Das Soundtrack-Jahr 2022

Spoiler für „House of the Dragon”!

Die Soundtrack-Bestenliste des vergangenen Jahres war früher ein konstanter Bestandteil meines Blogs, in den letzten paar Jahren hatte ich allerdings kaum Zeit oder Muße, ein derartiges Unterfangen anzugehen. Zwar bin ich auch für 2022 weit davon entfernt, einen wirklich umfangreichen Überblick über die Score-Veröffentlichungen zu haben (von den zugehörigen Filmen gar nicht erst zu sprechen), aber zum ersten Mal seit längerem reizt es mich wieder, das, was ich gehört habe, in Listenform zu rekapitulieren. Von einem Ranking der größten Enttäuschungen habe ich dieses Mal abgesehen, stattdessen möchte ich mich auf die positiven Aspekte konzentrieren. Dementsprechend finden sich auf dieser Liste wohl auch nicht allzu viele überraschende Einträge; wer meinen Filmmusikgeschmack kennt, kann wahrscheinlich sehr gut erraten, welche Scores es geschafft haben. 2022 war interessanterweise ein erstaunlich gutes Jahr für Superheldenscores und ein ziemlich enttäuschendes für Star-Wars-Musik. Wie schon zuvor gibt es neben der eigentlichen Liste auch Honourable Mentions in Form herausragender Einzelstücke sowie zwei besondere Erwähnungen, die interessanteste Neuentdeckung, die nicht spezifisch etwas mit 2022 zu tun hat, ich habe sie nur in diesem Jahr gemacht, und die beste Neuauflage eines bereits veröffentlichten Scores, der endlich das Album bekommen hat, das er verdient.

Interessanteste Neuentdeckung: Hostel & Hostel Part II (Nathan Barr)

Nun gut, dieser erste Beitrag ist praktisch purer Zufall und hat, wie erwähnt, nicht per se etwas mit dem Jahr 2022 zu tun. Neben der Saw-Reihe sind die Hostel-Filme von Eli Roth wahrscheinlich der bekannteste Auswuchs der Torture-Porn-Welle der 2000er. Ich habe beide aus mir nicht wirklich ersichtlichen Gründen gesehen, sie für schlecht befunden, aus meinem Gedächtnis verbannt und an die Musik keine weiteren Gedanken verschwendet. Zu Unrecht, wie ich im vergangenen Jahr festgestellt habe, denn Komponist Nathan Barr hat wirklich beeindruckende Musik für die beiden Ausflüge in den Folterkeller komponiert. Keine Spur vom unhörbaren elektronischen Sounddesign, das ich wohl im Score dieser Filme erwartet hätte, sondern solide, orchestrale Kost, die in ihren Suspense- und Horror-Techniken hin und wieder an Christopher Young und ziemlich oft auch an Bernard Herrmann erinnert. Angereichert wird das durch eine Anzahl erstaunlich lyrischer und melodischer Passagen, exemplarisch sei hier der Eröffnungstrack des zweiten Teils, Suite (Amid a Crowd of Stars) erwähnt. Ich wäre angesichts dieser beiden Scores fast geneigt, mir die Filme noch einmal anzusehen, um Barrs Musik im Kontext zu erleben. Fast…

Beste Neuauflage: Tomorrow Never Dies (David Arnold)

Lange überfällig, endlich da: Während die anderen beiden Scores, die David Arnold für Pierce Brosnans James Bond geschrieben hat, bereits vor einigen Jahren vom Label La-La-Land Records vernünftige Alben bekamen, ließ Arnolds Debüt als 007-Komponist, „Tomorrow Never Dies“, viel zu lange auf sich warten. Über die ursprüngliche Albensituation und die Großartigkeit dieses Soundtracks habe ich an anderer Stelle bereits sehr ausführlich geschrieben, darum nur so viel: Das neue La-La-Land-Album erfüllt alle Erwartungen. Nicht nur wird der komplette Score auf zwei CDs geboten, es gibt auch eine Reihe an alternativen Tracks, zusätzlich zu einem sehr informativen Booklet. Absolute Kaufempfehlung, nach wie vor der beste Soundtrack der Filmreihe.
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Einzelstücke

Hekla aus „The Northman” (Robin Carolan und Sebastian Gainsborough)

Für „The Northman“ hat das Komponistenduo Robin Carolan und Sebastian Gainsborough einen sehr authentischen und rohen Score komponiert, der den Ansprüchen eines Robert-Eggers-Filmes definitiv gerecht wird, abseits des Films aber nicht unbedingt besonders gut hörbar ist. Das Werk kulminiert gewissermaßen in Hekla, dem Track, der das finale Duell von Amleth und seinem Onkel Fjölnir untermalt. Hier zeigen Carolan und Gainsborough durch massiven Choreinsatz sowohl die ungezügelte Wildheit dieser beiden Nordmänner als auch die nicht minder ungezügelte Wildheit der Natur. Zudem habe ich ein besonderes Faible für schicksalhafte Duelle vor vulkanischem Hintergrund, untermalt von beeindruckenden Chorpassagen.
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The Hammer of Thor aus „God of War: Ragnarök” (Bear McCreary)

Noch mehr Wikinger. Unter „normalen“ Umständen wäre dieser Game-Score mit Sicherheit auf der „Hauptliste“ gelandet, aber ich wollte sie nicht mit McCreary fluten und es gibt zugegebenermaßen ziemlich große Ähnlichkeiten zwischen „God of War: Ragnarök“ und einem bestimmten anderen Soundtrack. Dennoch soll er nicht unerwähnt bleiben. Ich persönlich finde McCrearys zweiten God-of-War-Score etwas schwächer als den ersten, was vielleicht daran liegen könnte, dass seine Aufmerksamkeit von dem bereits erwähnten anderen Projekt gefesselt wurde. The Hammer of Thor ist, ähnlich wie Hekla, ein chorlastiger Actiontrack, in seiner Konzeption aber deutlich traditioneller, mit vollem Orchester, angereichert durch einige nordische Spezialinstrumente . Zudem baut McCreary diverse Themen ein, unter anderem eine äußerst beeindruckende Variation seines Kratos-Themas, das als Höhepunkt dieses Stückes fungiert.
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Lake Baikal aus „Black Adam” (Lorne Balfe)

So wie es aussieht, neigt sich das filmische DC-Universum, wie wir es kennen, nun endgültig dem Ende entgegen. Einer der letzten Auswüchse ist das nun beinahe ein Jahrzehnt lang vorbereitete Dwayne-Johnson-Vehikel „Black Adam“. Der Score stammt von Remote-Control-Veteran Lorne Balfe und ist eine ziemlich massive Angelegenheit, Action-Musik von Anfang bis Ende. In vielerlei Hinsicht versucht Balfe hier, die Stilmittel von DC-Scores wie „Man of Steel“ und „Batman v Superman: Dawn of Justice“ mit einer klassischeren Genre-Sensibilität zu verknüpfen, für meinen Geschmack ist das alles aber immer noch deutlich zu prozessiert und mit viel zu vielen elektronischen Effekten versehen. Das Thema der Titelfigur finde ich persönlich auch eher suboptimal, aber das Leitmotiv der Justice Society hat es mir durchaus angetan – wären da nur nicht die ganzen elektronischen Effekte und Dance-Beats in der Themen-Suite oder dem Debüt-Track Introducing the JSA. Im Track Lake Baikal präsentiert Balfe das Thema dieses Superheldenteams allerdings in einer deutlich klassischeren Ausprägung, die eher an die Zimmer-Power-Hymnen der späten 90er und frühen 2000er statt an seine DC-Musik der 2010er-Jahre erinnert.
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Such Sights to Show You aus „Hellraiser” (Ben Lovett)

David Bruckners Hellraiser-Reboot kann aus mir unerfindlichen Gründen hierzulande nach wie vor auf keinem Streamingdienst begutachtet und auch nicht käuflich erworben werden, was mich geringfügig frustriert. Der Score von Ben Lovett hingegen ist verfügbar, aber aus anderen Gründen etwas frustrierend. Stilistisch handelt es sich hierbei eher um einen Horror-Score moderner Prägung, sehr elektronisch, bedacht auf Atmosphäre und Sound-Design. Zugleich haben Bruckner und Lovett allerdings beschlossen, das musikalische Vermächtnis des Franchise zu ehren, was im Klartext bedeutet, dass im Score durchaus üppiger Gebrauch von Christopher Youngs Themen gemacht wird, was mir als Fan leitmotivischer Kontinuität (und Christopher Youngs) natürlich zusagt – wie man an den späteren Hellraiser-Filmen feststellen konnte, funktioniert dieses Franchise mit Youngs Themen deutlich besser als ohne. Frustrierend ist, dass die beiden Aspekte des Scores, modernes, eher elektronisches Sounddesign auf der einen und Youngs Themen auf der anderen Seite nie so recht zusammen finden wollen. Zudem sind Lovetts Variationen dieser Themen den originalen, sehr viel besser orchestrierten deutlich unterlegen. Am nächsten kommt Lovett dem Vorbild in Such Sights to Show You; hier erlaubt er dem Hauptthema des ersten Films zumindest annähernd in die bombastischen Gefilde aufzusteigen, in denen Young seine Themen präsentierte.

The Escape aus „Fantastic Beasts: The Secrets of Dumbledore” (James Newton Howard)

So ziemlich der einzige lohnende Aspekt des dritten Fantastic-Beasts-Films ist schon, wie beim Vorgänger, der Score von James Newton Howard. Während auch der dritte Eintrag dieser inzwischen gescheiterten Harry-Potter-Prequel-Serie zu überzeugen weiß, ist er aus meiner Sicht doch der schwächste der drei. Während die lyrisch-elegischen Passagen nach wie vor zu überzeugen wissen, fehlt hier das Abenteuer-Element, das vor allem „Fantastic Beasts and Where to Find Them“ zu einem so unterhaltsamen Soundtrack machte. Mein Lieblingsthema ist Newt Scamanders heroisches Leitmotiv, das mich an die klassischen Western-Scores von Elmer Bernstein erinnert – leider erklingt dieses in „The Secrets of Dumbledore“ nur äußerst selten, aber immerhin spendiert Howard diesem Thema in The Escape noch einmal einen glorreichen, wenn auch kurzen Auftritt.
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Protector of the Realm aus „House of the Dragon” (Ramin Djawadi)

Der Score der ersten Staffel von „House of the Dragon“ bot relativ wenig Überraschungen: Nicht nur verpflichtete HBO den GoT-Komponisten Ramin Djawadi, dieser knüpfte stilistisch und leitmotivisch direkt an die Mutterserie an. Gerade im Vergleich zu den späteren GoT-Staffeln fällt dieser Score allerdings deutlich unspektakulärer aus, da „House of the Dragon wieder deutlich mehr komplexe Dialogszenen hat, in denen die Musik in den Hintergrund tritt – über weite Strecken passiert leider nicht allzu viel, immer wieder gelingt es Djawadi allerdings, den emotionalen Kern der Geschichte genau zu treffen. Protector of the Realm ist ein gutes Beispiel. Dieser Track wirkt ohne Kontext vielleicht nicht allzu beeindruckend, im Geflecht von Djawadis Motivarbeit und im Zusammenspiel mit der zugehörigen Szene entfaltet er aber seine volle Wucht. Die Kombination aus Viserys‘ persönlichem Leitmotiv und dem aus GoT bekannten Königsthema untermalt den letzten Gang des todkranken zum Eisernen Thron wirklich perfekt und betont die gesamte Tragik dieser Figur.
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Top 13

Platz 13: The Pale Blue Eye (Howard Shore)

Neue Scores von Howard Shore sind inzwischen eine Rarität geworden, das Mastermind hinter der Musik der LotR-Trilogie vertont nur noch sehr ausgewählte Filme – wobei auch erwähnt werden muss, dass er in den 2020ern aktiver war als in der zweiten Hälfte der 2010er. Vom Fantasy-Genre hält sich Shore, mit einer offensichtlichen Ausnahme, zudem eher fern. Für den Netflix-Film „The Pale Blue Eye“ komponierte Shore einen Score, der nahtlos an seine früheren, atmosphärischen Thriller wie „The Silence of the Lambs“ oder „A History of Violence“ anknüpft. Shores effektive Suspense-Techniken sorgen für eine düstere, bedrückende Atmosphäre. Dabei ist „The Pale Blue Eye“ für Mittelerde-Fans durchaus interessant, da es immer wieder Anklänge an das Mordor-Material gibt, besonders in den, zugegebenermaßen recht wenigen, Action-Tracks wie Attack on the Road. Da ich „The Pale Blue Eye“ noch nicht gesehen habe, weiß ich nicht, wie der Score im Film-Kontext wirkt, aber in jedem Fall funktioniert er ideal als Untermalung bedrückender, düsterer Lektüre – was als Kompliment zu verstehen ist.

Platz 12: Wednesday (Danny Elfman, Chris Bacon)

Als großer Fan der beiden Addams-Family-Filme aus den 90ern war ich natürlich sehr neugierig auf die neue Inkarnation, nicht zuletzt wegen der Beteiligung Tim Burtons. Der überwältigende Erfolg von „Wednesday“ will sich mir, ehrlich gesagt, nicht völlig erschließen; zwar ist diese Staffel durchaus unterhaltsam und anschaubar, aber doch auch ein recht typisches, konventionell konstruiertes YA-Mystery-Drama mit ziemlich vorhersehbarer Handlung, eindeutig zu wenig Addams Family und, zugegeben, sehr guten darstellerischen Leistungen, vor allem von Jenna Ortega. Wie dem auch sei, Tim Burtons Mitwirken an einem Projekt wie diesem garantiert natürlich die Beteiligung Danny Elfmans. Die Musik der Serie komponierte Elfman zusammen mit Chris Bacon; herausgekommen ist genau das, was man erwartet: gotisch-düstere Extravaganz, ebenso verspielt wie unterhaltsam mit einem sehr eingängigen Titelthema. Im Vergleich zu, sagen wir „Sleepey Hollow“ oder „The Wolfman“ kommt der Score von „Wednesday“ etwas unfokussierter daher, was aber auch mit dem Serienformat und dem doch sehr umfangreichen Album zusammenhängen mag. Soweit ich gehört habe, zitieren Elfman und Bacon weder das klassische Thema der 60er-Serie von Vic Mizzy noch die Musik von Marc Shaiman aus den 90ern, bewegen sich aber in ähnlichen Bereichen und tänzeln mitunter regelrecht um die vertrauten Melodien herum.

Platz 11: DC League of Super Pets (Steve Jablonsky)

Bei Superhelden-Scores von RCP-Komponisten bin ich immer erst einmal vorsichtig (siehe „Black Adam“), aber bei „DC League of Super-Pets“ ist diese Vorsichtig nicht angebracht, denn der parodistisch anmutende Animationsfilm besinnt sich auf die klassischen Genre-Tugenden und besticht durch schöne Orchester-Arbeit und aufregende Action-Passagen sowie eingängige Themen. Stilistisch erinnert mich Jablonskys Arbeit stark an Danny Elfmans „Justice League“ – ein Score, der meinem Empfinden nach sehr unfair behandelt wurde. Wie „Justice League“ ist auch „DC League of Super Pets” zweifelsohne ein moderner Action-Score, der sich aber zugleich an den Klassikern des Genres orientiert und dem die Balance deutlich besser gelingt als „Black Adam“. Zudem verschafft Jablonsky sowohl Danny Elfmans Batman-Thema als auch den Themen für Krypton und Superman von John Williams Gastauftritte, zwar kaum mehr als musikalische Cameos, die aber dennoch sehr willkommen sind. Wer also nach einem geistigen Nachfolger zu Elfmans „Justice League“ sucht, wird hier zweifellos fündig.

Platz 10: Avatar: The Way of Water (Simon Franglen)

Bereits an „Avatar“ arbeitete Simon Franglen eng mit James Horner zusammen, ebenso wie an den nachfolgenden Horner-Scores. Als Horner 2016 bei einem Flugzeugabsturz verstarb, war es Franglen, der Horners letzten Soundtrack, „The Magnificent Seven“, vollendete. Insofern war es nur logisch, Franglen das Avatar-Sequel vertonen zu lassen, nicht zuletzt, da er bereits für die Musik der Disney-World-Attraktion „Pandora – The World of Avatar“ verantwortlich war. „Avatar: The Way of Water“ ist eine beeindruckende Errungenschaft, Franglen knüpft an die Stilmittel und Leitmotive Horners direkt an, sorgt aber zugleich dafür, dass der Score nicht zur reinen Pastiche verkommt; Franglens eigener Kompositionsstil ist durchaus präsent. Immer wieder finden sich Passagen, die Horner auf diese Art wohl nicht komponiert hätte, die aber trotzdem nicht wie Fremdkörper wirken. Diese Balance zu halten ist eine schwierige Aufgabe, die Franglen mit Bravour meistert. Ich könnte mir vorstellen, dass meine Meinung zu diesem Score noch positiver wird, wenn ich ihn im Kontext erlebt habe.

Platz 9: Thor: Love and Thunder (Michael Giacchino, Nami Melumad)

Der Donnergott ist neben Iron Man wohl das größte Opfer des Mangels an leitmotivischer Kontinuität im MCU: In jedem, wirklich jedem seiner Solo-Filme wird er mit einem neuen Thema bedacht. Dass Mark Mothersbaugh in „Thor: Ragnarok“ einmal das Patrick Doyle-Thema zitiert, hilft da nur bedingt. „Thor: Love and Thunder“ ist keine Ausnahme. Obwohl Michael Giacchino (der hier zusammen mit Nami Melumad komponiert) sich in einigen seiner bisherigen MCU-Scores durchaus geneigt zeigte, bereits etablierte Themen zumindest zu zitieren, verwirft er hier ein weiteres Mal alles vorher Dagewesene. Giacchinos Thor-Thema gilt dem Konzept, unabhängig davon, wer welchen Hammer schwingt, und wird deshalb sowohl für die von Chris Hemsworth dargestellte Version als auch Natalie Portmans Jane-Foster-Thor verwendet, was mich nur noch mehr frustriert. Giacchino hätte sein neues Thema ausschließlich für Jane Foster verwenden und für die altbewährte Inkarnation auch eines der vorher etablierten Themen verwenden können – idealerweise das von Doyle. Wie dem auch sei, von diesem Faktor abgesehen ist Giacchinos Score schlicht brachial unterhaltsam. Das Thema für die beiden Thors ist absolut eingängig und gelungen und vor allem die völlig überdrehten Action-Passagen, inklusive Einsatz von Chor und E-Gitarre, wissen zu gefallen. Giacchino und Melumad knüpfen somit teilweise an Mothersbaughs Arbeit an, verzichten aber größtenteils auf die Retro-Synth-Effekte, was mir persönlich nicht ganz unrecht ist, aber eben auch auf Mothersbaughs Verweise auf die vorherigen Scores.
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Platz 8: Doctor Strange in the Multiverse of Madness (Danny Elfman)

Selbst ein Michael Giacchino ist nicht davor gefeit, durch einen anderen Komponisten ersetzt zu werden, wenn es einen Regisseurwechsel gibt. Als Sam Raimi nach Scott Derricksons Ausscheiden das Doctor-Strange-Sequel in Angriff nahm, brachte er Danny Elfman an den Start. Anders als Giacchino und Melumad bei „Thor: Love and Thunder“ greift Elfman durchaus auf das bereits etablierte leitmotivische Material zurück und zitiert nicht nur das Doctor-Strange-Thema, sondern auch das Titelthema aus der Serie „WandaVision“ von Kristen Anderson-Lopez und Robert Lopez, Alan Silvestris Captain-America-Marsch und sogar die Titelmelodie der X-Men-Animationsserie aus den 90ern. Allerdings verpasst Elfman Doctor Strange ein zusätzliches neues Thema, das in meinen Augen nicht nur deutlich schwächer als das alte, sondern auch ziemlich unnötig ist, und er nimmt leider keinerlei Rücksicht auf die spezielle Instrumentierung, die das hervorstechendste Merkmal des ersten Strange-Scores war und auch prominent in „Spider-Man: No Way Home“ zum Einsatz kam. Stattdessen ist Elfmans „Doctor Strange in the Multiverse of Madness” fest in Elfmans modernem Action-Stil verankert, mit Anleihen aus seinen Horror-Arbeiten. Obwohl ich mir mehr stilistische Anleihen aus „Doctor Strange“ gewünscht hätte, bin ich doch ein großer Fan von Elfmans Stil, insofern ist dieses Werk, abseits dieser Aspekte, extrem unterhaltsam, dynamisch, lebendig und kreativ. Es mag merkwürdig wirken, dass sowohl „Thor: Love and Thunder“ als auch „Doctor Strange in the Multiverse of Madness“ angesichts meiner Kritikpunkte derartig hoch auf der Liste gelandet sind, aber trotzdem haben sie es geschafft, mich nachhaltig zu beschäftigen, zu unterhalten und wurden seit Erscheinen zudem sehr, sehr häufig angespielt, weshalb ich diese Platzierung für gerechtfertigt halte.
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Platz 7: Violent Night (Dominic Lewis)

Es ist faszinierend, wie gut sich sowohl die Melodien als auch die Stilmittel klassischer Weihnachtslieder für verschiedene Genres adaptieren lassen, wie sich am Beispiel diverser Scores zeigt, seien es Komödien („Home Alone“), Superhelden („Batman: Arkham Origins“), Horror („Krampus“), Bibelverfilmungen („The Nativity Story) oder natürlich Action – man denke nur an „Arthur Christmas“ oder, das wohl populärste Beispiel, „Die Hard“. In eine sehr ähnliche Kerbe schlägt auch Dominic Lewis‘ „Violent Night“, ein extrovertierter, sehr überdrehter Action-Score, der nicht nur dank der melodischen Qualität seiner eigenen Themen, sondern auch durch die gelungene, um nicht zu sagen subversive Einbindung diverser Weihnachtslieder zu überzeugen weiß. Stilistisch ist Lewis nicht allzu weit von Alan Silvestri oder John Williams entfernt. Wer einen ebenso schönen wie absurden Weihnachts-Score sucht, macht mit „Violent Night“ sicher nichts falsch.

