Snow, Glass, Apples

Snow_Glass_Apples_lp_Cover_900px
Neil Gaiman hat eine besondere Vorliebe dafür, bekannte und beliebte Geschichten mit einem besonderen Twist neu zu erzählen, oft in Form von Kurzgeschichten, die dann ihrerseits als Comics umgesetzt werden. Das Sherlock-Holmes/Lovecraft-Crossover „A Study in Emerald“ ist ein sehr gutes Beispiel, „Snow, Glass, Apples“ ein weiteres. Die Story selbst erschien bereits 1994, die Comicadaption, umgesetzt und illustriert von Colleen Doran, wurde 2019 für Dark Horse angefertigt, die Übersetzung erschien erst vor kurzem bei Splitter.

Der Titel lässt es bereits vermuten, Gaiman erzählt hier „Schneewittchen“ neu – aus der perspektive der Stiefmutter und ganz definitiv nicht jugendfrei. Der Handlungsverlauf ist grob derselbe wie im Märchen: Eine magisch begabte junge Frau heiratet den König und wird Stiefmutter eines Mädchens mit Haut so weiß wie Schnee, Lippen so rot wie Blut und Haaren so schwarz wie Ebenholz. Nach dem Tod des Königs versucht die Königin, ihre Stieftochter umbringen zu lassen, mit der Folge, dass sie allein im Wald landet und bei Zwergen Zuflucht findet. Die Königin spürt ihre Stieftochter auf und versucht, sie mit einem vergifteten Apfel zu töten, ein Prinz erweckt sie jedoch aus dem Totenschlaf. So weit, so gut, Schneewittchen ist hier allerdings eine androgyne, bösartige Vampirin. Es wäre zu viel gesagt, ihre Stiefmutter als „die Gute“ zu bezeichnen, ihre Handlungen sind allerdings deutlich gerechtfertigter als im Märchen, denn es ist Schneewittchen, die für den Tod ihres Vaters verantwortlich ist. Das Herz, das die Stiefmutter erhält, ist hier tatsächlich Schneewittchens, was sie allerdings nicht groß aufhält. Eine besondere Interpretation erfährt darüber hinaus der Prinz, der zuerst mit der Königin anbandelt und sich dabei als nekrophil erweist. Am Ende erlangt das untote Schneewittchen ihr Herz zurück und lässt die Königin zahlen – das ganze fühlt sich aber natürlich nicht wie ein Happy End an.

Während „A Study in Emerald“ zwar sehr kompetent, aber zeichnerisch nicht besonders außergewöhnlich umgesetzt wurde, verfügt „Snow, Glass, Apples“ über eine sehr distinktive, vom Jugendstil inspirierte Optik. In Colleen Dorans Anmerkungen nennt sie Harry Clarke und dessen Werk An Angel of Peace als primäre Inspiration. Dorans Bilder sind üppig, wunderschön und gleichzeitig alptraumhaft. Sie verfügen über eine fließende Qualität, oft vermeidet Doran eine klassische Panelstruktur, stattdessen gehen die Szenen direkt ineinander über, was sowohl den Eindruck eines klassischen Kinderbuches als auch mittelalterlicher Wandteppiche erweckt.

Da ich nur den Comic und nicht die Prosakurzgeschichte gelesen habe, kann ich nichts zur Adaption sagen, allerdings entsteht hier problemlos der Eindruck, dass die Geschichte ausschließlich für Dorans Bilder geschaffen wurde, auch wenn dem nicht so sein mag. Denn was die Subversität angeht, war Gaiman schon deutlich besser und cleverer (gerade „A Study in Emerald“ ist ein gutes Beispiel), die Umwandlung des Märchens in eine Horror-Geschichte fällt doch ein wenig zu plakativ und auf den Schockfaktor ausgerichtet aus. Als Vehikel für Dorans Bilder ist die Geschichte aber wunderbar geeignet, sodass man geneigt ist, sich im Rausch der Bilder zu verlieren.

Fazit: Subversive Horror-Version von „Schneewittchen“, die an sich etwas zu plakativ ausfällt, in der Adaption von Colleen Doran aber ein wunderbar üppiges Comic-Kunstwerk darstellt, das ich jedem empfehlen kann, der sich an sehr expliziten Inhalten in seinen Märchen nicht stört.

Bildquelle

Siehe auch:
A Study in Emerald

Das Märchen der Märchen

taleoftales
Story: Drei Königreiche, drei Geschichten: Im Königreich Strongcliff herrscht ein Hedonist (Vincent Cassel), der eine Frau namens Imma (Shirley Henderson) begehrt, die er eines Morgens wunderschön singen hört; anschließend versucht er alles, um sie zu verführen. Das Problem: Imma ist alt und hässlich. Dennoch hofft sie, den König irgendwie täuschen zu können, um für sich und ihre ebenso hässliche Schwester Dora (Hayley Carmichael) Vorteile gewinnen zu können.

Das Herrscherpaar von Longtrellis hofft derweil vergebens auf Nachwuchs. Erst als ein mysteriöser alter Mann (Franco Pistoni) der Königin (Salma Hayek) sagt, was sie tun muss (das Herz eines Seeungeheuers essen, das von einer Jungfrau zubereitet wurde), wird sie schwanger, ebenso wie die kochende Jungfrau. Der Prinz Elias (Christian Lees) und der Sohn der Jungfrau Jonah (Jonah Lees) gleichen sich wie Zwillinge und sind unzertrennlich, was der Königin nicht behagt. Letztendlich schmiedet sie eine Intrige, um beide auseinanderzubringen.

