehören Lovecrafts fiktive Topographie Neuenglands mit Städten wie Arkham oder Innsmouth, die immer wieder auftauchenden okkulten Werke wie das Necronomicon, die diversen außeridischen Götter und kosmischen Entitäten wie Cthulhu, Azathoth oder Yog-Sothoth und schließlich der Kosmizismus, also die philosophische Einstellung an sich. Aus diesem Grund rechnet Joshi „The Colour out of Space“ beispielsweise auch zum „Lovecraft-Mythos“, obwohl hier keine der Gottheiten auftaucht.
Das erste Kapitel, „Anticipation“, setzt sich mit Lovecrafts Werken von 1917 bis 1926 und der „Mythos-Entwicklung“ auseinander – hier bespricht Joshi Geschichten wie „Dagon“, „The Nameless City“ oder „The Festival“, die Stilmittel oder Elemente des Mythos beinhalten, aber noch nicht unbedingt als vollwertige Mythos-Geschichten zu werten sind. Das zweite Kapitel, „The Lovecraft Mythos: Emergence“, behandelt die Werke von 1926 bis 1930. Hier beginnt sich der tatsächliche Mythos, angefangen mit „The Call of Cthulhu“ – in Thema, Struktur, Aufbau etc. immer noch DIE archetypische Mythos-Geschichte – tatsächlich zu entwickeln. Kapitel III, „The Lovecraft Mythos: Expansion“, setzt sich schließlich mit der dritten Phase von Lovecrafts Schaffen auseinander und handelt die Geschichten von 1931 bis 36 ab. Diese Phase ist vor allem von einer Wandlung geprägt; Lovecrafts Geschichten bekommen in dieser Zeit eine stärkere Science-Fiction-Färbung, gerade Storys wie „At the Mountains of Madness“ dekonstruieren den Mythos regelrecht. Die Kapitel IV und V beschäftigen sich mit den Autoren, die bereits zu Lovecrafts Lebzeiten und in Rücksprache mit ihm Mythos-Geschichten verfasst haben, wobei hier ein „Geben und Nehmen“ zu beobachten ist. Autoren wie Robert E. Howard, Clark Ashton Smith und Frank Belknap Long (viertes Kapitel „Contemporaries: Peers“) bedienten sich nicht nur diverser Elemente aus Lovecrafts Geschichten, Lovecraft baute seinerseits Verweise in seine Werke ein. Ähnlich verhält es sich mit einigen etwas jüngeren Autoren, beispielsweise Robert Bloch, der später vor allem durch seinen Roman „Psycho“ (und nicht zuletzt durch die Verfilmung) bekannt werden sollte (fünftes Kapitel, „Contemporaries: Scions“).
In Kapitel VI setzt sich Joshi ausführlich mit August Derleth und seiner Interpretation bzw. Umdeutung des Mythos auseinander – statt kosmischer Horror ein Kampf von Gut gegen Böse inklusive guter „Äußerer Götter“ als Gegenstück zu den bösen „Großen Alten“; besagte „Äußere Götter“ gab es in dieser Form bei Lovecraft nie. Der Atheist Lovecraft hätte mit der katholisch geprägten Umdeutung seines Werkes sicher massive Probleme gehabt. In jedem Fall merkt man, dass Joshi Derleth nicht allzu sehr schätzt – um es milde auszudrücken. Hätte Derleth „nur“ Mythos-Geschichten mit dieser philosophischen Haltung geschrieben, wäre das Urteil wahrscheinlich bei weitem nicht so harsch ausgefallen, Joshis primäres Problem mit Derleth ist allerdings der Umstand, dass er Lovecraft seine Interpretation „aufdrückt“ und zur einzig gültigen erklärt, obwohl aus Lovecrafts Geschichten und Briefen mehr als deutlich wird, dass Derleth falsch liegt.
Dass sich Derleths Version des Mythos nicht durchgesetzt hat, attestiert Joshi primär der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Lovecraft. Nach Kapitel VIII, „Interrgenum“, in dem er die Mythos-Werke abseits von Derleth bis in die 70er bespricht, beschreibt er in Kapitel IX, „The Scholarly Revolution“ die Entwicklung besagter Auseinandersetzung und die Auswirkung, die diese auf Mythos-Autoren und Werke hatte. Besonders wird dabei ein Essay mit dem Titel „The Derleth Mythos“ von Richard L. Tierney hervorgehoben, das Joshi als essentiell für das Absterben des „Derleth-Mythos“ ansieht, aber die Beiträge zur Lovecraft-Forschung von Dirk W. Mosig, David E. Schultz oder auch Joshi selbst werden gewürdigt.
In den letzten beiden Kapiteln, „Recrudescence“ und „Resurgence“, bemüht sich Joshi, einen Überblick über die verschiedenen Werke und Strömungen des „Cthulhu-Mythos“ in englischer Sprache zu bieten, was aufgrund der schieren Masse an Publikationen natürlich ein schwieriges Unterfangen ist, weshalb er auch nicht den Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Dennoch, wer Empfehlungen für Mythos-Geschichten aus den letzten drei bis vier Jahrzehnten sucht, wird in diesen beiden Kapiteln definitiv fündig.
Fazit: S.T. Joshis „The Rise, Fall, and Rise of the Cthulhu Mythos” ist für alle Lovecraft-Fans und Forscher ein unverzichtbares Begleitwerk, in dem detailliert die Entwicklung des sog. „Cthulhu-Mythos“ gezeichnet wird, von den Ursprüngen bei Lovecraft über August Derleths Entgleisungen bis hin zu den modernen Ausprägungen.
Bildquelle
Siehe auch:
Lovecrafts Vermächtnis: Der Cthulhu-Mythos