Platz 6: Paws of Fury: The Legend of Hank (Bear McCreary)

Ich habe eine besondere Schwäche für die Mischung von traditionellem Orchester und ostasiatischer Instrumentierung, egal ob „Mulan“, „The Monkey King“, „Kung Fu Panda“, „The Last Samurai“, „The Promise“ oder gar „World of Warcraft: Mists of Pandaria“. Bear McCrearys „Paws of Fury: The Legend of Hank“ stimmt ähnliche Töne an, vor allem zu den drei Kung-Fu-Panda-Scores von John Powell und Hans Zimmer finden sich eine Reihe von Parallelen. „Paws of Fury“ bietet genau die Art von aufwändig konstruierter musikalischer Extrovertiertheit, die sich gegenwärtig oft nur im Animationsbereich findet. Zusätzlich mischt McCreary auch noch Elemente aus Ennio Morricones Western-Scores und einer Prise Jazz in diese musikalische Suppe. Das Ganze ist ein faszinierendes Konglomerat, eine wilde Mischung, die deutlich besser funktioniert als sie eigentlich sollte. Wer 2022 einen zünftigen Powell-Animations-Score vermisst, findet in dieser Arbeit von Bear McCreary vielleicht einen angemessenen Ersatz.

Platz 5: Moon Knight (Hesham Nazih)

Unglaublich aber wahr, der beste MCU-Score des Jahres stammt von einem in westlichen Gefilden ziemlich unbekannten Komponisten, auch wenn man bei Hesham Nazih kaum von einem Newcomer sprechen kann, schließlich ist er nicht nur seit über zwanzig Jahren als Komponist tätig, sondern in seiner Heimat Ägypten auch sehr bekannt und populär. Anders als bei „Thor: Love and Thunder“ oder „Doctor Strange in the Multiverse of Madness” muss man hier keinerlei leitmotivische Abstriche machen, da „Moon Knight“ sehr vom restlichen MCU losgelöst ist. Für die Titelfigur liefert Nazih ein enorm starkes Thema, das er, analog zu den Persönlichkeiten Moon Knights, wunderbar spalten und fragmentieren kann. Der dominanteste und beeindruckendste Aspekt des Scores sind wohl die vielen, monumentalen Chorpassagen, die einen wirklich bleibenden Eindruck hinterlassen. Bedingt durch die Thematik der Serie und die dazu passende Instrumentierung klingt Nazihs Arbeit eher nach Hollywoods Orient-Sound als nach der typischen MCU-Musik, kommt dabei aber deutlich authentischer und weniger klischeehaft rüber, als es bei, sagen wir, „The Mummy“ oder „Gods of Egypt“ der Fall ist (die natürlich trotzdem beide exzellent sind). Ich jedenfalls hoffe, dass „Moon Knight“ Nazih viele Türen öffnet.

Platz 4: Interview with the Vampire (Daniel Hart)

Zuerst war ich bei dieser Neuauflage von „Interview with the Vampire“ recht skeptisch, nicht zuletzt wegen der massiven Abweichungen von Anne Rice‘ Roman. Und natürlich wäre da noch der Umstand, dass es sich beim Film von Neil Jordan um eine fast perfekte Adaption handelt. Aber trotz einiger erzählerischer und inhaltlicher Mängel war ich insgesamt durchaus angetan von dieser ersten Staffel. Einer der größten Pluspunkte der Serie ist zweifellos der Score von Daniel Hart, der wunderbar altmodisch, fast schon klassisch, melodiös und gotisch klingt. Der Vergleich zu Elliot Goldenthals Musik von 1994, immerhin einer meiner liebsten Horror-Soundtracks, drängt sich natürlich fast schon auf, und tatsächlich, es gibt gewisse Parallelen. Daniel Harts Fokus liegt allerdings, ebenso wie der der Serie, stärker auf den romantischen Aspekten, und weniger auf dem schieren Grandeur und der orchestralen Brutalität des Goldenthals-Scores. Natürlich haben wir es hier mit einer zutiefst toxischen und ungesunden Romanze zu tun, und auch das spiegelt sich in Harts Musik wider und entsprechend fällt die Entwicklung zum Ende hin auch aus.

Platz 3: The Batman (Michael Giacchino)

Erstaunlich, was man mit vier Noten so alles anstellen. Nach Jahren der Zimmer-Dominanz im Batman-Bereich liefert Michael Giacchino endlich mal wieder einen Score für den Dunklen Ritter, der sich vom Wummern und Dröhnen distanziert, Gotham City mit den musikalischen Mitteln des Thrillers und des Film Noir darstellt und seinen Titelhelden fast schon wie ein Monster behandelt. Aber vor allem wird endlich einmal wieder ordentliche Orchesterarbeit geboten. Während Giacchinos Motiv für Batman in mancher Hinsicht ein wenig enttäuschend ist (ich hätte doch gerne mal wieder ein etwas komplexeres Batman-Thema), so ist es doch unleugbar effektiv. Dasselbe gilt auch für die anderen beiden dominanten Themen für Catwoman und den Riddler und die gesamte Tonalität.
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Platz 2: The 13 Lords of Shogun (Evan Call)

Jedes Jahr seit 1963 strahl der japanische Sender NHK ein sog. „Taiga-Drama“ aus – dabei handelt es sich um eine ziemlich epochale Serie mit etwa 40 bis 50 Folgen, die sich einer Figur oder einer Thematik der japanischen Geschichte annimmt. Das Taiga-Drama des Jahres 2022 trägt den Titel „The 13 Lords of Shogun“ und thematisiert die Herrschaft von Hōjō Yoshitoki, der von 1205 bis 1224 Japan regierte. Die Musik komponierte der britische, aber in Japan ansässige Komponist Evan Call. Auf dieses umfangreiche Werk – „The 13 Lords of Shogun“ wurde in Form von drei äußerst üppigen Alben veröffentlicht – bin ich eher durch Zufall in einem Soundtrack-Forum gestoßen, die Serie selbst habe ich nicht gesehen, weiß also auch nicht, wie sie im Kontext wirkt. Was ich weiß ist, dass Evan Calls Arbeit ein wirklich episches, ja geradezu monumentales Werk ist, voll von grandiosen Melodien, beeindruckender Action-Musik, aber auch sehr ruhigen, lyrischen und mitunter verspielten Passagen. Das Ganze mutet zwar japanisch an, kommt aber, ähnlich wie „Moon Knight“, deutlich authentischer rüber, als es bei einem typischen Hollywood-Score der Fall ist.

Platz 1: The Lord of the Rings: The Rings of Power (Bear McCreary)

Mittelerde-Scores haben die Angewohnheit, in meinen Rankings an der Spitze zu landen. So viele Probleme ich auch mit „The Lord of the Rings: The Rings of Power” habe, der Score von Bear McCreary ist DAS Element, das vollauf und rundum überzeugt. Ähnlich wie Howard Shore arbeitet McCreary mit einer Vielzahl an Leitmotiven, die er konsequent entwickelt und miteinander agieren lässt. Dabei gelingt es McCreary sehr gut, auf einem schmalen Grat zu wandern: Zwar darf er sich nicht der Themen und Motive aus den beiden Jackson-Trilogien bedienen, verankert seine Version von Mittelerde aber dennoch in einer ähnlichen stilistischen und instrumentalen Palette (etwa Männerchöre für die Zwerge, keltisch anmutende Musik für die Hobbits/Haarfüße etc.). Zugleich handelt es sich hier aber unverkennbar um McCrearys Interpretation von Tolkiens Werk und nicht nur um eine bloße Nachahmung von Shores Arbeit. Eingängige Themen und Melodien, lyrische Schönheit und beeindruckende Action – zumindest auf musikalischer Ebene bietet „The Lord of the Rings: The Rings of Power“ alles, was man sich nur wünschen kann.
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The Lord of the Rings: The Rings of Power – Staffel 1

Spoiler!

Nun ist sie also komplett, die erste Staffel der ersten Tolkien-Fernsehserie, Amazons Prestigeprojekt, das im weiteren Sinne das „neue ‚Game of Thrones‘“ werden soll und das sich der Konzern viel, viel Geld hat Kosten lassen. Bereits vor einigen Wochen, nachdem die ersten beiden Folgen an den Start gingen, schrieb ich einen Artikel über meine Eindrücke – viele meiner Befürchtungen und Ahnungen haben sich bestätigt, während sich meine Meinung im Großen und Ganzen nicht wirklich geändert hat. Dennoch gibt es natürlich viel zu analysieren und zu vergleichen.

Ein Blick auf das Zweite Zeitalter von Mittelerde
Ausnahmsweise beginnen wir nicht mit einer Beschreibung der Handlung, sondern mit einem Blick auf die Vorlage, um dieses Projekt überhaupt erst richtig einordnen zu können. Wie inzwischen allgemein bekannt sein dürfte, spielt die „The Lord of the Rings: The Rings of Power“ im Zweiten Zeitalter von Mittelerde, während die Ereignisse der beiden Filmtrilogien sowie der Romane, auf denen sie basieren, im Dritten Zeitalter zu verordnen sind. Die Entscheidung, „The Rings of Power“ in diesem Zeitalter anzusiedeln, wurde sowohl aus kreativen als auch aus rechtlichen Gründen getroffen. Das Tolkien Estate behielt sich ein gewisses Mitspracherecht vor und erteilte einigen Konzepten, etwa einer neuen Adaption der eigentlichen Handlung des Romans oder Spin-offs zu Figuren wie Aragorn oder Gollum eine Absage. Aus kreativer Perspektive ist das Zweite Zeitalter ein verhältnismäßig unbeschriebenes Blatt. Nicht nur gab es vor „The Rings of Power“ keine filmischen Umsetzungen, den Prolog von „The Fellowship of the Rings“ und einige Flashbacks ausgenommen, auch in Tolkiens Schriften wird es am wenigsten ausführlich thematisiert. Abseits des „Lord of the Rings“ und des „Hobbit“ bewegte sich Tolkien vor allem im Ersten Zeitalter, das vom Krieg der Elben gegen Morgoth dominiert wird. Hier sind die epischen Legenden Mittelerdes angesiedelt, die im „Lord of the Rings“ immer wieder als mythische Geschichten auftauchen, die sich die Figuren erzählen – der Großteil des „Silmarillion“ setzt sich damit auseinander, ebenso wie diverse spätere Posthumveröffentlichungen wie „The Children of Húrin“ oder „Beren and Lúthien“. Im Gegensatz dazu finden sich kaum erzählende Texte, die während des Zweiten Zeitalters angesiedelt sind. Beim Großteil des Materials handelt es sich um zusammenfassende Geschichtswerke wie die „Akallabêth“, ein Kapitel des „Silmarillion“, das sich mit der Geschichte des im Zweiten Zeitalters dominanten Inselkönigreichs Númenor auseinandersetzt. Andere Texte aus der „History of Middle-earth“ oder „Unfinished Tales of Númenor and Middle-earth” bleiben, der Titel von Letzterem deutet es an, unvollendet. Insofern ist es nicht die schlechteste Entscheidung, die Serie im Zweiten Zeitalter anzusetzen, da dieses die meisten Freiheiten bietet und am wenigsten ausgestaltet ist. Wer sich dennoch dafür interessiert, was Tolkien über das Zweite Zeitalter geschrieben hat, kann sich glücklich schätzen, denn just ist eine von Brian Sibley zusammengestellte Kompilation der relevanten Texte aus den oben genannten Veröffentlichungen mit dem Titel „The Fall of Númenor“, wie üblich illustriert von Alan Lee, erschienen – ganz sicher ohne Hintergedanken. Das führt uns nun aber auch direkt zum nächsten Problem, denn all diese Werke durften für „The Lord of the Rings: The Rings of Power“ ohnehin überhaupt nicht benutzt werden, da Amazon „nur“ die Rechte am tatsächlichen Roman „The Lord of the Rings“ sowie den Anhängen erworben hat, nicht aber am „Silmarillion“, den „Unfinished Tales“ etc. Dem Tolkien-Kenner fällt das immer wieder auf, beispielsweise im Prolog der ersten Folge, in welchem Ereignisse aus diesen Werken impliziert, aber nicht explizit dargestellt werden, eben weil das zu rechtlichen Problemen führen würde.

The Lord of the Rings: The Rings of Power - 106
Galadriel (Morfydd Clark)

Showrunner J. D. Payne und Patrick McKay entschieden sich schließlich dazu, das über dreitausend Jahre umfassende Zweite Zeitalter stark zu komprimieren und Ereignisse, die zum Teil viele hundert Jahre auseinander liegen, in direkter Abfolge zu zeigen. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: Bereits im Jahr 1000, noch bevor die Ringe der Macht geschmiedet werden, beginnt Sauron damit, Barad-dûr zu errichten, während Galadriel und Celeborn sich im Jahr 1350 in Lothlórien niederlassen. Das Schmieden der Ringe der Macht findet ebenfalls in diesem Zeitraum statt, zwischen den Jahren 1500 und 1600. Viele der essentiellen Sterblichen Figuren, primär Elendil, Isildur, Míriel und Pharazôn, werden erst gut 1500 Jahre später, gegen Ende des Zweiten Zeitalters, überhaupt geboren. Ebenso liegt zwischen dem Schmieden der Ringe der Macht, das für die Serie titelgebende ist, und dem Untergang Númenors, der mit großer Wahrscheinlichkeit ein, wenn nicht DAS zentrale Ereignis kommender Staffeln sein wird (es wird bereits massiv angedeutet) eine ähnlich lange Zeitspanne. Dagegen sind die 17 Jahre, die Jackson und Co. aus „The Lord of the Rings“ tilgten, praktisch kaum der Erwähnung wert. Im Kontext einer derartigen Adaption sind diese Anpassungen tatsächlich ziemlich verständlich. Tolkien konzipierte die Inhalte des Zweiten Zeitalters primär als Hintergründe, ohne dort tatsächliche Narrativen anzusiedeln. Natürlich hätte man auch mit unterschiedlichen Zeitebenen oder großen Zeitsprüngen arbeiten können, aber das wäre dann vielleicht selbst für dieses Projekt zu ambitioniert gewesen.

Handlung, Konzeption und Struktur
Sowohl „The Hobbit” als auch „The Lord of the Rings” sind klassische Abenteuer- bzw. Questhandlungen: Einen Schatz finden, einen Ring zerstören. Essentiell ist dabei natürlich die Hobbit-Perspektive. Im Gegensatz dazu ist das Zweite Zeitalter stärker von politischen Machenschaften geprägt – die Geschichte Númenors ist eine Geschichte der Korruption und des Verfalls einer großen Zivilisation, es fehlen die klassischen Abenteuerelemente, die sowohl in den beiden Romanen Tolkiens als auch in vielen Geschichten des Ersten Zeitalters gegeben sind. Amazon wollte allerdings keine „Polit-Fantasy“ mit Fokus auf höfische Intrigen und Machtkämpfe in Númenor, sondern eine Serie, die an die Qualitäten der bisherigen Filme anknüpft, schließlich ist es das, was sich die breite Zuschauerschaft unter einer LotR-Serie vorstellt. Dementsprechend fällt auch die Konzeption aus; viele der Themen und Elemente, die Tolkien als essentiell empfand, sind zwar vorhanden, fungieren aber lediglich als Hintergrund.

Das zeigt sich bereits beim Ausgangspunkt der Handlung: Seitdem Morgoth besiegt wurde, herrscht Frieden, doch die Elbin Galadriel (Morfydd Clark) ist davon nicht überzeugt, denn Sauron, Morgoths mächtigster Diener und Mörder ihres Bruders Finrod (Will Fletcher), ist nach dem Fall seines Meisters verschwunden. Wie eine Besessene jagt die Kriegerin nach Spuren Saurons und weigert sich sogar, nach Valinor zurückzukehren. Stattdessen verunglückt sie auf See und begegnet dort dem ebenso schiffbrüchigen Halbrand (Charlie Vickers). Beide werden schließlich von dem númenorischen Kapitän Elendil (Lloyd Owen) aus dem Wasser gefischt und mit nach Númenor genommen. Da die Elben und Númenorer früher zwar Verbündete waren, sich inzwischen aber entfremdet haben, sind durch Galadriels Ankunft Konflikte vorprogrammiert. Da Númenor ohnehin gerade dabei ist, auf eine Regierungskrise zuzusteuern, ist sie nicht unbedingt willkommen…

The Lord of the Rings: The Rings of Power - 106
Bronwyn (Nazanin Boniadi) und Arondir (Ismael Cruz Córdova)

Galadriels guter Freund Elrond (Robert Aramayo) soll derweil im Auftrag seines Königs Gil-galad (Benjamin Walker) und des Schmiedes Celebrimbor (Charles Edwards) die Beziehungen zum Zwergenkönigreich Khazad-dûm auffrischen, da Durin (Owain Arthur), der Prinz besagten Reiches, ein alter Freund Elronds ist. Celebrimbor schwebt ein großes Schmiede-Projekt vor, das den Elben dabei helfen soll, ihre Macht zu erhalten, da die sie generell auf dem Rückzug sind. Davon betroffen sind auch die Südlande, denn die dort stationierten Elben, darunter Arondir (Ismael Cruz Córdova), der davon nicht allzu begeistert ist, hat er doch Gefühle für die Menschenfrau Bronwyn (Nazanin Boniadi) entwickelt. Just in diesem Moment droht allerdings eine neue Gefahr für die Menschen der Südlande: Seit langer Zeit werden erstmals wieder Orks gesichtet, die sich unter Führung des enigmatischen Adar (Joseph Mawle) sammeln. Andernorts fällt ein mysteriöser Fremder (Daniel Weyman) vom Himmel und wird von den Haarfüßen, einem kleinwüchsigen Nomadenvolk, gefunden. Während die anderen Haarfüße skeptisch sind, versucht die junge Nori Brandyfoot (Markella Kavenagh) mit dem Fremden Freundschaft zu schließen, der anscheinend über besondere Kräfte verfügt und zu alledem nicht weiß, wo er herkommt.