Und dann ist da noch der König von Highhills (Toby Jones), der kaum Interesse an seiner Tochter Violet (Bebe Cave) zeigt und sich stattdessen lieber um einen riesigen Floh kümmert. Nachdem das Tier gestorben ist, lässt er es häuten, derjenige, der erkennt, von welchem Tier die Haut stammt, darf Violet heiraten. Dummerweise rät ein menschenfressender Riese richtig.

Kritik: Märchenfilme (bzw. märchenhafte Filme) sind gerade wieder ordentlich populär, nicht zuletzt, weil Disney einen nach dem anderen auf den Markt wirft, letztes Jahr hatten wir „Maleficent“ und „Into the Woods“, dieses Jahr „Cinderella“ und „Pan“ (nicht von Disney, aber trotzdem), und so wie es aussieht, wird der Trend in den nächsten Jahren munter fortgesetzt. „Das Märchen der Märchen“, eine französisch-britisch-italienische Koproduktion von Regisseur Matteo Garrone, könnte man gewissermaßen als europäische Antwort auf diesen Trend verstehen. Der Titel des Films ist auch der (bzw. ein) Titel der Vorlage: Die drei Geschichten, die der Film erzählt, stammen aus einer Märchensammlung aus dem 17. Jahrhundert, dem „Pentameron“, mit dem Untertitel „Das Märchen der Märchen“. Das Pentameron ist verhältnismäßig unbekannt, es handelt sich dabei um eine der ersten europäischen Märchensammlungen. Giambattista Basile sammelte diverse, mündlich überlieferte Märchen und verfasste eine Rahmenhandlung, die ein wenig an die der „Märchen aus 1001 Nacht“ erinnert. Besagte Rahmenhandlung erstreckt sich über fünf Tage, in deren Verlauf insgesamt 50 Märchen erzählt werden, zehn pro Tag – von diesem Umstand rührt auch der Titel, pentamerone bedeutet „Fünftagewerk“, während der Untertitel besagt, dass dies ein Märchen ist, in dem Märchen erzählt werden. Diese Bedeutung geht bei der Verfilmung leider verloren, da es hier keine Rahmenhandlung gibt, die drei adaptierten Märchen („Der Floh“, „Die hinterlistige Hirschkuh“ und „Die geschundene Alte“) sind inhaltlich fast völlig voneinander getrennt, nur am Anfang und am Ende gibt es Verknüpfungen, was ich ziemlich schade finde, da der Metaaspekt verloren geht. Von diesem Umstand einmal abgesehen ist „Das Märchen der Märchen“ allerdings sehr gelungen.

Wie bei den meisten anderen Märchenverfilmungen auch war es nötig, die Geschichte der Vorlage auszudehnen und um Details zu erweitern; alle drei Geschichten sind nur wenige Seiten lang. Garrone und seine Drehbuchautoren folgen dem inhaltlichen Verlauf zumeist sehr genau, schmücken die Handlung aber ziemlich aus und streichen auch hin und wieder das eine oder andere alberne Element. So werden in „Die hinterlistige Hirschkuh“ nicht nur Königin und Jungfrau schwanger, sondern auch sämtliche Gegenstände des Schlosses, und das Ende der Geschichte unterscheidet sich ziemlich von dem der Vorlage. Insgesamt sind Basiles Märchen weitaus unangenehmer und auch sprachlich sehr viel harscher als die der Gebrüder Grimm: vor allem Happy-Ends sucht man hier vergebens, die Figuren sind am Ende entweder zumindest von den Ereignissen stark gezeichnet, oder aber scheitern grandios an ihrer eigenen Selbstsucht und ihrem unreflektierten Verlangen. Der Film beschönigt diesbezüglich nichts. Obwohl die Stimmung durchaus märchenhaft ist und viele typische Merkmale des Genres auftauchen, besitzt der Streifen einen ziemlich grimmigen Grundton und einige äußerst graphische Szenen. „Das Märchen der Märchen“ ist definitiv kein Kinderfilm, die Altersfreigabe ab 12 wird ziemlich weit ausgereizt und ist meiner Meinung nach durchaus diskutabel.

Schauspielerisch ist „Das Märchen der Märchen“ sehr solide, die Darsteller sind allesamt gut gewählt und erfüllen ihre Aufgabe, der Film verlangt ihnen allerdings selten Höchstleistungen ab, bis auf Toby Jones, der in seiner Rolle wirklich aufgeht. Vincent Cassel und Salma Hayek dagegen wirken hin und wieder etwas unterfordert. Was „Das Märchen der Märchen“ wirklich herausragend macht, ist die grandiose Atmosphäre, zugleich märchenhaft und bizarr. Sie ist dicht, dekadent, üppig, manchmal grotesk, abartig und düster, aber in ihrer Renaissance-Pracht immer herrlich anzuschauen. Das liegt unter anderem auch an den beeindruckenden Drehorten; Garrone ließ sich diesbezüglich nicht lumpen und verwendete einige der beeindruckendsten Schlösser und Burgen Italiens als Kulisse für seinen Märchenfilm.

Fazit: Grandioser, üppig-grotesker europäischer Märchenfilm, der die Konkurrenz aus Hollywood allein mit seiner Kompromisslosigkeit und seinen visuellen Einfällen ziemlich alt aussehen lässt.

Trailer