An dieser doch verhältnismäßig knappen Inhaltsangabe zeigt sich, dass „The Rings of Power“ eine ganze Menge Figuren und Handlungsstränge hat, mit der die Serie über den Verlauf dieser ersten Staffel arbeiten kann und muss. Hinzu kommt, dass die Folgen zwar mitunter recht lange sind und zum Teil über eine Stunde dauern, es dafür aber nur acht gibt. All das führt bereits zu einigen strukturellen Problemen, sowohl in Bezug auf die Einzelepisoden als auch, was die gesamte Staffel angeht. Es lohnt sich, zum Vergleich eine Fantasy-Serie mit ähnlich epischen Ausmaßen anzusehen. Gerade in den frühen Staffeln litt „Game of Thrones“ teilweise ebenfalls am „Clipshow-Prinzip“: Einige Folgen fühlten sich an wie eine extrem teure Clipshow, in der jeder der vielen Handlungsstränge einmal kurz besucht wird. Das mag beim Binge-Watching weniger stören, ist aber beim wöchentlichen Veröffentlichungsrhythmus suboptimal. Die mit Abstand beste Folge von „The Rings of Power“ ist die sechste, „Udûn“, eben genau, weil sie sich nicht wie eine Clipshow, sondern eine halbwegs anständige narrative Einheit anfühlt. Ein weiteres Problem ist der Umstand, dass die Serie bereits enorm versprengt beginnt. Um noch einmal „Game of Thrones“ zu Vergleichszwecken heranzuziehen: Auch diese Serie arbeitet mit einer großen Menge an Figuren und Handlungssträngen, hat aber den Vorteil, dass sich zu Anfang alle essentiellen Figuren, mit Ausnahme von Daenerys, an einem Ort befinden und von dort aus auf ihre Reise starten. Tatsächlich nannte George R. R. Martin diesbezüglich „The Fellowship of the Rings“ als wichtige Inspirationsquelle. Dieser „gemeinsame Anfang“ hilft ungemein dabei, eine derartige Serie stärker zur Einheit zu machen. Immerhin finden im Verlauf von „The Rings of Power“ diverse Handlungsstränge zueinander, aber nicht in ausreichendem Maße. Die Haarfüße und der Fremde bleiben von der Haupthandlung völlig isoliert und manche Figuren, primär Bronwyn, Arondir und Adar, werden gegen Ende fast völlig vergessen.

Art of Adaption: Tolkien, Jackson und das Vermächtnis Mittelerdes
Wenn es um die Adaption von Tolkiens Werken geht, sind die Filme von Peter Jackson nach wie vor der dominierende Faktor, an dem man einfach nicht vorbeikommt – zu sehr haben sie die allgemeine Wahrnehmung beeinflusst. Aus diesem Schatten kann „The Rings of Power“ nicht heraustreten, was zu einer ebenso merkwürdigen wie interessanten Persönlichkeitsspaltung führt. Bereits im Vorfeld fragte man sich: Spielt die Serie in derselben Kontinuität wie die Jackson-Filme und ist ein amtliches Prequel oder macht sie „ihr eigenes Ding“? Formal gesehen ist Letzteres der Fall, schon allein weil Amazon keine Rechte an den beiden Trilogien von New Line bzw. Warner besitzt, gleichzeitig finden sich aber immer wieder mehr oder weniger subtile Verweise oder Anleihen. Das beginnt bei der Wahl Neuseelands als Drehort (was sich aber für Staffel 2 ändert), dem mit Howard-Shore-Musik unterlegten Intro und vielen der Designs, die zumindest von den Filmen inspiriert und beeinflusst wurden, seien es Masken und Make-up der Orks oder die Jugendstilelemente bei den Elben. Angesichts der Tatsache, dass Tolkien-Künstler John Howe nach seinem Mitwirken an den beiden Jackson-Trilogien auch bei „The Rings of Power“ involviert war, ist das kaum verwunderlich. Besonders offensichtlich wird es bei den beiden Gastauftritten eines Balrogs (bzw. des Balrogs aus Moria), der so sehr nach dem Design der Filme aussieht, dass ich nach wie vor davon ausgehe, dass Amazon für die Verwendung zahlen musste. Lange Rede, kurzer Sinn: Man war sehr darauf bedacht, Erinnerungen an die Jackson-Trilogien zu wecken. Wenn die Serie dann aber Design-Entscheidungen trifft, die vom Konzept der Filme abweichen, wirken diese umso irritierender und hervorstechender. Das beste Beispiel sind die recht modern wirkenden Kurzhaarfrisuren der männlichen Elben. Die Ausnahme hierbei ist Benjamin Walkers Gil-galad, der visuell eindeutig an sein von Mark Ferguson gespieltes Gegenstück aus „The Fellowship of the Ring“ angelehnt ist. Dessen Auftritt ist allerdings kaum mehr als ein kurzes Cameo im Prolog des Films von 2001. Ich denke, es ist keine Übertreibung zu sagen, dass trotz allem die Filme, und nicht Tolkiens Werk der Hauptausgangspunkt von „The Rings of Power“ sind. Das zeigt sich bereits an der Hinzufügung der als Proto-Hobbits konzipierten Haarfüße. Der Name stammt tatsächlich von Tolkien; die Hobbits setzen sich aus drei Stämmen zusammen, neben den Haarfüßen sind das die Falbhäute und die Starren. Und tatsächlich waren die Hobbits ein nomadisches Volk, bevor sie sich im Auenland und im Breeland niederließen – das alles geschieht aber erst im Dritten Zeitalter, im Zweiten Zeitalter spielen sie noch keinerlei Rolle. Offenbar konnte man sich bei Amazon allerdings kein Mittelerde-Projekt ohne Hobbit-Beteiligung vorstellen.

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Nori Brandyfoot (Markella Kavenagh) und Sadoc Burrows (Lenny Henry)

In vielerlei Hinsicht ist das Verhältnis von „The Rings of Power“ zu den Werken Tolkiens ähnlich wie das der beiden Spiele „Shadows of Mordor“ und „Shadows of War“: Der Grad an Vorlagentreue schwankt zwischen „erstaunlich detaillierte Anspielung“, „Tolkien hat zumindest nicht geschrieben, dass es explizit NICHT so war“ und einfachem Ignorieren des Quellenmaterials. Dass „The Rings of Power“ nicht für Puristen geeignet ist, denen bereits die Veränderungen und Anpassungen in Jacksons LotR-Trilogie zu weit gingen, dürfte ohnehin von vornherein klar gewesen sein. Ich selbst sehe mich nicht unbedingt als Purist und habe auch nicht per se etwas gegen Änderungen, die wichtige Frage für mich ist in diesem Kontext nicht, ob einfach Wort für Wort adaptiert wird, sondern ob die Adaption dem Geist der Vorlage gerecht wird. Gerade in diesem Bereich hat die Serie für mich aber einige Probleme, besonders, wenn sie zwar Elemente der Vorlage nimmt, diese aber grob vereinfacht. Das hat oft zur Folge, dass „The Rings of Power“ in relativ typische, klischeehafte Fantasy-Tropen abgeleitet, die zwar in letzter Konsequenz von Tolkien inspiriert, aber inzwischen unglaublich verwässert wurden. Der durch ein MacGuffin-Schwert ausbrechende Schicksalsberg, durch den die Südlande zu Mordor werden, ist ein ideales Beispiel. Dieses Element könnte in meinen Augen direkt aus einem der beiden Shadows-Spiele stammen, wäre von Tolkien aber niemals auf diese Weise konzipiert worden. Derartige Handlungskonstruktionen finden sich leider nur allzu häufig.

Die Rückkehr des Bösen: Galadriel und ihr Rachefeldzug
Wenn „The Rings of Power” einen Dreh- und Angelpunkt hat, dann sind es noch nicht die titelgebenden Ringe der Macht, sondern Galadriel und ihre Suche nach Sauron. Gerade hier wird die Wandlung von Tolkiens Konzepten hin zu generischen Fantasy-Tropen überdeutlich. Ich persönlich habe mit einer Figur wie der von Morfydd Clark dargestellten Version von Galadriel nicht per se ein Problem, sehr wohl aber mit dem Umstand, dass Galadriel zu einer derartigen Figur gemacht wurde. Die Intention von Payne und McKay ist relativ eindeutig: Abermals bauen sie darauf, dass das Publikum Cate Blanchetts Galadriel im Hinterkopf hat, um ihm dann den größtmöglichen Kontrast zu liefern: Statt einer mächtigen und weisen (wenn auch hin und wieder etwas unheimlichen) Elbenherrscherin wird eine forsche Kriegerin präsentiert, die primär auf Rache aus ist. Wenn er richtig umgesetzt wird, kann dieser etwas modernere Fantasy-Archetyp durchaus interessant sein, nur passt er meinem Empfinden nach absolut nicht zu Galadriel. Wie ihr Serien-Gegenstück glaubt Tolkiens Galadriel zu Beginn des Zweiten Zeitalters nicht, dass das Böse völlig ausgelöscht ist und möchte sich auf eine eventuelle Rückkehr vorbereiten, allerdings agiert sie dabei auf der politischen Eben und sucht nicht persönlich nach Sauron. Hätten man ihren Handlungsbogen einer anderen, neuen Figur gegeben und Galadriel als wichtige Nebenfigur etabliert, hätte ich damit wahrscheinlich weniger Probleme gehabt. Erschwerend hinzu kommt die Auflösung des Handlungsstrangs – persönliche Verantwortung ist eine wichtige Thematik, aber im Grunde wird Galadriel die ganze Staffel über nicht nur nach Strich und Faden von Sauron manipuliert, wo sie bei Tolkien eine der wenigen ist, die seine Verkleidungen durchschaut, sie macht trotzdem weiter und arbeitet auf das Schmieden der Ringe hin, selbst nachdem sie weiß, dass das alles von Sauron eingefädelt wurde und Teil seines Planes ist. Nicht einmal die Höflichkeit, die anderen Elben über die wahre Identität des Dunklen Herrschers zu informieren, kann sie aufbringen. Freiere Adaption ist schön und gut, aber den Charakter völlig ins Gegenteil zu verkehren erscheint mir doch recht dreist.

Sauron und die Mystery Box
In großen Franchises im Allgemeinen und J.J.-Abrams-Filmen im Besonderen ist die sog. „Mystery Box“ ein nur allzu beliebter erzählerischer Kniff, um das Publikum bei der Stange zu halten und im Vorfeld neugierig zu machen – oftmals in Kombination mit der Enthüllung einer bekannten Figur aus der Geschichte des Franchise: John Harrison ist Kahn, Miranda Tate ist Talia al Ghul, Franz Oberhauser ist Blofeld etc. Und was wurde nicht alles spekuliert, wer Snoke sein könnte. Tolkien hingegen ist die Mystery Box als erzählerisches Instrument völlig fremd. Natürlich kann es sein, dass Figuren ihre Identität verschleiern, aber normalerweise weiß man als Leser immer sehr genau, wer wer ist, nicht zuletzt, weil Tolkiens allwissender Erzähler zumeist ausführlich erläutert, was Sache ist. Zugegeben bietet sich eine derartige Narrative um das Schmieden der Ringe der Macht jedoch tatsächlich an, schließlich ist Sauron ein Meister der Verkleidung und Verwandlung, der sich als Annatar (Herr der Geschenke) in den Elbenschmieden von Eregion einschleicht und Celebrimbor dazu verleitet, die Ringe der Macht zu erschaffen. Da ist es nur naheliegend, diesen Aspekt in der Serie nicht nur als Mysterium für die Figuren, sondern auch für die Zuschauer zu inszenieren. Dieses Vorhaben ist in meinen Augen allerdings gründlich misslungen, und zwar aus mehreren Gründen. Zum einen scheinen Payne und McKay Angst vor der Tolkien-Leserschaft gehabt zu haben, was ich persönlich für grundlos halte. Natürlich, wer mit Tolkiens Schriften vertraut ist, weiß, dass Annatar Sauron ist. Und wer es herausfinden will, kann das auch problemlos tun. Die Erfahrung zeigt allerdings, dass das ein derartiger Twist dennoch funktionieren kann: „A Game of Thrones“ und „A Storm of Swords“ wurden lange vor dem Start von „Game of Thrones“ publiziert, dennoch waren Ned Starks Tod und die Rote Hochzeit Schockmomente für einen Großteil der Zuschauerschaft, die es entweder bewusst vermied, Buchspoiler zu konsumieren, oder überhaupt nicht auf die Idee kam. Dennoch entschieden sich die Showrunner, Annatar auszusparen und eine andere „zivile Identität“ für den Dunklen Herrscher zu finden. Mehr noch, neben der „Welche Figur ist Sauron?“-Box konstruierten sie eine zweite: „Wer ist der Fremde?“ Der naheliegende Schluss ist natürlich, den Fremden zu Sauron zu machen, womit durchaus auch gespielt wird, inklusive Fake-Enthüllung, aber dass dem nicht der Fall ist, wird bereits zuvor klar. Ansonsten sind es vor allem die neuen Figuren wie Adar, Bronwyn oder eben Halbrand, die in Frage kommen, und Halbrand ist letzten Endes derjenige, der übrig bleibt.

The Lord of the Rings: The Rings of Power - 108
Halbrand (Charlie Vickers)

Gewissermaßen kann man Halbrand als eine Art Invertierung von Aragorn und (in geringerem Maße und bezogen auf die Filme) Thorin sehen: Auch er scheint ein König im Exil zu sein, ein mysteriöser, aber letzten Endes wohlmeinender Held, nur dass Halbrand sich eben als Dunkler Herrscher entpuppt und doch nicht so wohlmeinend ist. Sauron selbst kann in den beiden Filmtrilogien, vom Roman gar nicht erst zu sprechen, kaum als tatsächlicher Charakter bezeichnet werden, er ist eher Entität, Symbol des Bösen, der als flammendes Auge alles überwacht, aber selbst kaum handelt. Zugegeben, in der Hobbit-Trilogie bekommt er etwas mehr zu tun und ist ein wabernder Schatten, bevor er zum Auge wird, aber dennoch… In der Tat ist Sauron persönlich im Ersten und Zweiten Zeitalter deutlich aktiver und nahbarer, ist bis zum Untergang Númenors ein Gestaltwandler, tritt als luziferischer Verführer der Elben von Eregion und der Númenorer auf und kämpft persönlich gegen das letzte Bündnis, wie im Prolog von „The Fellowship of the Ring“ auch zu sehen war. Halbrand ist gewissermaßen der Annatar-Ersatz, den wir bekommen, und tatsächlich ist er auch in Eregion und beeinflusst Celebrimbor – kurz, in einer Szene, in der letzten Episode der ersten Staffel. Gerade das finde ich persönlich extrem enttäuschend; ich möchte Sauron nicht als Aragorn-artige Figur sehen, sondern als Bringer verbotenen Wissens. Die Infiltrierung der Elbenschmieden, die Beziehung zwischen Sauron als Annatar und Celebrimbor waren die Aspekte, auf die ich am meisten gespannt war. Natürlich ist es möglich, dass Sauron tatsächlich noch als Annatar auftritt, aber es wäre merkwürdig, würde man ihn noch einmal in einer anderen Gestalt in Eregion auftauchen lassen.

Zudem muss ich sagen, dass mich Charlie Vickers in der Rolle nicht völlig überzeugt. Als Pseudo-Aragron funktioniert er gut genug, ist angemessen zwielichtig, kann aber auch charismatisch und heroisch sein wenn nötig, aber für einen unsterblichen, Jahrtausende alten Maia fehlt ihm die nötige Gravitas, die absolute Selbstsicherheit und die Fremdartigkeit. Sein Wutausbruch wirkt eher lächerlich denn einschüchternd. Gerade in diesem Kontext versucht man abermals, ein wenig Ikonografie der Filme unterzubringen, da Sauron im Kontext dieses Wutausbruchs kurz mit „Katzenaugen“ zu sehen ist, die an das lidlose Auge der Filmtrilogie erinnern und zudenm an seine literarischen Ursprünge im Legendarium erinnern. Und immerhin einen positiven Aspekt gilt es durchaus hervorzuheben: Payne und McKay bemühen sich zumindest, einen durchaus faszinierenden Aspekt der Figur miteinzubringen, der in „The Lord of the Rings“ (Roman wie Filmtrilogie) kaum bis gar nicht beachtet wird: Saurons ursprüngliche Motivation ist, im Gegensatz zu seinem Meister Morgoth, der auf Zerstörung aus ist, Ordnung. Aus diesem Bedürfnis heraus entwickelt sich Sauron zum Tyrannen. In einem Briefentwurf aus dem Jahr 1954 beschreibt Tolkien Sauron zu Beginn des Zweiten Zeitalters als „not indeed wholly evil, not unless all ‚reformers‘ who want to hurry up with ‚reconstruction‘ and ‚reorganization‘ are wholly evil, even before pride and lust to exert their will eat them up.” (Letters, S. 190). Auf diesem Konzept fußt die Interpretation Saurons in der Serie, und tatsächlich, seine Rede an Galadriel bezüglich des Wiederaufbaus Mittelerdes spiegelt seine Worte an Celebrimbor aus dem „Silmarillion“ wider. Deutlich weniger subtil sind hingegen die an dieser Stelle eingestreuten Direktzitate aus „The Lord of the Rings“, Stichwort: Königin statt Dunklem Herrscher.

Elrond, Durin und das Schwinden der Elben
Von allen Handlungssträngen der Serie ist mir derjenige, der sich mit Elrond, Durin und ihrer Freundschaft beschäftigt, der liebste – und das nicht nur, weil hier tatsächlich auf die titelgebenden Ringe der Macht hingearbeitet wird. Viele der Beziehungen, die die Figuren von „The Rings of Power“ zueinander unterhalten, wirken auf mich recht steif und konstruiert, was das emotionale Investment stark reduziert – gerade im Vergleich zur LotR-Trilogie. Die Freundschaft zwischen Elrond und Durin IV sowie die Ehe zwischen Durin und Disa (Sophia Nomvete) hingegen ist nachvollziehbar, authentisch und vor allem herzlich, ohne allzu schmalzig zu sein. Es sind die kleinen Nuancen, die die Dialoge (ein Aspekt, der ansonsten nicht zu den Stärken der Serie gehört) so unterhaltsam machen. Gerade der Umstand, dass 20 Jahre Abwesenheit für einen unsterblichen Elben wie Elrond keine lange Zeit sind, für Durin aber sehr viel mehr zählen, ist wirklich ein gelungener Start. Zudem erbringen Robert Aramayo, Owain Arthur und Sophia Nomvete auch die besten schauspielerischen Leistungen.

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Celebrimbor (Charles Edwards) und Elrond (Robert Aramayo)

Leider finden sich auf der Handlungsebene trotzdem einige Schwächen: Abermals nehmen die kreativen Köpfe eines von Tolkiens Konzepten, vereinfachen es und sorgen dafür, dass es zu einer äußerst plakativen Angelegenheit verkommt. Tatsächlich haben die Elben bereits im Zweiten Zeitalter mit ihrem „Schwinden“ zu kämpfen, einer langsam Abnahme ihrer Macht und ein genereller Verfall – bei Tolkien sind die Elbenringe dazu da, diesem entgegenzuwirken. „The Rings of Power“ übernimmt dieses eher abstrakte Konzept zwar, macht es aber zur nahbaren Gefahr, gegen die sehr bald etwas unternommen werden muss, schließlich haben die Blätter schon schwarze Adern. Sowohl die Notwendigkeit der Elbenringe als auch ihre tatsächliche Entstehung wird sehr überhastet und unsubtil dargestellt, vom Mithril als einzigem, wahrem Hilfsmittel gegen das Schwinden (bei Tolkien definitiv nicht der Fall, hier arbeiten die Noldor von Eregion einfach gerne mit dem Metall) bis hin zu Halbrands/Saurons Rolle bei der Erschaffung der Ringe, die zugleich zu groß und zu klein ausfällt. Bei Tolkien werden nicht die drei Elbenringe, sondern die sieben Zwergen- und die neun Menschenringe zuerst geschmiedet – von Sauron als Annatar und Celebrimbor in Gemeinschaftsarbeit. Aus diesem Grund hat Sauron auf die sieben und neun sehr direkten Einfluss, kann sie an sich bringen und an die Zwerge und Menschen verteilen. Die Elbenringe hingegen werden später von Celebrimbor alleine und im Geheimen geschmiedet. Saurons Einfluss bleibt indirekt, er hat nicht an ihnen mitgewirkt, sehr wohl benutzt Celebrimbor aber das von Sauron bereitgestellte Wissen, weshalb auch die Elbenringe anfällig sind, wenn Sauron den Einen Ring besitzt. Und wo wir gerade von Celebrimbor sprechen: Während ich Galadriel als zu dominant empfinde, denke ich, dass Celebrimbor als Schmied der Ringe der Macht eine deutlich zu kleine Rolle hat und mit Charles Edwards auch nicht sonderlich gut besetzt ist. Nichts gegen Edwards per se, aber er wirkt in der Rolle wie der gesetzte, nette Onkel. Von Celebrimbor erwarte ich mehr Leidenschaft und jugendlichen Elan, schließlich soll in ihm der feurige Geist seines Großvaters Fëanor, Schöpfer der Silmaril, fortbestehen. Wie oben bereits erwähnt: Meiner bescheidenen Meinung nach hätte die Beziehung zwischen Annatar/Sauron und Celebrimbor im Fokus der Serie stehen sollen, ist aber nun praktisch nichtexistent.

Númenor und der drohende Untergang
Ähnlich wie Celebrimbor und der Entstehungsprozess der Ringe ist auch das Inselkönigreich Númenor ein Aspekt, der mir in „The Rings of Power“ deutlich zu kurz kommt und nicht gut genug ausgearbeitet ist – schließlich ist Númenor Dreh- und Angelpunkt des Zweiten Zeitalters. Die reiche Insel ist sowohl bei Tolkien als auch in der Serie gewissermaßen ein Geschenk an die Edain, die Menschen, die sich im Kampf gegen Morgoth auf die Seite der Elben stellten. Erster König Númenors ist Elronds Zwillingsbruder Elros – beide sind Halbelben und dürfen somit entscheiden, welchem Volk sie sich zugehörig fühlen. Wo Elrond die Elben wählt, begründet Elros das Herrscherhaus von Númenor. Zu Anfang herrscht auch innige Freundschaft zwischen Númenorern und Elben, Erstere stehen Letzteren beispielsweise auch im Kampf gegen Sauron bei. Nach und nach entfremdet man sich aber, vor allem, weil die Númenorer auf die Unsterblichkeit der Elben eifersüchtig werden, sodass alles Elbische nach und nach mit Verachtung behandelt wird. Lediglich die Getreuen, ein Zweig des númenorischen Herrscherhauses, dem Elendil entstammt, richtet sich nach den alten Wegen, jedenfalls bis der vorletzte König der Insel, Tar Palantir, versucht, die Uhr zurückzudrehen – vergeblich. Dies sind auch mehr oder weniger die Ereignisse, die in der Serie geschehen sind, doch wo „The Rings of Power“ oft viel zu plakativ zu Werke geht, wird die Sachlage in Bezug auf Númenor zu subtil und zu wenig eindeutig vermittelt. Der Tolkien-Leser weiß, was Sache ist, für die Zuschauer, die mit Númenor jedoch nicht vertraut sind, bleibt die Angelegenheit recht nebulös. Dass der Untergang des Königreiches kommt, ist natürlich bereits absehbar und wird mehr als einmal angedeutet. Ich möchte zudem hier zu Protokoll geben, dass ein Palantír nicht wie eine Kristallkugel funktioniert und auch nicht in die Zukunft sehen kann.

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Elendil (Lloyd Owen) und Isildur (Maxim Baldry)

Neben Tar Palantir (Ken Blackburn), seiner Tochter Míriel (Cynthia Addai-Robinson), die als Regentin fungiert, und dem stets zwielichtigen Pharazôn (Trystan Gravelle) lernen wir auch Aragorns Vorfahren Elendil (Lloyd Owen) und dessen Sohn Isildur (Maxim Baldry) kennen – Isildurs Bruder Anárion wird nur beiläufig erwähnt, dafür hat er allerdings eine Schwester namens Eärien (Ema Horvath). Von dieser Änderung abgesehen positionieren Payne und McKay hier am eindeutigsten die Figuren für ihre Rollen in den kommenden Staffeln. Das weicht zwar in den Details enorm von Tolkien ab, aber die grobe Richtung sowie die Konstellation der Figuren scheint immerhin dieselbe zu sein.

Vor allem designtechnisch ist Númenor interessant – auch hier lässt sich eine gewisser Einfluss der LotR-Trilogie nicht leugnen, zumindest in manchen architektonischen Details. Wo die Architektur von Gondor allerdings von byzantinischen Gebäuden und Stilelementen der späten Antike und des Mittelalters inspiriert ist, scheint Númenor eher orientalisch angehaucht zu sein, ohne dabei aber allzu sehr in Klischees zu Verfallen. Umso ärgerlicher ist es, dass das Inselkönigreich für meinen Geschmack so stiefmütterlich behandelt wird. Vielmehr sollte Númenor Ausgangspunkt der Handlung sein und deutlich ausführlicher dargestellt werden. Hätte man beispielsweise auf den Handlungsstrang der Haarfüße verzichtet, hätte man einiges an Zeit für Númenor und eine detailliertere Auseinandersetzung mit seiner Kultur gewonnen.

How I Met Your Mordor
Während die Edain, die im Ersten Zeitalter auf der Seiten der Valar und Elben gegen Morgoth kämpften, Númenor bekamen und eine mächtige Zivilisation erschufen, brach für die restlichen Menschen, die sich dem Feind verschrieben hatten, eine dunkle und trostlose Zeit an. „The Rings of Power“ zeigt uns diese Menschen als relativ typische Fantasy-Dorfbewohner, die in den „Southlands“ leben – der Region, die später als Mordor bekannt werden wird. Ähnlich wie in „Shadows of Mordor“ ist diese Gegend zuerst ein recht wohnlicher Landstrich mit viel Vegetation und noch nicht die altbekannte Aschewüste. Der Handlungsstrang um Arondir, Bronwyn, Adar und die Orks ist für mich persönlich der zwiespältigste. Zum einen sammeln sich hier diverse Klischees, die einfach nicht hätten sein müssen: Die Bewohner der Southlands lassen hervorstechende kulturelle Merkmale vermissen, die Elben/Menschen-Romanze ist selbst im Mittelerde-Kontext inzwischen ein Klischee und der bereits erwähnte Plot rund um das MacGuffin-Schwert, mit dem man den Schicksalsberg aktiviert, ist wirklich allzu ärgerlich. Das ist „Prequelitis“ in Reinform: Eine banale, plakative Erklärung für ein Handlungselement, das eigentlich keiner Erklärung bedarf.

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Adar (Joseph Mawle)

Adar und die Orks hingegen sind ein anderes Kapitel. Zuerst einmal gilt es, die Orks der Serie im Allgemeinen zu loben, Make-up, Masken etc. sind wirklich extrem gut gelungen, knüpfen zwar an die LotR-Trilogie an, versuchen aber auch, und das durchaus erfolgreich, mit eigenen Designelementen zu überzeugen. Nach dem übermäßigen CGI-Einsatz in der Hobbit-Trilogie bei Azog und Konsorten tut es gut, wieder praktische Orks zu sehen. Zudem liefert Joseph Mawle, am besten bekannten als Benjen Stark in „Game of Thrones“, eine wirklich starke Performance als Adar ab. Mit diesem Handlungsstrang greift „The Rings of Power“ ein Element auf, bei dem Tolkien mit sich selbst haderte: Die Orks, ihre Natur und ihr Ursprung. Sind Orks tatsächlich immer böse, vielleicht sogar genetisch dazu „verurteilt“, im Dienste finsterer Mächte zu stehen? Verfügen sie über freien Willen? Auf diese Fragen konnte Tolkien nie eine wirklich abschließende Antwort finden. Ebenso verhält es sich mit ihrem Ursprung: Aus dem „Silmarillion“ erfahren wir, dass die Orks einst Elben waren, die von Morgoth, der nicht selbst erschaffen, sondern nur korrumpieren kann, durch Folter und Experimente verwandelt, „a ruined and terrible form of life“, um Saruman aus der Jackson-Trilogie zu zitieren, die diesen Ursprung ebenfalls aufgreift. Aus später veröffentlichen Schriften wissen wir allerdings , dass Tolkien mit dieser Erklärung irgendwann nicht mehr zufrieden war und sich überlegte, die Menschen doch deutlich früher erwachen und sie als Morgoths „Rohmaterial“ fungieren zu lassen. Wie dem auch sei, „The Rings of Power“ orientiert sich am publizierten „Silmarillion“ und stellt die Frage: Was, wenn einer der ursprünglichen Elben, die zu Orks wurden, bis ins Zweite Zeitalter überlebt hat? Die Antwort, die Payne und McKay geben, ist sicher nicht unkontrovers, im Kontext dieser Serie aber doch ein durchaus interessantes Experiment. Zudem werden die Orks zwar auf recht typische Art und Weise dargestellt, verfügen aber unter Adars Führung zugleich über einen Unabhängigkeitstrieb: Sie wollen gerade nicht wieder von einem gewissen Dunklen Herrscher unterjocht werden, sondern im neubenannten Mordor ihr eigenes Ding drehen. Daraus wird freilich nichts, wie die letzte Einstellung des Finales verrät.

Von Fremden und Haarfüßen
Ich erwähnte es bereits zuvor: Der gesamte Handlungsstrang um die Haarfüße ist wahrscheinlich das größte Zugeständnis der Amazon-Serie an die Rezeption der Filme: Vermutlich fiel es den Showrunnern, den Produzenten oder Jeff Bezos persönlich schwer, sich eine Mittelerde-Adaption ohne Hobbits vorzustellen. Also nehme man die Haarfüße als nomadische Proto-Version dieses Volkes und füge es in die Serie ein, in der Hoffnung, dass das Publikum darauf anspringt. Ich war bereits im Vorfeld enorm skeptisch, und diese Skepsis hat sich bestätigt: Die Haarfüße sind in mehr als einer Hinsicht selbst in dieser nicht unbedingt vorlagengetreuen Adaption ein Fremdkörper. Alle anderen Handlungsstränge agieren über den Verlauf der acht Folgen auf die eine oder andere Art miteinander, außer diesem hier, der völlig isoliert bleibt. Das Einzige, das Nori Brandyfoot und ihren Stamm mit dem Rest der Serie in irgendeine Beziehung setzt, ist die vage Möglichkeit, dass es sich bei dem Fremden um Sauron handeln könnte. Die Prämisse dieses Handlungsstranges erinnert stark an „Diablo 3“, gefolgt von einer „Fish out of Water“-Geschichte, in welcher der Fremde seine magischen Fähigkeiten entdeckt, wobei es bereits von Anfang an klar ist, dass es sich nicht um Sauron handelt, auch wenn die enigmatischen Kultistinnen das glauben mögen. Ich hatte schon nach den ersten Folgen den unangenehmen Verdacht, man könne die zweite Mystery-Box der Serie verwenden, um einen weiteren Signatur-Charakter des Franchise einzuführen, und wahrhaftig, alles deutet darauf hin, dass es sich bei dem von Daniel Weyman gespielten Fremden um Gandalf persönlich handelt, was schon eine massive Lore-Abweichung wäre. Ursprünglich ließ Tolkien die Istari, die fünf Zauberer, denn als solcher wird der Fremde eindeutig identifiziert, um das Jahr 1000 des Dritten Zeitalters per Boot in Mittelerde ankommen, ändert später aber, wie in „The Nature of Middle-earth“ nachzulesen ist, seine Meinung und ließ zwei von ihnen bereits im Zweiten Zeitalter auftauchen. Keiner dieser beiden ist allerdings Gandalf (noch Saruman oder Radagast), sondern es sind die beiden „Blauen Zauberer“ die, je nach Version des Legendariums, die Namen Alatar und Pallando oder Morinehtar and Rómestámo tragen. Der Fremde als Blauer Zauberer wäre akkurater, ist aber weitaus unwahrscheinlicher, zum einen haben die Blauen Zauberer keinen Wiedererkennungswert und zum anderen gibt Daniel Weyman, nachdem er fast die ganze Staffel über nur stumm gestikuliert, am Ende ein Gandalf-Zitat in seiner besten Ian-McKellen-Impression ab. Das ist schon ein ziemlich eindeutiger Indikator.

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Der Fremde (Daniel Weyman)

All diese Faktoren in Kombination sorgen dafür, dass der Handlungsstrang um die Haarfüße und den Fremden der in meinen Augen mit Abstand schwächste ist; abermals ist die Prequelitis sehr stark und manifestiert sich in plumpen und plakativen Origin-Storys, die zudem noch ziemlich schlecht geschrieben sind. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der Tod von Sadoc Burrowsd (Lenny Henry) ist als tragisch und emotional konzipiert, kommt aber ziemlich steif und beinahe lächerlich daher. Auch die drei Kultistinnen wirken eher albern denn furchteinflößend. Ich bin sicher, dass Nori und der Fremde in zukünftigen Staffeln mit den anderen Figuren noch interagieren werden, aber nach aktuellem Stand wirkt dieser Handlungsstrang nicht nur völlig isoliert, sondern im erzählerischen Gefüge der Serie auch völlig nutzlos und ist nur dazu da, um LotR-Fans mit Hobbits und Zauberern Elemente an die Hand zu geben, die im Zweiten Zeitalter nichts verloren haben und auch nicht gebraucht werden.

Musik der Ainur: Bear McCrearys Score
Auch bezüglich der Musik tritt „The Rings of Power“ in große Fußstapfen, schließlich haben Howard Shores sechs Mittelerde-Scores die Messlatte unglaublich hochgelegt. In dieser Hinsicht kann sich die Amazon-Serie ebenfalls nicht so recht entscheiden, ob sie sich vom Einfluss der beiden Filmtrilogien lösen möchte oder nicht. Ursprünglich heuerte man den umtriebigen Film- und Fernsehkomponisten Bear McCreary an, der in den letzten zehn Jahren mehr als ausreichend beweisen hat, dass er sowohl kompetent als auch vielseitig genug ist, um einem derartigen Projekt gerecht zu werden. Gewissermaßen Last Minute konnte Amazon dann aber doch noch Howard Shore für das Intro gewinnen, was wohl eher als Marketing-Stunt zu bewerten ist. Nicht, dass Shores Intro-Musik schlecht wäre, im Gegenteil, aber McCreary hätte zweifellos ein ebenso gutes Stück schreiben können. Und, mehr noch, die Musik des Intros spielt in der Serie selbst keine Rolle, weil sie erst komponiert wurde, nachdem die Scores zu den acht Episoden bereits vollendet waren. Dafür gibt es allerdings subtile melodische und harmonische Verweise zu Shores eigener Mittelerde-Musik.

McCreary selbst durfte auf Shores Musik aus rechtlichen Gründen nicht direkt verweisen, zweifelsohne bewegen sich seine Kompositionen aber in ähnlichen Gefilden: Großes Orchester und Chor, zusätzlich zu diversen Spezialinstrumenten, die die Kulturen und Figuren repräsentieren, etwa keltische und nordische Instrumente für die Haarfüße, ganz ähnlich wie in den Filmen. Wie Shore bedient sich auch McCreary einer Vielzahl an verschiedenen Leitmotiven für Figuren, Kulturen und Konzepte, die kunstvoll variiert und miteinander verwoben werden. Dabei bleibt McCreary seinem eigenen Sound allerdings stets treu, sodass es sich bei seiner Musik für die Serie zwar zweifelsohne um Mittelerde-Musik handelt, sie aber nicht zu einem Shore-Abklatsch verkommt. Die beiden dominantesten Themen wurden bereits im Vorfeld veröffentlicht und auch von mir besprochen, sie gelten Galadriel und Sauron, davon abgesehen finden sich u.a. Leitmotive für Elrond, Nori, den Fremden oder Durin, Fraktionsthemen für die Zwerge von Moria, die Númenorer, die Haarfüße und, und, und…

Die Veröffentlichung der Musik in Albenform ist darüber hinaus äußerst lobenswert: Nicht nur gibt es zu jeder Episode ein Album, Amazon hat darüber hinaus ein umfangreiches Staffelalbum an den Start gebracht, auf dem sich Suiten zu den essentiellen Themen sowie die herausragendsten Score-Tracks, etwa das ebenso elegante wie energetische Scherzo for Violin and Swords, das actionreiche Cavalry oder das sakrale Nolwa Mahtar finden. Wer also nur ein Best of möchte, ohne sich dafür durch acht Stunden Musik zu arbeiten, kann getrost zum Staffelalbum greifen, und wer wirklich die Musik in ihrer Gesamtheit genießen möchte, hat eben dazu auch die Möglichkeit. Wie kritisch ich auch viele andere Elemente der Serie sehen mag, McCrearys Score ist über jeden Zweifel erhaben, eine mehr als würdige Fortführung des musikalischen Vermächtnisses Mittelerdes und einer der besten Scores des Jahres. Eine ausführlichere Besprechung findet sich hier.

Fazit
Gemessen am umfangreichen Diskurs, der zu „The Lord of the Rings: The Rings of Power“ geführt wurde, vom Preis, den Amazon für die Rechte und die Produktion zahlte, bis hin zu Kontroversen bezüglich des diversen Casts und der „Vergewaltigung von Tolkiens Vermächtnis“, ist die Serie geradezu erstaunlich mittelmäßig – weder das Meisterwerk, dass man sich vor allem beim Amazon wohl erhofft hat, noch das totale Desaster, das von vielen prophezeit wurde. „The Rings of Power“ besticht vor allem auf handwerklicher und technischer Ebene; dem Produktionsdesign, den visuellen Effekten, den Schauwerten im Allgemeinen und natürlich der grandiosen Musik von Bear McCreary kann man definitiv keinen Vorwurf machen. An dieser Front wird das viele Geld, das Amazon in dieses Projekt pumpte, deutlich spürbar. Anders sieht es in Sachen Dramaturgie, Struktur, Handlungs- und Charakterentwicklung und Drehbücher im Allgemeinen aus. Dass die Serie Tolkien-Puristen nicht zufriedenstellen würde, war ohnehin abzusehen, allerdings lässt „The Rings of Power“ auch, zumindest für mich, deutlich zu oft den Geist Tolkiens hinter sich und greift auf erschöpfte Fantasy-Klischees und modernes Mystery-Box-Storytelling zurück, die es nun wirklich nicht gebraucht hätte und die gerade in einer Tolkien-Adaption sehr fehl am Platz sind. Hin und wieder tauchen auch interessante Konzepte auf, die Elemente aus Tolkiens Werk auf sinnvolle Art und Weise erweitern und diskutieren, etwa der Freiheitsdrang der Orks oder die Freundschaft zwischen Elrond und Durin, aber Derartiges bleibt leider verhältnismäßig selten.

Zudem fällt es der Serie sehr schwer, sich vom Vermächtnis der Jackson-Filme zu lösen. In Sachen Design und Musik ist das nicht weiter tragisch (warum das Rad neu erfinden?), aber gerade in Bezug auf Handlungselemente wird es kritisch: Das Zweite Zeitalter hat und braucht keine Hobbits und Zauberer. In meinen Augen hätte „The Rings of Power“ besser daran getan, sich auf Númenor und das tatsächliche Schmieden der titelgebenden Ringe zu fokussieren, das in der finalen Folge eher als Nachgedanke abgehandelt wird, ganz nach dem Motto: „War da nicht noch irgendetwas mit Ringen?“. Somit bleibt mein ursprüngliches Urteil bestehen: Von den beiden Fantasy-Prequel-Serien dieses Herbstes ist „House of the Dragon“ die deutlich stärkere: Zwar kann sich das GoT-Spin-off in Sachen Optik, Musik und Spektakel bei Weitem nicht so sehr hervortun, ist aber in Sachen Figuren, Handlungsentwicklung, Dialogen und Schauspielleistung um so Vieles stärker als „The Rings of Power“. Und, am wichtigsten, trotz einiger doch ziemlich massiver inhaltlicher Abweichungen von der Vorlage, bleibt „House of the Dragon“ dem Geist doch stets treu – und das ist es, was ich mir von „The Rings of Power“ gewünscht hätte.

Bildquelle (Copyright: Amazon Studios)

Zitiert nach: Tolkien, J. R. R.: Letter 153: To Peter Hastings (draft), in: The Letters of J. R. R. Tolkien. A selection edited by Humphrey Carpenter. With the assistance of Christopher Tolkien. London 2006 [1981], S. 187-196.

Siehe auch:
Fantasy-Herbst: Rings of Power & House of the Dragon
Stück der Woche: Galadriel/Sauron
The Great Tales: Die „andere“ Tolkien-Trilogie

Fantasy-Herbst: Rings of Power & House of the Dragon

Spoiler für die ersten beiden Episoden von „The Lord of the Rings: The Rings of Power“ und „House of the Dragon“!

Im Verlauf der letzten zwei Wochen feierten die beiden wahrscheinlich größten Fantasy-Franchises ihren Einstand bzw. ihre Rückkehr auf den Streaming-Bildschirm in Form zweier Serien, die einige faszinierende Parallelen aufweisen und gleichzeitigen zu den teuersten Produktionen dieser Art gehören. Bei beiden Serien handelt es sich um Prequels und beide müssen gegen die negative Rezeption des direkten oder indirekten Vorgängers kämpfen. Die Rede ist natürlich von HBOs „House of the Dragon“, das die Vorgeschichte des Hauses Targaryen thematisiert, und Amazons „The Lord of the Rings: The Rings of Power“, das sich anschickt, in die Mysterien des Zweiten Zeitalters von Mittelerde einzutauchen. Zudem basieren beide Serien nicht auf herkömmlichen Romanen, wie es bei „Game of Thrones“ oder den beiden Jackson-Trilogien der Fall ist, sondern auf fiktiven historischen Texten die, zumindest im Vergleich zu erzählender Prosa, nur einen zumindest verhältnismäßig knappen Überblick über die Ereignisse gewähren. Zugegebenermaßen war meine Erwartungshaltung bezüglich beider Serien eher… sagen wir, gedämpft. Bei „House of the Dragon“ war die Ursache primär der schlechte Nachgeschmack, den die achte Staffel von „Game of Thrones“ hinterlassen hat – ich konnte mich bislang immer noch nicht dazu durchringen, eine Abschlussbesprechung zu dieser Serie zu schreiben, die so lange ein dominierendes Thema auf diesem Blog war (was ich aber im Zuge von „House of the Dragon“ endlich nachholen möchte). Bei „The Rings of Power“ hingegen waren es weniger die Nachwirkungen der Hobbit-Trilogie (damit komme ich schon zurecht), sondern eher die Herangehensweise von Amazon. Der Umgang mit Tolkien ist für mich immer eine prekäre Angelegenheit, da mir sein Werk extrem viel bedeutet und es sehr leicht ist, eine Adaption zu verhauen und sehr schwer, den Geist der Vorlage zu treffen. Tatsächlich haben mir viele Entscheidungen, die im Vorfeld getroffen wurden (etwa die Komprimierung mehrerer Jahrtausende in einen sehr kurzen Zeitraum), Bauchschmerzen bereitet. Andererseits wird mein Youtube-Feed seit Monaten von Videos geflutet, die aus jedem veröffentlichten Bild und Trailer gleich den Untergang des Abendlandes ablesen und die mir unheimlich auf den Geist gehen. Ob es nicht doch vielleicht vernünftiger ist, die Serie einfach abzuwarten? Bashen kann man hinterher ja immer noch… Wie dem auch sei, normalerweise schreibe ich über Serien nur, wenn die Staffel abgeschlossen ist. Für „Game of Thrones“ habe ich früher auch Episoden-Rezensionen geliefert, aber damals habe ich noch studiert und hatte die Zeit dazu, inzwischen ist mir das deutlich zu aufwendig. Dennoch hat mich diese amüsante Symmetrie dazu bewogen, nach den ersten beiden Episoden dieser zwei Serien einfach meine Eindrücke zu schildern, knapper und weniger ausführlich als in meinen üblichen, überlangen Staffelrezensionen.

The Lord of the Rings: The Rings of Power

In meinem Artikel zu den beiden vorab veröffentlichten Soundtrack-Stücken von Bear McCreary schrieb ich, dass sowohl der Score (bzw. die Beteiligung Howard Shores) als auch viele Produktionsentscheidungen den Eindruck vermitteln, Amazon versuche einerseits, eine eigene Interpretation Mittelerdes auf den Weg zu bringen, schaffe es aber andererseits nicht, sich aus dem Schatten der Filme zu lösen. Dieser Eindruck hat sich nach der Sichtung der ersten beiden Episoden, „A Shadow of the Past“ und „Adrift“, bestätigt. Während wir es hier eindeutig mit einem anderen Mittelerde als dem Peter Jacksons oder Professor Tolkiens zu tun haben (also nichts für Puristen, aber das war von Anfang an klar), versuchen Design und Bildsprache konstant an die beiden Filmtrilogien anzuknüpfen, sei es mit den Jugendstilelementen bei den Elben, der Darstellung der zwergischen Kultur und Architektur, den üppigen Landschaftsaufnahmen (Neuseeland ist abermals Drehort, zumindest für die erste Staffel), dem vorangestellten epischen Prolog oder dem Symbol Saurons, das in der zweiten Folge einmal genauso aufblitzt wie das lidlose Auge in der Filmtrilogie. Wenn die Serie dann doch einmal ihren eigenen Weg geht, etwa bei den kurzhaarigen Elben, wirkt das mitunter irritierend.

Den Grundgedanken, die Serie im Zweiten Zeitalter von Mittelerde anzusiedeln, finde ich tatsächlich sehr gelungen, denn von den drei Zeitaltern ist es dasjenige, das Tolkien am wenigstens detailliert ausgearbeitet hat, insofern bietet es am meisten Spielraum. Aufgrund der Rechtelage, die es beispielsweise der Hobbit-Trilogie verbat, die Namen der beiden blauen Zauberer zu nennen, kann „The Rings of Power“ jedoch nur einen Bruchteil der verfügbaren Informationen auch tatsächlich in die Serie einarbeiten, da lediglich „The Lord of the Rings“ und die zugehörigen Anhänge zur Verfügung stehen, nicht aber das „Silmarillion“ oder die „Unfinished Tales of Númenor and Middle-earth“, von den Texten der „History of Middle-earth“ gar nicht erst zu sprechen. Bereits in den ersten beiden Episoden ist das zu spüren, gerade im Prolog-Segment wird auf vieles aus dem „Silmarillion“ angespielt, ohne es explizit einzubauen, weil es nicht explizit eingebaut werden darf. Das ist allerdings nur ein sekundäres Manko, ich denke das Hauptproblem ist der Umstand, dass sich das Zweite Zeitalter nicht unbedingt für die Art Abenteuerhandlung anbietet, die Amazon für diese Serie offenbar haben möchte. Auch hier zeigt sich, wie schwer es „The Rings of Power“ fällt, sich von den Filmen zu lösen. Das deutlichste Beispiel dafür sind die Haarfüße, quasi Protohobbits. Diese haben im Zweiten Zeitalter nichts verloren, aber bei Amazon kann man sich offenbar eine LotR-Serie ohne Hobbits nicht vorstellen.

Zudem ist die Vielzahl an Handlungssträngen, die in den ersten beiden Episoden begonnen werden, äußerst kontraproduktiv: Wir haben die Elben in Lindon um Galadriel (Morfydd Clark) und Elrond (Robert Aramayo), um die beiden klassischen LotR-Charaktere wird jeweils ein Handlungsstrang eröffnet, Elrond besucht die Zwerge in Khazad-dûm, um dem Elbenschmied Celebrimbor (Charles Edwards) das Schmieden der titelgebenden Ringe der Macht überhaupt erst zu ermöglichen, Galadriel lehnt eine Rückkehr nach Valinor ab, um Sauron zu jagen und trifft dabei auf den Menschen Halbrand (Charlie Vickers). Ein anderer Elb, Arondir (Ismael Cruz Córdova) ermittelt derweil eine potentielle Rückkehr der Orks und verliebt sich dabei in die Menschenfrau Bronwyn (Nazanin Boniadi), deren Dorf, nebenbei bemerkt, im späteren Mordor liegt. Und dann wären da noch die Haarfüße um Nori Brandyfoot (Markella Kavenagh), die einen merkwürdigen Fremden (Daniel Weyman) finden, der als Meteor zur Erde gestürzt ist. Und das ist erst ein Teil der Handlungsstränge und Figuren, die aus Trailer, Castlisten etc. bekannt sind. Das Inselkönigreich Númenor, DIE dominante Fraktion des Zweiten Zeitalters, spielte bislang noch gar keine Rolle. Die beiden Episoden mühen sich ab, diese Handlungsstränge vorzustellen, die Figuren einzuführen, den Status Quo zu vermitteln, kommen dabei aber nie zur Ruhe, sind überfrachtet und schaffen es auch nicht so recht, den Zuschauer für die erzählte Welt einzunehmen. Das ist besonders schade, da die Schauwerte wirklich beeindruckend sind – „The Rings of Power“ ist visuell extrem beeindruckend und wirkt, mehr noch als „Game of Thrones“ und andere hochkarätige Serien der letzten Jahre, wie ein Kinofilm. Nun ja, es wurde auch genug Geld investiert…

Mein Problem bei all dem ist der Umstand, dass sich vieles weniger nach Tolkien als nach typischen Fantasy-Tropen anfühlt, quasi „Tolkien lite“. Galadriel ist in den Werken des Professors ein faszinierender und vielschichtiger Charakter, ohne dass man sie zur Kriegerin machen müsste. Es ist relativ eindeutig, dass die Serie zeigen möchte, wie aus der störrischen Kämpferin die weise Elbenherrscherin wird, aber auch diese Entwicklung hätte man etwas behutsamer und subtiler in Szene setzen können. Die Handlung um die Haarfüße erinnert auf merkwürdige Weise an „Diablo III“, wobei natürlich bereits eifrig spekuliert wird, wer der Fremde ist. Ein Balrog in Verkleidung, Sauron selbst, einer der Istari? Bitte nicht Gandalf. Von den bisherigen Handlungssträngen finde ich Elronds Besuch in Moria bislang am gelungensten, zum einen, weil dieser Teil des Plots tatsächlich auf den Titel hinarbeitet und zum anderen, weil Owain Arthur als Zwergenprinz Durin IV. schlicht brachial unterhaltsam ist. Das Gefühl, dass diese Handlungsstränge von Tolkien selbst stammen könnte, schafft „The Rings of Power“ nur sehr selten zu vermitteln, besonders, was die erzählerische und kulturelle Tiefe angeht. Die Vorarbeit wurde durchaus geleistet, nur kommen die Episoden einfach nicht dazu, irgendetwas davon ausreichend in Szene zu setzen.

House of the Dragon

„The Rings of Power“ scheint von seinem Publikum einen merkwürdigen mentalen Spagat zu erwarten, einerseits gibt es viele Rückbezüge auf die Filmtrilogien und, mehr noch, man versucht, das Zweite Zeitalter an das Dritte anzugleichen. Andererseits soll die Serie aber als eigenständige Interpretation von Mittelerde wahrgenommen werden. Möglicherweise ist so ein Spagat sogar machbar, „The Rings of Power“ gelingt er allerdings nicht. „House of the Dragon“ wählt einen völlig anderen Weg und erwartet von seinen Zuschauern, dass sie „Game of Thrones“ nicht nur gesehen, sondern gefälligst auch verinnerlicht haben. Obwohl theoretisch die Vorgeschichte erzählt wird, wirft die Serie ihre Zuschauer mitten in die Schlangengrube des Hofes der Targaryen und erläutert kaum etwas. Selbst GoT-Veteranen, die sich mit George R. R. Martins Büchern nicht weiter beschäftigt haben, könnten am Anfang etwas verloren sein, da die Häuser Velaryon und Hightower in der Serie keine Rolle gespielt haben, nun jedoch essentiell sind – aber immerhin sind derartige Zuschauer mit den Ämtern und Institutionen der Sieben Königreiche vertraut. Einem völligen Neuling hingegen kann man „House of the Dragon“ nicht ans Herz legen. Mich hingegen hat das kaum gestört, im Gegenteil: Nicht nur habe ich jahrelange ausführliche Episodenrezensionen verfasst, meine Master-Arbeit drehte sich zur Hälfte um „A Song of Ice and Fire“ (und zur anderen Hälfte um Tolkiens Werke); tatsächlich war ich sofort wieder „drin“, was ich nicht gedacht hätte, eben wegen der oben erwähnten Frustration mit den finalen GoT-Staffeln.

Es freut mich, mitteilen zu können, dass „House of the Dragon“ nach nur zwei Folgen („The Heirs of the Dragon“ und „The Rogue Prince“) bereits deutlich besser ist als Staffel 8 der Mutterserie, was mit Sicherheit an den Umständen liegt. Statt zweier Serienschöpfer, die ohne Quellenmaterial auskommen müssen und offenbar keine Lust mehr haben, eine gute, kohärente Geschichte zu erzählen, sondern alles in möglichst großem Spektakel beenden wollen, haben wir nicht nur erneut eine schriftliche Vorlage in Form des fiktiven Targaryen-Geschichtswerkes „Fire and Blood“, sondern auch George R. R. Martins erneutes Mitwirken. „House of the Dragon“ muss in der ersten Episode zwar auch eine ganze Menge an neuen Figuren etablieren, von einem neuen Status Quo gar nicht erst zu sprechen, was zugegeben manchmal etwas holprig ausfällt, aber diese Figuren befinden sich immerhin nicht über einen ganzen Kontinent verteilt, stattdessen fokussiert sich die Handlung der ersten beiden Episoden auf King’s Landing und Dragonstone. Anders als bei „Game of Thrones“, das die verknüpften Schicksale vieler Adelsfamilien von Westeros erzählte, konzentriert sich „House of the Dragon“ ohne wenn und aber auf die Targaryen, andere Familien spielen nur eine Rolle, sofern sie mit dem Herrscherhaus interagieren. Intrigen und politische Ränkespiel sind natürlich wieder en masse vorhanden: König des Reiches ist Viserys I. (Paddy Considine), zwar ein guter und gerechter Mann, aber nicht der stärkste oder entschlossenste Herrscher. Sein Bruder Daemon Targaryen (Matt Smith), Spitzname der „Rogue Prince“ (daher der Titel der zweiten Episode), kommandiert die Stadtwache und ist ein mächtiger Krieger und Drachenreiter, aber auch ein grausamer und launischer Mann. Als Viserys Frau Aemma (Sian Brooke) im Kindbett stirbt, bleiben nur zwei potentielle Thronerben übrig: Daemon und Viserys Tochter Rhaenyra (als Teenager: Milly Alcock, als Erwachsene: Emma D’Arcy). Gegen beide haben die großen Lords des Reiches Einwände: Daemon wird aufgrund seines Charakters als problematisch gesehen, Rhaenyra aufgrund ihres Geschlechts. Nachdem Daemon ein weiteres Mal über die Stränge schlägt, ernennt Viserys schließlich Rhaenyra zur Erbin. Derweil positioniert Viserys‘ Hand Ser Otto Hightower (Rhys Ifans) seine Tochter Alicent (als Teenager: Emily Carey, als Erwachsene: Olivia Cooke) als potentielle neue Gemahlin für Viserys. Da kündigt sich der Bürgerkrieg schon an…

„House of the Dragon“ sieht man sein Budget ebenfalls durchaus an, auch wenn sich „The Rings of Power“ aufgrund der epischen Landschaftspanoramen und wegen des deutlich aufwändigeren Scores von Bear McCreary noch einmal deutlich cinematischer anfühlt – im Vergleich dazu bleibt Ramin Djawadis Musik fest in der Tonalität der Mutterserie. Das geht sogar so weit, dass das neue Intro mit dem altbekannten Stück unterlegt ist; wenigstens eine neue Variation wäre schön gewesen. Davon abgesehen hat „House of the Dragon“ aber eindeutig in jeder Hinsicht die Nase vorn, vor allem schauspielerisch. Wo die Amazon-Serie primär auf unbekannte Darstellerinnen und Darsteller setzt, deren Leistungen auch eher wechselhaft ausfallen, knüpft „House of the Dragon“ nahtlos an „Game of Thrones“ an und schickt einige hochtalentierte britische Mimen ins Rennen, darunter natürlich primär Matt Smith und Rhys Ifans, die beide nicht enttäuschen. Aber auch Milly Alcock gibt eine wirklich gelungene Performance ab, ebenso wie die restliche Besetzung.

Erzählerisch experimentiert man dieses Mal stärker und arbeitet mit größeren Zeitsprüngen, allein zwischen der ersten und zweiten Folge vergeht ein halbes Jahr. Bereits im Vorfeld war bekannt, dass Rhaenyra und Alicent von verschiedenen Darstellerinnen verkörpert werden, weshalb mit noch deutlich größeren Zeitsprüngen zu rechnen sein wird. Gerade die erste Folge braucht noch ein wenig, um den richtigen Rhythmus zu finden. Darüber hinaus vereint „House of the Dragon“ in diesen ersten beiden Episoden die vorzügliche Charakterarbeit der frühen GoT-Staffeln mit dem gesteigerten Budget der späteren (dieses Mal gibt es sehr gut aussehende Drachen von Anfang an). Ausnahmslos alle zentralen Figuren, vom König über Daemon und Rhaenyra bis hin zu Corlys Velarion (Steve Toussaint) sind interessante und vielschichtige Charaktere, deren Motivationen und Perspektiven stets nachvollziehbar bleiben, dabei aber komplex und nicht plakativ sind. Während Daemon die offensichtlich faszinierende Figur ist, hat es mir vor allem Otto Hightower angetan, der als extrem subtiler, aber deswegen nicht minder effektiver Manipulator auftritt, der auf positive Weise recht undurchschaubar bleibt. Lediglich die Dialoge könnten noch ein wenig besser sein. Ansonsten wird das geboten, was man von einer HBO-Serie auch erwarten würde: Mit Sex und Gewalt, vor allem Gewalt, hält sich „House of the Dragon“ nicht zurück, neben einem Massaker an Verbrechen durch Daemons Goldröcke werden auch eine sehr blutige Geburt und ein Turnier mit unangenehmen Folgen geboten – das mag vielleicht exzessiv anmuten, steht aber wieder deutlich stärker im Dienst der Geschichte, als es in den späteren GoT-Staffeln der Fall war.

Mein größter Kritikpunkt an diesen beiden ersten Folgen ist die eine Szene, in der „House of the Dragon“ tatsächlich in unangenehmem Ausmaß in „Prequelitis“ verfällt und sich genötigt fühlt, auf plumpe und unelegante Weise auf Zukünftiges zu verweisen. Nachdem Viserys Rhaenyra zur Erbin erklärt hat, enthüllt er ihr, dass die Targaryen von der androhenden „Langen Nacht“, die in der Mutterserie schließlich eintritt, wissen und sich auf sie vorbereiten. Mehr noch, der Dolch, mit dem Arya den Nachtkönig schließlich tötet, taucht hier auf – all das hätte es für mich nicht gebraucht, es weckt nur unangenehme Erinnerungen an die achte GoT-Staffel, und wer will sich schon daran erinnern? Gut zweihundert Jahre vor Daenerys‘ Rückkehr nach Westeros will ich nichts von Weißen Wanderern hören.

Ansonsten ist das primäre Manko von „House of the Dragon“ tatsächlich die Möglichkeit, die Serie zu schauen, denn anders als „Game of Thrones“ kann die Staffel nicht auf Amazon erworben werden, sondern ist exklusiv nur in Skys Streamingsdienst Wow verfügbar. Leider ist der Name nicht Programm, sowohl im Angebot an Filmen und Serien als auch in der allgemeinen Nutzeroberfläche und Handhabung bleibt Wow weit hinter Netflix, Amazon Prime und Disney Plus zurück. Wenigstens finden sich noch einige andere hochkarätige HBO-Serien wie „Succession“ oder „Chernobyl“, die ich schon seit einiger Zeit konsumieren wollte, auf Wow, sodass sich das Angebot für sechs Monate zumindest für mich lohnt. Immerhin, Sky hat die erste Folge von „House of the Dragon“ auf Youtube veröffentlicht (wenn auch nur in deutscher Synchro), wer also gerne einen Eindruck hätte, kann ihn sich hier holen.

Fazit: Es hat schon seinen Grund, weshalb ich normalerweise abwarte, bis eine Staffel durch ist, bevor ich sie rezensiere: Allzu oft werden eigentlich gute Staffeln durch ein enttäuschendes Finale ruiniert oder kriegen kurz vor Schluss noch einmal die Kurve. Wenn ich mir aktuell allerdings eine der beiden großen Fantasy-Serien dieses Herbstes aussuchen müsste, die ich weiterschaue, wäre es ohne zu Zögern „House of the Dragon“. Ob sich dieser erste Eindruck bestätigt, wird sich in einigen Wochen zeigen.

Siehe auch:
Stück der Woche: Galadriel/Sauron

Stück der Woche: Galadriel/Sauron

Amazons Mega-Projekt „The Lord of the Rings: The Rings of Power” rückt konstant näher, immer mehr Material wird veröffentlicht, vom Design der Orks bis hin zum Cameo-Auftritt eines sehr an die Jackson-Filme erinnernden Balrogs im jüngsten Trailer. Ich muss zugeben, dass ich dem Projekt eher zwiegespalten gegenüberstehe, manche sieht vielversprechend aus, anderes hingegen klingt hingegen eher…bedenklich (Bartlose Zwergenfrauen? So ein Blödsinn!) Dennoch halte ich absolut nichts davon, derartige Projekte hysterisch als zum Scheitern verurteilt abzutun, ich werde warten, bis die Serie startet, sie mir ansehen und sie anschließend ehrlich evaluieren. Wie dem auch sei, nicht nur für Filmmusik-Fans stellte sich lange die Frage: Wer ist für die Musik zuständig? Nach langem Warten und vielen Spekulationen und Gerüchten gab es in dieser Woche endlich die Antwort: Bear McCreary arbeitet bereits seit einem Jahr am Score der Serie, zusätzlich wird Howard Shore das Titelthema schreiben. Das klingt erst einmal sehr vielversprechend: McCreary und sein Team enttäuschen selten und die Tatsache, dass Howard Shore persönlich, der für mich und unzählige andere Mittelerde musikalisch definiert hat, beteiligt ist, scheint ebenfalls eine sehr gute Nachricht zu sein. Einige Aussagen, die McCreary in diesem Kontext tätigte, lassen allerdings stutzig werden: „As I set out to compose the score for this series, I strove to honor Howard Shore’s musical legacy. When I heard his majestic main title, I was struck by how perfectly his theme and my original score, though crafted separately, fit together so beautifully. I am excited for audiences to join us on this new musical journey to Middle-earth.” (Quelle) Das klingt ein wenig merkwürdig, tatsächlich scheint Shore erst spät dazugestoßen zu sein, als McCrearys Score schon sehr weit fortgeschritten war. Weiter impliziert diese Aussage, dass Shores Thema abseits des Intros nicht wirklich Teil des Soundtracks sein wird, vielleicht abgesehen von einigen späten Einspielern. Da werden zumindest bei mir gewisse Erinnerungen an die Komponisten-Konstellation von „Obi-Wan Kenobi“ wach… Dieses musikalische Arrangement scheint zugleich ein Gesamtindikator für diese Serie zu sein, die sich scheinbar einfach nicht entscheiden kann, ob sie nun ein Prequel zu den Peter-Jackson-Filmen sein will oder nicht.

Zusätzlich zu dieser Ankündigung wurden zwei Tracks aus McCrearys Score veröffentlicht, bei denen es sich um das eigentliche Sujet dieses Artikels handelt: Galadriel und Sauron. Die Titel der Stücke legen nahe, dass es sich hierbei um Themen-Suiten zu diesen beiden Figuren handelt. Sollte dem so sein, wird bereits deutlich, dass McCreary zwar vielleicht grob in eine tonal ähnliche Richtung geht wie Shore, wir aber wohl keine direkten Bezüge zu Shores Musik der beiden Jackson-Trilogien erwarten dürfen – beide Figuren sind in den LotR- und Hobbit-Filmen leitmotivisch en detail definiert. Galadriel wird für gewöhnlich durch das Lothlórien-Thema repräsentiert, während Sauron eine ganze Reihe von Themen, Motiven und Begleitfiguren hat, die mit ihm verbunden sind, von seinem eigentlichen Charakterthema über das Geschichte-des-Ringes-Thema (beide beginnen mit demselben Halbtonschritt), der absteigenden Terz bis hin zu den Nekromanten-Motiven aus der Hobbit-Trilogie usw.

Der Track Galadriel beginnt mit vage keltisch anmutenden Harfenklängen und sanftem Frauenchor, bevor die Hörner mit Unterstützung der Flöten eine sehr angenehme Melodie anstimmen (das Kernmotiv von Galadriels Thema?). Anschließend übernehmen Streicher und Chor die Melodie, die um die Zweiminutenmarke herum an Intensität gewinnt. Im letzten Drittel wird das Thema getragener und epischer, nicht zuletzt dank des Einsatzes mächtiger Pauken, bevor am Ende hohe Streicher, Harfe und Chor einen zärtlichen Abschluss anstimmen.

Sauron beginnt mit frenetischen Streichern und tiefem Chor, der wahrscheinlich in der Schwarzen Sprache Mordors singt – es würde mich schon sehr wundern, wenn McCreary und die Verantwortlichen nicht zumindest die Tradition, die Chöre in Tolkiens Kunstsprachen singen zu lassen, fortführten. Gewisse Parallelen zu Shores Musik für die Nazgûl lassen sich nicht von der Hand weisen, mehr klingt dieser Track allerdings wie eine Fortführung des Sounds von McCrearys „God of War“ – der Score dieses Spiels war ebenfalls sehr chorlastig. Eigenheiten aus Shores Musik für Mittelerde kehren hier in größerem Ausmaß zurück, sowohl die Streicherfiguren in der Begleitung als auch der Einsatz der Schlagzeuginstrumente rufen zumindest vage Erinnerungen an die Scores der Filme hervor. Ab der Hälfte wird der Männerchor von einem Frauenchor abgelöst und leitet in eine eher tragisch klingende, weniger finster anmutende Passage über, die aber nicht lange vorhält, schon ab 1:40 kehren Männerchor und donnernde Percussions zurück, die abermals Erinnerungen an die Nazgûl und Moria hervorrufen.

Siehe auch:
Stück der Woche: Learning to Ride
Obi-Wan Kenobi

Stück der Woche: Fire and Water

„The Battle of the Five Armies” ist der einzige Mittelerde-Film, der ohne einen der eigentlichen Handlung vorgesetzten und von ihr separierten Prolog auskommen muss. Da „The Desolation of Smaug“ mit einem Cliffhanger endet, fühlt sich die Eröffnungsszene des dritten Hobbit-Films immer eher an, als gehöre sie noch zum Vorgänger, ohne dabei aber dieselbe Wirkung zu erzielen wie ein „regulärer“ Prolog. Dieser Umstand wirkt sich natürlich auch auf die Musik aus: Die Prologszenen boten Shore stets interessante Möglichkeiten, eben weil sie von dem, was direkt danach kam, separiert sind. In den beiden Eröffnungsfilmen der jeweiligen Trilogie nutzte Shore die Prologe ähnlich wie eine Ouvertüre und etablierte bereits früh eine ganze Menge an leitmotivischem Material, das erst später im Film oder gar in den Folgefilmen wichtig werden sollte, während er im jeweils zweiten Film die Gelegenheit bekam, zu einem früheren Schauplatz noch einmal kurzzeitig zurückzukehren, sei es Moria oder Bree. In „The Return of the King“ präsentierte Shore schließlich eine Frühform des Auenlandmaterials für die Proto-Hobbits Sméagol und Déagol. In Fire and Water (ein weiterer Track, der direkt nach einem Kapitel des Romans benannt ist) führt Shore dagegen einige der leitmotivischen Fäden von „The Desolation of Smaug“ zur Kulmination.

Zwischen Alben- und Filmversion gab es bereits beim Vorgänger immer größere Unterschiede, diese Tendenz verstärkt sich im Hobbit-Finale noch weiter – der Musik-Schnitt wird von Film zu Film in dieser Trilogie schlechter. Da es immer umständlicher wird, auf Unterschiede zwischen Film- und Albenversion hinzuweisen, werde ich das nur noch in ausgewählten Einzelfällen tun – ansonsten behandle ich die Stücke auf dem Album als die von Shore intendierte Version. Fire and Water ist da bereits ein exzellentes Beispiel – ich vermute, dass auch diese Sequenz bis kurz vor Kinostart immer wieder umgeschnitten wurde, was zur Diskrepanz zwischen Film und Album geführt haben dürfte: Musikschnipsel des Films fehlen auf dem Album und umgekehrt; immer wieder wirkt es, als hätten Jackson und Co. einfach die Pausetaste gedrückt, weshalb der natürliche Fluss der Musik unterbrochen wird.

Sofort zu Beginn des Tracks hören wir, dass sich der Drache nähert, es braucht gerade einmal etwas über 20 Sekunden, bis die B-Phrase und das charakteristische Ostinato von Smaugs Thema erklingen. Als Zuschauer bzw. Zuhörer nehmen wir hier die Perspektive der Menschen von Esgaroth ein, weshalb die Musik des Drachen zu Anfang noch subtiler und weiter entfernt ist, aber rasch näher kommt. Zum ersten Mal in dieser Filmtrilogie wird die Einblendung des Titels „The Hobbit“ zudem nicht von einer Variation des Auenlandthemas begleitet, sondern von einem Fragment des Drachenleitmotivs (0:53). Sobald das erledigt ist, steigert sich die Intensität des Drachenmaterials, das bei 1:21 kurz vom Motiv „The Politicans of Lake-town“ (nach Doug Adams) unterbrochen wird, als der Meister von Esgaroth und Alfrid versuchen, die Staatskasse vor dem anrückenden Ungetüm in Sicherheit zu bringen – dementsprechend gehetzt ist das Statement und wird auch sofort wieder von Smaugs Begleitfigur bei 0:28 überlagert. Ein erster zorniger Ausbruch der A-Phrase erklingt bei 1:50, nur um allerdings direkt in das Girion bzw. Drachentöter-Thema überzugehen. Bereits hier zeigt sich, dass Fire and Water ein faszinierender Spiegel des Tracks My Armor Is Iron darstellt: Nicht nur haben beide eine ähnliche Laufzeit, sie stellen ein Duell des Smaug-Themas mit jeweils einer Motivgruppe dar, in My Armor Is Iron kämpfte die musikalische Repräsentation des Drachen mit den Themen der Zwerge, hier sind es die verschiedenen Themen Bards des Bogenschützen.

Bei der Zweiminutenmarke kehren wir sofort wieder zu Ostinato und ansteigender B-Phrase zurück, bei 2:23 entlädt sich schließlich der volle Zorn des feuerspeienden Reptils in einem mächtigen Statement der A-Phrase, die sich bei 2:50 wiederholt. Und abermals folgt darauf direkt bei 3:06 das Drachentöter-Thema, rein und klar von Blechbläsern gespielt, als Bard endlich seine Bestimmung erkennt und sein Erbe annimmt. Bei 3:21 geht es in die bislang stärkste Variation des eigentlichen zentralen Leitmotivs dieser Figur über, das Thema für Bard, den Bogenschützen, das in „The Desolation of Smaug“ oft eine etwas zwielichtige Färbung hatte, nun aber endgültig zum Heldenthema mutiert. Als Bard seinen Sohn Bain als Zielvorrichtung verwendet, erklingt das dritte Thema des Bogenschützen, Bards Familienthema (3:23), das im zweiten Hobbit-Film nur einmal kurz angedeutet wurde, in „The Battle of the Five Armies“ aber noch an Wichtigkeit gewinnt. Durch den Einsatz eines Frauenchors schafft Shore einen starken Kontrast sowohl zum Material des Drachen als auch zu den anderen beiden Bard-Themen.

Noch einmal kehrt ab 4:04 das Smaug-Material mit voller Wucht zurück, allerdings durchsetzt von ominösen Chorpassagen, die vom Ende der Bestie künden. Smaugs Thema wird weitergespielt, verliert an Kraft und Intensität, verstummt allerdings nicht und verschwindet auch nicht aus dem Score. Es bleibt als unheilvolle Präsenz bestehen, während die Handlung des Films zum Erebor und den Zwergen zurückkehrt. Smaug mag tot sein, aber sein Vermächtnis ist nicht aus Mittelerde verschwunden. Bei 5:39 arbeitet sich schließlich zögerlich das Erebor-Thema aus dem Drachenmaterial heraus, das die Titeleinblendung „The Battle of the Five Armies“ untermalt.

Siehe auch:
My Armor Is Iron

Stück der Woche: Beyond the Forest

Unglaublich, aber wahr, der Score zu „The Desolation of Smaug“ ist fast komplett besprochen, lediglich ein von Shore komponierter Track fehlt noch: Die Abspannmusik, Beyond the Forest. Zuvor möchte ich allerdings noch ein paar Worte über den Abspannsong verlieren. I See Fire wird nicht nur von Ed Sheeran gesungen, sondern wurde auch von ihm komponiert, ohne jeglichen Input von Howard Shore. Ich weiß, es gibt viele, die dieses Lied wirklich gerne haben, und isoliert hätte ich wahrscheinlich auch keine Probleme mit ihm, aber im Abspann eines Mittelerde-Films beißt er sich stilistisch fürchterlich mit Shores Musik, besonders bzgl. des Tonfalls und der Instrumentierung. I See Fire ist zudem das erste Lied dieser Filmreihe, das keinerlei Bezug zur Musik hat, die man im Film hört: Für Enyas May It Be erledigt Shore die Instrumentierung und zudem ist es mit Aníron, dem Lied, das während der Aragorn/Arwen-Szene gespielt wird, verwandt, Gollum’s Song und Into the West wurden beide von Shore komponiert und basieren auf leitmotivischem Material und Song of the Lonely Mountain ist eine Weiterverarbeitung von Misty Mountains. I See Fire dagegen ist sowohl im Kontext der Abspannsongs als auch des zugehörigen Scores völlig isoliert und wirkt aus diesem Grund völlig deplatziert.

Beyond the Forest ist dagegen ein schönes Ende für das Album: Dieses finale Stück konzentriert sich auf das Material für Tauriel und die Waldelben. Es beginnt mit der gesungenen B-Phrase des Liebesthemas für Tauriel und Kíli, die wir bereits aus Feast of Starlight kennen. Ab der Einminutenmarke erklingt die A-Phrase, die Stimmen treten ein wenig in den Hintergrund, stattdessen werden Flöten und Streicher dominanter. Letztere stimmen ab 1:45 das Waldlandreich-Thema an, erst zurückhaltend, dann rasch an Kraft gewinnend. Beginnend ab 2:36 besteht das Stück fast ausschließlich aus Variationen von Tauriels Thema, zuerst lieblich und mit Chorbegleitung, später energischer. Bei 2:31 lässt Shore die getriebene Action-Variation erklingen, deren Intensität sich immer weiter steigert und an The Forest River erinnert. Sorgen militärisch anmutende Percussions und ein Marschrhythmus tauchen bei 4:15 auf, ab 4:28 wird der Tonfall allerdings wieder ruhiger und die getragenen Frauenstimmen kehren zurück.

Nach der intensiven Auseinandersetzung mit Shores Musik für „The Desolation of Smaug“ fällt auf, wie asymmetrisch die Weiterentwicklung der Leitmotive ausfällt, gerade im Vergleich zu „The Two Towers“. Das kann natürlich an der Geschichte liegen, die erzählt wird – kaum jemand wird sich darüber wundern, dass das Moria-Material in „The Two Towers“ nach der Eröffnungsszene nicht mehr präsent ist, schließlich spielt Moria keine Rolle mehr. Beim zweiten Hobbit-Film werden allerdings eine ganze Reihe von Themen fallengelassen, die theoretisch ihre inhaltliche Berechtigung hätten, primär natürlich das Misty-Mountains-Thema, aber auch das ursprüngliche Hauptthema für Bilbo – und selbst die sekundären Motive für unseren Hobbit wurden stark reduziert. Die Themen, die tatsächlich aufgegriffen und weiterentwickelt wurden, sind primär die der Zwerge sowie einige Andeutungen aus „An Unexpected Journey“, etwa das Material der Elben oder des Drachen. Diese Entwicklung setzt sich in „The Battle of the Five Armies“ fort, und zwar so sehr, dass es tatsächlich kaum neue Themen gibt – stattdessen bemüht sich Shore, mit den viele bereits bestehenden Leitmotiven zu jonglieren.

Siehe auch:
The Quest for Erebor
Wilderland
The House of Beorn
Flies and Spiders
The Woodland Realm
Feast of Starlight
The Forest River
Bard, a Man From Lake-Town
Protector of the Common Folk
Durin’s Folk
A Spell of Concealment
On the Doorstep
The Courage of Hobbits
Kingsfoil
The Hunters
Smaug
My Armor Is Iron

Stück der Woche: My Armor Is Iron

In einem Film voller schlechter Ideen ist die, Smaug die Zwerge durch den Erebor jagen zu lassen eine der schlechtesten, weil sie die beste Sequenz des Films – den Dialog zwischen Bilbo und dem Drachen – fast schon entwertet. In besagter Szene wird Smaug äußerst gelungen als Bedrohung aufgebaut, das Spiel zwischen Martin Freeman und Benedict Cumberbatch in Zusammenarbeit mit Tolkiens Worten funktioniert exzellent. Und dann ruinieren Jackson und Co. diesen ganzen sorgfältigen Aufbau, indem sie den Drachen als unfähig darstellen, mit ein paar, inzwischen scheinbar feuerfesten Zwergen fertig zu werden. Thorin tanzt Smaug buchstäblich auf der Nase herum. Über die goldene Statue reden wir am besten gar nicht erst. Das einzig Gute, das aus dieser völlig sinnlosen sowie logik- und physikfreien Action entwächst, ist die Musik, mit der Howard Shore sie untermalt. Es bleibt allerdings zu sagen, dass selbst dieses grandiose Actionstück, wie schon The Forest River, im Film merkwürdig zerstückelt wirkt und immer wieder durch seltsam platzierte Pausen unterbrochen wird. Ob die Musik aufgrund später Umschnitte so zerstückelt wurde oder von Anfang an so konzipiert war und nur der Hörbarkeit wegen auf dem Album kohärenter gestaltet wurde, ist schwer zu sagen, in letzter Konsequenz aber egal – die Albenversion ist dem Filmgegenstück meilenweit überlegen.

Nachdem Smaugs Musik die letzten Tracks gnadenlos dominierte, erstarkt in My Armor Is Iron die Musik der Zwerge und ringt mit dem unerbittlichen Thema des Drachen. Der Track startet mit rasanten Streichern, bereits bei 0:12 erklingt eine ebenso knappe wie gehetzte Variation des Erebor-Themas, die Streicher, die ein wenig an The Forest River erinnern, fungieren weiter als Basis. Bei 0:30 hören wir die A-Phrase von Smaugs Thema, allerdings weniger dominant als zuvor – der Drache hat die Situation nicht mehr unter Kontrolle. Die Blechbläser haben sich auf die Seite der Zwerge geschlagen und stimmen bei 0:53 das Haus-Durins-Thema an, das Shore hier zum ersten Mal in den Action-Modus zwingt und so bereits einen Ausblick auf „The Battle of the Five Armies“ gibt. Bei 1:20 schlägt Smaugs Thema (A-Phrase) mit voller Wucht zurück; die Bestandteile seines Themas dominieren die folgenden eineinhalb Minuten, lediglich bei 1:50 mischen sich Fragmente des Haus-Durins-Themas ein, nur um kurz darauf vom Drachenkrankheits-Ostinato abgelöst zu werden. Bei 2:18 setzt eine geradezu heimtückische Variation der B-Phrase von Smaugs Leitmotiv auf verstörenden Streichern ein, die die Hinterlist des Drachen betont. Ab der Dreiminutenmarke ist ein zwergischer Rhythmus zu hören, der kurz darauf in einem kontrapunktischen Einsatz des Haus-Durins-Themas und des Drachenkrankheits-Ostinatos gipfelt und die Verknüpfung zwischen Thorin und dem Drachenthema, die im kommenden Film zum Einsatz kommt, bereits andeutet. Die Musik des Drachen gewinnt schließlich die Oberhand, sodass ab 3:22 die B-Phrase von Smaugs Thema zu hören ist, begleitet von schicksalhaftem Chor – an dieser Stelle wird die übergroße goldene Statue enthüllt. Thorin Eichenschild lässt sich aber musikalisch nicht unterkriegen, eine kräftige und strahlende Version seines Thema erklingt ab 3:40, als Smaug kurzzeitig in flüssigem Gold zu ertrinken scheint und sich der Erbe des Durins siegreich wähnt. Dass dies ein Trugschluss ist, teilt uns Shore 15 Sekunden später mit, als Thorins Thema wieder in das Drachenkrankheits-Ostinato übergeht – der Kampf zwischen Zwerg und Drache wird durch ein ständiges, leitmotivischen Schlagabtausch dargestellt. Bei 4:04 ist eine knappe Andeutung des Erebor-Themas zu vernehmen, die jedoch sofort vom Material des Drachen abgelöst wird und bei 4:14 in eine regelrecht ätherische Variation der B-Phrase mit Chor übergeht, als sich Smaug des flüssigen Goldes entledigt. Diese geht bei 4:35 nahtlos in die A-Phrase über. Begleitet von ominösen Stimmen fliegt Smaug gen Esgaroth, während sich Bilbo fragt, was er und die Zwerge da angerichtet haben.

Siehe auch:
The Quest for Erebor
Wilderland
The House of Beorn
Flies and Spiders
The Woodland Realm
Feast of Starlight
The Forest River
Bard, a Man From Lake-Town
Protector of the Common Folk
Durin’s Folk
A Spell of Concealment
On the Doorstep
The Courage of Hobbits
Kingsfoil
The Hunters
Smaug

Hemators Empfehlungen: Horror-Soundtracks

Halloween 2021!

Was wäre Horror im Allgemeinen und Halloween im Besonderen ohne die richtige musikalische Untermalung? Bereits in den Anfangstagen meines Blogs konzipierte ich eine Top-10-Liste der besten Horror-Scores, dieser Artikel ist gewissermaßen eine Revision und ein Update – zugleich will ich mich aber nicht mehr auf zehn beschränken und ordne die Soundtracks dieses Mal auch nicht nach Qualität, sondern nach Erscheinungsjahr. In bestimmten Fällen habe ich zwei Werke kombiniert, bei denen es sich entweder um Teile derselben Filmreihe handelt oder die stilistisch sehr gut zusammenpassen. Zugleich handelt es sich hierbei auch um den Start einer neuen Artikelreihe, in deren Rahmen ich zu einer bestimmten Thematik Empfehlungen abgeben möchte, ohne allzu sehr in die Tiefe zu gehen.

Wer meinen Musikgeschmack kennt, wird sich schon denken können, in welche Richtung die Scores auf dieser Liste gehen: Da ich ein Fan des Orchesters bin, tauchen hier keine Werke auf, die primär auf Elektronik und/oder Ambience ausgerichtet sind – gerade im Horror-Bereich finden sich derartige Soundtracks doch ziemlich häufig. Das soll nicht heißen, dass diese Scores im Kontext nicht durchaus effektiv sein können, aber ich kann ihnen nur selten abseits der Filme etwas abgewinnen, und genau darum geht es hier. Dass ich zudem eine starke Vorliebe für Gothic Horror in all seinen Ausprägungen habe, dürfte auch kein Geheimnis sein, dementsprechend viele Soundtracks dieser Liste gehören deshalb diesem Subgenre an. Natürlich gibt es noch viele, viele weitere grandiose Horror-Scores, weshalb es durchaus möglich ist, dass dieser Artikel ein oder mehrere Sequels erhält. Fürs erste konzentriere ich mich ausschließlich auf Filme, hier finden sich also weder Spiele noch Serien – auch das mag sich in Zukunft ändern.

„The Omen“, Jerry Goldmsith (1976)

Beginnen wir mit einem Klassiker, der Horror-Scores über Jahrzehnte hinaus beeinflusste und absolut stilbildend war und ist, besonders, wenn es sich um religiös motivierten Horror handelt. Ich weiß nicht, wie üblich es vor „The Omen“, war, finstere Chöre, die wie eine Perversion gregorianischer Gesänge klingen, in diesem Kontext einzusetzen, (immerhin gibt es definitiv gewisse klangliche Parallelen zu John Barrys „The Lion in Winter“ aus dem Jahr 1968); meinem Empfinden nach markiert „The Omen“ jedenfalls den Startpunkt eines essentiellen Trends im Genre. Vorzeigestück ist fraglos das finstere und verstörende Ave Satani, das in vielfältigen Variationen im Verlauf des Scores erklingt. Als Gegenpool fungiert das deutlich angenehmere Familienthema, das aber natürlich deutlich weniger Eindruck hinterlässt. Die beiden Sequel-Scores bilden ganz interessante Gegensätze, auch wenn sie die Qualität des Vorgängers nicht erreichen. In „Damien: Omen II“ ist Ave Satani quasi allgegenwärtig, in „The Final Conflict“ hingegen macht es sich eher rar und erklingt deutlich subtiler und verfremdeter. An das Original kommen beide nicht heran. Wer eine gemütliche satanische Messe planen sollte, findet in „The Omen“ definitiv die richtige musikalische Untermalung dafür.

„Dracula“, John Williams (1979)

Horror ist nicht unbedingt das Genre, mit dem man John Williams primär in Verbindung bringt. Dennoch hat der Maestro Ende der Siebziger die Musik für eine Dracula-Adaption mit Frank Langella in der Rolle des Grafen geschrieben. Das Ergebnis ist in jeder Hinsicht klassisch: Ein klassischer Williams-Score und ein klassischer Gothic-Horror-Score, wie er im Buche steht: Üppig, ausladend, opulent, man sieht vor dem inneren Auge sofort neblige Berggipfel und verfallene Ruinen. Stilistisch lassen sich viele Parallelen zu Williams‘ Werken dieser Zeit ziehen, sei es die Star-Wars-OT oder „Raiders of the Lost Ark“ – nur ist alles eben ein wenig düsterer und dramatischer. „Dracula“ ist leitmotivisch allerdings weit weniger vielseitig als besagte zeitgenössische Werke, da Williams sich nur eines zentralen Themas für Dracula selbst bedient (das dafür auch ordentlich Präsenz im Score besitzt) und ansonsten nur noch auf ein sekundäres Thema für Van Helsing zurückgreift. Definitiv kein Meilenstein in Williams‘ Œuvre oder im Horror-Genre, aber ein unterhaltsamer, oft übersehener Gothic-Horror-Score ohne jeden Zweifel.

„Alien“, Jerry Goldmsmith (1979)

Und gleich noch ein Genre-Meilenstein von Jerry Goldsmith, der allerdings völlig anders ausfällt als „The Omen“. Mit „Alien“ konnte Goldsmith nicht nur ein weiteres Mal seine Kreativität beweisen, sondern auch einem ganzen Film-Franchise seinen Stempel aufdrücken. Statt satanischer Chöre fährt Goldsmith hier verstörende, fremdartige Atonalität und brillante Atmosphäre auf, hin und wieder versehen mit einem Hauch Melodik oder gar Romantik (die Ridley Scott allerdings größtenteils aus dem Film entfernte). Goldsmith verbindet hier gekonnt traditionelles Orchester, exotische Instrumente und Synth-Einlagen, um eine einzigartige Klanglandschaft zu erschaffen. Sein ebenso simples wie einprägsames Time-Motiv wurde schließlich zum Aushängeschild der Filmreihe und taucht in fast allen weiteren Alien-Scores auf. Besonders Marc Streitenfeld (mit Hilfe von Harry Gregson-Williams) und Jed Kurzel bedienen sich des Motivs und der Goldsmith-Stilmittel in „Prometheus“ und „Alien: Covenant“ – an den Score des Meisters kommen aber beide nicht heran.

„The Fly”, Howard Shore (1986)

Unglaublich aber wahr, bevor Howard Shore als Komponist der LotR-Trilogie bekannt wurde und DEN definitiven Fantasy-Soundtrack schuf, schrieb er primär Musik für Thriller und Horror-Filme – gewisse „Reste“ finden sich auch durchaus in Jacksons Trilogie, etwa in der dissonanten Musik für Kankra. Shore ist nach wie vor der Stammkomponist von David Cronenberg, mit dem er bereits in den 80ern an „The Fly“ arbeitete. Anders als beispielsweise Goldsmiths „Alien“ ist „The Fly“ äußerst melodisch und klassisch angehaucht und steht damit über weite Strecken in Kontrast zu den Dissonanzen, mit denen Shore selbst in anderen Filmen arbeitet – hin und wieder tauchen sie dann aber doch auf. Die düsteren, brütenden Passagen nehmen allerdings durchaus bereits die Stilistik späterer Thriller-Scores wie „The Silence of the Lambs“ vorweg. Im Kern ist „The Fly“ ein sehr bombastischer, opernhafter Score, weit weniger fordernd und damit deutlich hörbarer als viele andere Soundtracks dieser Liste, deshalb aber nicht weniger wirkungsvoll. Für das unterirdische Sequel schrieb Christopher Young die Musik, der Shores Motive zwar nicht direkt zitiert, den Tonfall aber beibehält – trotzdem (oder gerade deswegen) klingt der Score von „The Fly II“ wie eine inoffizielle Fortführung des nächsten Eintrags dieser Liste.

„Hellraiser” & „Hellbound: Hellraiser II”, Christopher Young (1987 & 1988)

Genau genommen knüpft Christopher Young nicht nur in „The Fly II“ an Shores Score an, sondern auch in den ersten beiden Hellraiser-Filmen. Als Clive Barker sich daran machte, seine Novelle „The Hellbound Heart“ zu verfilmen, wollte er ursprünglich, dass die Industrial-Band „Coil“ die Musik beisteuerte, das Studio strebte allerdings einen traditionelleren Sound an, was sich in letzter Konsequenz als die richtige Entscheidung erwies. Christopher Young gelang es auf unnachahmliche Weise, die Mischung aus Schmerz und Lust, die die Cenobiten darstellen, musikalisch zu verkörpern: Vor allem sein Hauptthema hat etwas merkwürdig Einnehmendes, beinahe Angenehmes an sich, bleibt dabei aber doch unheimlich, ohne in Dissonanzen abzugleiten. Die Fremdartigkeit der Cenobiten vermittelt Young durch die Verwendung von Sounddesign-Elementen. Für das von Tony Randel inszenierte Sequel „Hellbound: Hellraiser II“ knüpfte Young nahtlos an seinen Erstling an, legte aber noch einmal eine ordentliche Schippe Bombast oben drauf. Sowohl Randy Miller als auch Daniel Licht bedienten sich in „Hellraiser III: Hell on Earth“ und „Hellraiser: Bloodline“ weiterhin dem von Young etablierten Stil und der Themen – beide Scores kommen nicht an Yongs heran, sind aber durchaus brauchbare Ergänzungen.

„Bram Stoker’s Dracula“, Wojciech Kilar (1992)

Für seine Version von Stokers Roman suchte Francis Ford Coppola nach einem spezifisch osteuropäischen Sound, und den bekam er vom polnischen Komponisten Wojciech Kilar. Für mich persönlich ist Kilars Musik DER prägende Dracula-Sound: Ebenso gotisch und opulent wie Williams‘ über zehn Jahre zuvor entstandener Score, aber distinktiver, einnehmender und mitreißender. Kilar konstruierte den Score auf Basis diverser Themen, die die zentrale Rolle einnehmen – es vergeht kaum eine Minute, in der nicht eines dieser Themen in irgend einer Art und Weise zu hören ist. Hierzu zählen primär Leitmotive, die alle auf den titelgebenden Vampir zurückzuführen sind, darunter ein Liebesthema, ein recht brutales Motiv für die monströse Seite des Grafen, aber auch ein treibender Rhythmus für die Vampirjäger. Kilars Musik für „Bram Stoker’s Dracula“ erwies sich als enorm einflussreich, Elemente und stilistische Hommagen erklingen in vielen weiteren Scores, etwa Kilars Musik zu Roman Polanskis „The Ninth Gate“ oder diversen anderen Soundtracks auf dieser Liste. Es empfiehlt sich allerdings, Annie Lennox‘ Abspannsong Love Song for a Vampire aus der Playlist zu tilgen, da er stilistisch absolut nicht zu Kilars Kompositionen passt.

„Alien 3“ & „Interview with the Vampire”, Elliot Goldenthal (1992 & 1994)

Jeder der Alien-Scores, selbst die des Spin-off-Franchise „Alien vs. Predator“, verweist in irgendeiner Form auf das Original von Jerry Goldsmith, sei es durch stilistische Anleihen, direkte Zitation oder beides. Die eine große Ausnahme ist der Score, den Elliot Goldenthal für „Alien 3“ komponierte. Hier zeigt sich Goldenthals Herkunft aus dem Bereich der modernen klassischen Musik – zumindest in der Methodologie gibt es gewisse Parallelen zu Goldsmith. Beide Komponisten sind diversen Avantgarde-Techniken und eher unüblichen Stilmitteln nicht abgeneigt, was sich aber in zwei stilistisch sehr unterschiedlichen Scores manifestiert. Wo Goldsmith die Fremdartigkeit des Xenomorph und die kalte Isolation des Weltalls in den Vordergrund stellte, konzentriert sich Goldenthal auf den religiösen Aspekt des Films, den er vertont. Tracks wie Lento oder Agnus Dei verweisen nicht nur in ihren Titeln auf Kirchenmusik, sie orientieren sich auch stilistisch an ihr, sind deutlich harmonischer als alles, was Goldsmith für „Alien“ komponierte und arbeiten mit himmlischen Chören. Horror und Gewalt stellt Goldenthal zum Teil durch gotisch-bizarr anmutende, zum Teil aber auch durch von Industrial inspirierte Passagen dar, die mitunter in unhörbaren Lärm ausarten; der eher unglücklich betitelte Track Wreckage and Rape ist hierfür ein Idealbeispiel. Der nur kurz darauf entstandene Soundtrack zu Neil Jordans „Interview with the Vampire“ fühlt sich wie eine natürliche Entwicklung des „Alien 3“-Scores an. Freilich entfallen hier die Industrial-Passagen, stattdessen werden die gotischen Elemente noch stärker betont und man meint, hin und wieder den Einfluss von „Bram Stoker’s Dracula“ herauszuhören, natürlich geprägt von Goldenthals distinktivem Stil. Sofern man die Industrial-Passagen aus der Playlist wirft, passen „Alien 3“ und „Interview with the Vampire“ wunderbar zusammen, wobei ich Letzterem den Vorzug vor Ersterem geben würde.

„Mary Shelley’s Frankenstein”, Patrick Doyle (1994)

Kenneth Branaghs Adaption von Mary Shelleys Roman ist gewissermaßen der Schwesterfilm von „Bram Stoker’s Dracula“ und entstand als direkte Reaktion auf dessen Erfolg – Coppola produzierte sogar, auch wenn er der Meinung war, „Mary Shelley’s Frankenstein“ sei ein wenig zu opernhaft geraten (was an sich schon aussagekräftig genug ist). Wie dem auch sei, Branagh arbeitete hier, wie auch an den meisten anderen seiner Filme, mit seinem Stammkomponisten Patrick Doyle zusammen, dessen Score mindestens so opernhaft, opulent und grandios ausfällt wie der Film, zu dem er gehört, und auch Kilars Arbeit in kaum etwas nachsteht. Ihm fehlt natürlich das distinktive osteuropäische Element, Doyle gleicht dessen Fehlen allerdings durch eine noch ausgeprägtere Romantik und orchestrale Wucht aus. „Mary Shelley’s Frankenstein“ ist kein Score der leisen Töne, sondern der großen Emotionen und epischen Gotik (inzwischen dürfte klar sein, dass man genau damit mein Interesse wecken kann). Nach wie vor mein liebster Soundtrack von Patrick Doyle

„House of Frankenstein”, Don Davis (1997)

Ähnlich wie Howard Shore ist auch Don Davis ein Komponist, der einiges im Horror-Bereich komponierte, bevor sein Name primär mit einer bestimmten Blockbuster-Trilogie verknüpft wurde. Anders als Shore ist Davis allerdings nach „The Matrix Revolutions“ praktisch völlig von der Bildfläche verschwunden. Nicht einmal für das anstehende Sequel „The Matrix Ressurection“ kehrt er zurück, stattdessen komponieren Tom Tykwer und Johnny Klimek (der Trailer verwendet allerdings Davis‘ alternierendes Zwei-Noten-Motiv bei der Titeleinblendung). „House of Frankenstein“ ist einer der erwähnten Horror-Scores und gehört zu einer wohl ziemlich trashigen TV-Miniserie, die lose auf dem gleichnamigen Universal-Film basiert. Dementsprechend ist „House of Frankenstein“ nicht unbedingt innovativ, man merkt sofort, dass sich Davis hier der Gothic-Horror-Klischees bedient und recht direkt Goldsmiths „The Omen“ und Youngs „Hellraiser“ zitiert. Aber er ist dabei so verdammt unterhaltsam und überdreht. Vor allem in der zweiten Hälfte gibt Davis aber auch immer wieder einen Vorgeschmack auf die atonalen Techniken, die später die Musik von „The Matrix“ dominieren würden.

„Sleepy Hollow“, Danny Elfman (1999)

Die Filme Tim Burtons wären ohne den gotisch-verspielten Sound von Danny Elfman nicht dasselbe: Egal ob „Beetle Juice“, „Batman“, „Edward Scissorhands“ oder spätere Werke wie „Frankenweenie“ oder „Dark Shadows“ – sie alle sind ästhetisch und klanglich an die Gothic-Horror-Tradition angelehnt, ohne aber tatsächlich Horror-Filme zu sein. Dasselbe trifft nicht auf „Sleepy Hollow“ zu, den wahrscheinlich einzigen „echten“ Horror-Film, an dem Burton und Elfman zusammen gearbeitet haben (und selbst hier finden sich parodistische Elemente). Wie dem auch sei, „Sleepey Hollow“ ist eine liebevolle Hommage an die Filme der britischen Hammer-Studios. Musikalisch schöpft Elfman hier aus den Vollen, „Sleepey Hollow“ ist düster, brutal, episch und gotisch bis zum geht nicht mehr. Technisch gesehen ist der Score beinahe monothematisch, das Titelthema fungiert als übergreifende Identität, Elfman gelingt es allerdings, dieses Thema in mehrere Motiv aufzuspalten und so gekonnt zu variieren, sodass ein erstaunlich vielseitiger Score entsteht, der nicht nur grandiose Horror- und Action-Musik, sondern auch erstaunlich berührende emotionale Zwischentöne zulässt.

„From Hell”, Trevor Jones (2001)

Für sich betrachtet ist „From Hell“ ein sehr kurzweiliger und vor allem atmosphärischer Thriller im viktorianischen London, als Adaption der grandiosen Graphic Novel von Alan Moore versagt der Film der Hughes-Brüder aber leider auf ganzer Linie. Absolut nicht versagt hat hingegen Komponist Trevor Jones, der, ähnlich wie Don Davis, irgendwann in den frühen 2000ern fast völlig von er Bildfläche verschwand. Der Score, den er für „From Hell“ komponierte, ist ein abgrundtief düsteres, brütendes Meisterwerk, voller Brutalität und verschlingender Finsternis, ebenso kraftvoll wie „Bram Stoker’s Dracula“ oder „Sleepy Hollow“. Ihm fehlen zwar die osteuropäischen Elemente von Ersterem oder die Verspieltheit von Letzterem, das gleicht Jones allerdings mit einem erhöhten Ausmaß an Tragik und instrumenteller Kreativität aus. Hier erklingt das viktorianische London Jack the Rippers in all seiner Abgründigkeit. Besonders The Compass and the Ruler, eines meiner absoluten Lieblingsstücke, ist wirklich exemplarisch für die Genialität von Jones‘ Arbeit.

„Drag Me to Hell“, Christopher Young (2009)

Christopher Young ist einer der profiliertesten Horror-Komponisten überhaupt (und darüber hinaus kriminell unterschätzte). Zwar hat er bewiesen, dass er auch in anderen Genres, etwa Action oder Fantasy, extrem fähig ist, aber irgendwann kehrt er doch immer wieder zum Horror zurück. Neben den beiden Hellraisern hätte ich auch noch „Bless the Child“, „Urban Legend“ oder „The Exorcism of Emily Rose“ auf diese Liste setzen können, aber ich wollte nicht mehr als zwei Einträge pro Komponist, und so fiel die Wahl letztendlich nicht schwer, denn abseits der ersten beiden Hellraiser-Scores ist „Drag Me to Hell“ mein Favorit von Young. Auf gewisse Weise handelt es sich hier bei um ein Best of der oben genannten Scores, die orchestralen Stilmittel, derer sich Young bedient, kulminieren hier zu einem rundum gelungenen Gesamtpaket: Chorale Macht, gotische Wucht, aber auch ebenso verstörende wie schöne Melodien. Angereichert wird das Ganze durch osteuropäische bzw. Roma-Elemente, die natürlich einen essentiellen Teil der Story ausmachen. Man lausche allein dem ebenso schönen wie beängstigenden Hauptthema…

„The Wolfman“, Danny Elfman (2010)

Wie würde es klingen, wenn sich „Bram Stoker’s Dracula“ und „Sleepy Hollow“ paaren würden, um ein unheiliges Wechselbalg zu zeugen? Mit „The Wolfman“ liefert Danny Elfman die Antwort. Da Elfman sowohl ein Fan des Originals als auch des Dracula-Scores von Kilar war (und vermutlich immer noch ist), erwies sich das als ideale Gelegenheit. Unglücklicherweise kam es zu Komplikationen, Nachdrehs und Studioeinmischung, zwischenzeitlich überlegte das Studio, einen Synth/Rock-Score von „Underworld“-Komponist Paul Haslinger zu verwenden, was völlig daneben gewesen wäre. Schließlich kehrte man doch zu Elfmans Score zurück und ließ Orchestrier Conrad Pope noch zusätzliche Musik komponieren, um durch die neue Schnittfassung entstandene Lücken zu schließen. Strukturell ist „The Wolfman“ ähnlich aufgebaut wie „Sleepy Hollow“, es gibt ein Hauptthema, das den Score dominiert, und gerade in Sachen gotischer Finsternis und Brutalität steht „The Wolfman“ dem Score zum Burton-Film in nichts nach. Was ihn vom spirituellen Vorgänger unterscheidet, sind die osteuropäischen Stilmittel, derer sich Elfman bedient, speziell in der Streichersektion – ähnlich wie bei „Drag Me to Hell“ passt diese Färbung tatsächlich sehr gut zur Story. Hier wird der Einfluss Kilars überdeutlich. Trotz seiner diversen Mängel habe ich für „The Wolfman“ eine ziemliche Schwäche, da Joe Johnstons blutige Liebeserklärung an Universals klassischen Horror genau in einer Zeit kam, als das Kino von Twilight-CGI-Werwölfen bevölkert wurde – der Score hatte einen nicht zu unterschätzenden Anteil an dieser Schwäche.

„Evil Dead“, Roque Baños (2013)

Wo wir gerade von Remakes sprechen: Fede Álvarez‘ Remake des Sam-Raimi-Klassiker gehört definitiv zu den besseren, nicht zuletzt, weil es sich zwar der Grundprämisse des Originals bediente, aber den Fokus verschob. Zugleich ließ es mich auf den spanischen Komponisten Roque Baños aufmerksam werden, der sich für diesen Score der Tonalität und des Stils von Christopher Young bedient, die Schraube schierer, orchestraler Brutalität aber noch einmal deutlich anzieht. Das Ergebnis ist komplex, schwierig, verstörend und meisterhaft. Orchester, Chor und eine enervierende Sirene entfesseln hier einen Sturm an dämonischer Intensität, der seinesgleichen sucht – was angesichts der anderen Einträge auf dieser Liste als höchstes Lob zu verstehen ist. Baños konzentriert sich dabei in größerem Ausmaß auf orchestrale und chorale Texturen als auf Themen, als primäres „Motiv“ der dämonischen Präsenz fungiert die bereits erwähnte Sirene, während der emotionale Kern des Films ein klassischeres Klavierthema erhält, das die konstante dämonische Brutalität hin und wieder durchbricht.

„The Witch“, Mark Corven (2016)

Robert Eggers Debütfilm dürfte einer der am besten recherchierten Horror-Filme überhaupt sein – das erstreckt sich auch auf den Score von Mark Korven. Gerade im Kontext dieser Auflistung ist seine Präsenz vielleicht ein wenig überraschend, da es sich hierbei nicht um eine „klassischen“ Horror-Score im Stile eines Christopher Young oder Danny Elfman handelt. Stattdessen bediente sich Korven nur eines kleinen Orchesters und vieler für das Setting authentischer Instrumente, etwa der Nyckelharpa oder des Hurdy Gurdy. Auf jegliche elektronische oder synthetische Bearbeitung verzichtet er komplett. Das Ergebnis ist zweifelsohne fordernd, aber auch enorm wirkungsvoll. Die Hexen werden primär durch Dissonanzen repräsentiert, während Corven das religiöse Element der Story durch hymnische Choreinlagen darstellt. Die Herangehensweise ist mit ihrem Fokus auf verstörende Texturen der von Roque Baños bei „Evil Dead“ gar nicht so unähnlich, durch die Instrumentierung klingt das Endergebnis aber natürlich völlig anders. Und so unterschiedlich beide auf visueller Ebene auch sind, so wirkungsvoll sind sie doch in ihren jeweiligen Filmen.

„It: Chapter One“ & „It: Chapter Two“, Benjamin Wallfisch (2017 & 2018)

Der Brite Benjamin Wallfisch absolvierte im Verlauf der letzten zehn Jahre einen geradezu kometenhaften Aufstieg. In den 2000ern übernahm er primär das Orchestrieren für Komponisten wie Dario Marianelli, wurde dann zu einem Zimmer-Protegé und arbeitete mit dem Remote-Control-Chef an Scores wie „Dunkirk“, „Hidden Figures“ oder „Blade Runner 2049“ mit. Interessanterweise finde ich Wallfischs Soloarbeiten fast durchweg gelungener als seine Kollaborationen mit Zimmer, die meistens sehr elektronisch und Synth-lastig ausfallen. Für die Stephen-King-Verfilmungen „It: Chapter One“ und „It: Chapter Two”, beide von Andy Muschietti, wählte er hingegen einen orchestralen, aber sehr anspruchsvollen Weg; ähnlich wie Goldsmith oder Goldenthal bedient er sich dabei diverser atonaler Techniken der klassischen Musik des 20. Jahrhunderts, setzt aber auch sehr wirkungsvoll alte Kinderreime und unheimlich pervertierte Kinderlieder ein. Der Einsatz der menschlichen Stimme, zum Teil stark bearbeitet, ist in diesem Zusammenhang zentral und sorgt für die enervierendsten Momente der beiden Scores. Wallfisch gelingt es aber auch, die Freundschaft des „Loosers Club“ als Kernelement der Geschichte durch deutlich melodischeres Material wirkungsvoll darzustellen.

Stück der Woche: Learning to Ride

Ich bin kein Fan von Online-Rollenspielen, allerdings bin ich durch die diversen Fandoms immer wieder mit ihnen in Berührung gekommen, wenn auch ohne eines von ihnen tatsächlich zu spielen (von mal einem Nachmittag ausprobieren abgesehen). An „World of WarCraft“ etwa bin durch intensives Spielen von „WarCraft III“ nach wie vor interessiert, zumindest was die Musik angeht, auch einige der Begleitromane und -comics habe ich gelesen. „Star Wars: The Old Republic“ hatte immer einen gewissen wechselseitigen Einfluss auf den Rest der alten Legends-Kontinuität, auch hier habe ich primär Musik und Begleitmedien konsumiert. Und dann gibt es da noch „The Lord of the Rings Online“…

Mit diesem MMORPG hatte ich tatsächlich so gut wie keinen Kontakt, obwohl es wahrscheinlich die größte und umfangreichste Adaption von Tolkiens Werk außerhalb der Jackson-Filme und allem, was mit ihnen zusammenhängt (Spiele, Tabletop etc.) darstellt. Was Begleitmedien angeht, findet sich bei „The Lord of the Rings Online“ deutlich weniger Material als bei den beiden oben genannten Spielen, aber es gibt immerhin Soundtracks. Nun sind auch diesbezüglich die Jackson-Filme, bzw. Howard Shores Scores der absolute Platzhirsch – und das völlig zurecht. Da vergisst man dann ganz gerne, dass es noch andere Vertonungen von Tolkiens Werk gibt, von Leonard Rosenmans Score zum Bakshi-Film über die Musik der beiden Rankin/Bass-Produktionen bis hin zu den beiden Sinfonien „The Lord of the Rings“ und „Return to Middle-earth“ des niederländischen Komponisten Johan de Meij und den Soundtracks diverser Spiele wie „War in the North“ oder „Shadows of Mordor“ samt Sequel (beide basieren technisch gesehen auf den Jackson-Filmen, bedienen sich aber weder Shores Musik noch desselben Kompositionsstils) oder eben „The Lord of the Rings Online“. Diverse Komponisten waren für das MMORPG tätig, den größten Anteil zur Musik des Spiels und der diversen Erweiterungen lieferte allerdings der Amerikaner Chance Thomas. Zwei Alben zu „The Lord of the Rings Online“ finden sich auf Amazon zum Download, diese habe ich mir vor nicht allzu langer Zeit zu Gemüte geführt. Das Urteil fällt positiv aus: Thomas‘ Kompositionen verfolgen einen durchaus ähnlichen Ansatz wie Shore, primär was die Mischung aus Orchester und spezifisch keltischer Instrumentierung angeht, ohne dabei allerdings wie plumpe Kopien zu klingen. Stattdessen etabliert Thomas einen eigenen Tonfall für Mittelerde; seine Musik eignet sich zum Beispiel hervorragend als Hintergrund für die Lektüre der neuen, von Carl F. Hostetter im Stil der „History of Middle-earth“ herausgegebenen Tolkien-Materialsammlung „The Nature of Middle-earth“.

Das Stück Learning to Ride ist ein sehr schönes Beispiel für die oben beschriebenen Eigenschaften, zu hören sind unter anderem ein Dudelsack, keltische Fiedeln und Flöten sowie Trommeln, die sehr an das Auenlandmaterial Howard Shores erinnern. Ohne größere Recherche betrieben zu haben und lediglich anhand des Titels und der Klangfarben vermute ich, dass dieser Track in irgendeiner Weise mit Rohan in Verbindung steht – wobei die Rohirrim natürlich bei weitem nicht das einzige Volk in Mittelerde sind, bei dem man Reiten lernen könnte. Das alles ist allerdings nicht der eigentliche Grund, weshalb ich Learning to Ride zum Stück der Woche gemacht habe, ebenso wenig wie der Umstand, dass es mir mit seiner positiven Natur sehr gefällt. Am Ende hat sich nämlich ein Franchise-fremdes Leitmotiv eingeschlichen: Ab 2:32 setzt eine aufsteigende Tonfolge ein, die zwar die bisherige Instrumentierung nahtlos fortsetzt, aber doch sehr nach der chromatischen Akkordfolge des James-Bond-Themas klingt. Ich finde Derartiges immer ziemlich amüsant. Zugegebenermaßen ist das wohl mit ziemlicher Sicherheit Zufall, die chromatische Akkordfolge ist doch ein sehr simples Motiv, das immer mal wieder auftaucht – vielleicht ist Chance Thomas aber auch Bond-Fan und hat eine kleine Hommage eingebaut. Nebenbei, auch in Bond-Filmen passiert so etwas immer mal wieder. Ein besonders amüsantes „Fremd-Motiv“ findet sich zum Beispiel im Track Yo Yo Fight & Death Of Vijay in John Barrys „Octopussy“ – bei 1:16 hört man doch sehr deutlich Kylo Rens Thema heraus. Natürlich sieht die Situation hier ein wenig anders aus, da „Octopussy“ mehrere Jahrzehnte vor „The Force Awakens“ entstand. Auch Williams könnte natürlich Bond-Fan sein, aber wahrscheinlich ist es purer Zufall, denn auch Kylo Rens Thema ist eine relativ simple, in diesem Fall abfallende Notenfolge, deren Genesis eher auf den Imperialen Marsch zurückzuführen ist. Und ich meine mich zu erinnern, dass das Motiv auch in einem der Indiana-Jones-Filme auftaucht…

Wie dem auch sei, diesen thematisch sowohl mit Mittelerde als auch mit Bond verknüpften Artikel will ich nebenbei noch gleich nutzen, um die eine oder andere Neuigkeit zu kommentieren. In dieser Woche wurde bekanntgegeben, dass sich Amazon offenbar in Verhandlungen mit Howard Shore bzgl. der Scores zur angekündigten LotR-Serie befindet – eine Entwicklung, die ich definitiv begrüße. Zwar haben Komponisten wie Chance Thomas durchaus bewiesen, dass auch jemand anders als Shore Mittelerde gut vertonen kann, aber wenn es noch mehr Mittelerde-Musik von Shore gibt, bin ich der erste, der sein Geld Amazon in den Rachen wirft. Noch ist natürlich nichts final entschieden, weswegen die Vorfreude erst einmal zurückgehalten werden sollte. Allerdings schwirren auch Gerüchte durchs Internet, Amazon wolle Shore Serien-Veteran Bear McReary an die Seite stellen – allein diese Idee macht mir schon den Mund wässrig. Sollte das tatsächlich zutreffen (und das ist ein sehr unsicheres sollte), wäre das grandios.

Und dann wäre da noch „No Time to Die“: Hans Zimmers Soundtrack erscheint am 1. Oktober, einen Tag nach dem deutschen Kinostart. Erste Stimmen zum Score klingen durchaus positiv, entgegen seiner üblichen Gewohnheit scheint sich Zimmer dieses Mal tatsächlich dem Sound des Franchise angepasst und sich stilistisch an John Barry und David Arnold orientiert zu haben. Drei Tracks, Gun Barrel, Matera und Shouldn’t We Get To Know Each Other First finden sich bereits auf Youtube. Alle drei sind relativ kurz und nicht unbedingt repräsentativ, klingen aber doch durchaus vielversprechend – man achte auf das Zitat des Songs We Have All the Time in the World aus „On Her Majesty’s Secret Service“ in Matera oder die unterhaltsame Variation des Bond-Themas in der zweiten Hälfte von Shouldn’t We Get To Know Each Other First. Nachdem Zimmers „Dune“ mich nicht unbedingt vom Hocker gehauen hat, bin ich bei „No Time to Die“ tatsächlich vorsichtig optimistisch bis gespannt.

Stück der Woche: Smaug

Als ob die Dominanz des Drachens über das letzte Drittel des Scores von „The Desolation of Smaug“ nicht schon deutlich genug wäre, ist der Track, der auf The Hunters folgt, auch noch nach ihm benannt – durchaus zurecht, denn er besteht fast ausschließlich aus Variationen der Bestandteile des Drachen-Themas. Fast sofort setzt das Drachenkrankheits-Ostinato ein, weniger schleichend als zuvor, dafür aggressiver. Subtiler kommt dafür der Einsatz der B-Phrase des Smaug-Themas daher, der ab 0:27 über das Ostinato gespielt wird. Der erneute Einsatz der B-Phrase bei 0:54 bringt die ostasiatischen Percussions zurück – das Thema steigt auf und nimmt an Intensität zu. Ab 1:21 ist auch die A-Phrase wieder zu hören, gespielt von Streichern und Blechbläsern, die ihr einen „konventionelleren“ Klang verleihen und von der Brutalität des Drachen künden. Eine unvollendete Einspielung des Erebor-Themas schaltet sich bei 1:34 dazwischen, es folgen einige zwergisch klingende Streicher- und Blechbläserfiguren, die jedoch rasch wieder absterben. Bei 2:24 scheint eine Anspielung auf das Düsterwaldthema zu erklingen, die storytechnisch allerdings nicht wirklich Sinn ergibt und wohl eher aus der Ähnlichkeit zwischen dem Düsterwaldthema und Smaugs Thema resultiert. Die B-Phrase des Drachenthemas kommt bei 2:33 mit voller Wucht, begleitet von treibenden Trommeln zurück und schwillt regelrecht an, als Smaug Bilbo sich in all seiner Pracht präsentiert.

Es folgt eine interessante Holzbläserfigur, die sehr luftig und flatterhaft daherkommt und die an die klassische musikalische Repräsentation eines Vogels erinnert. Diese spezifische Stelle findet sich nicht im Film, ich könnte mir aber vorstellen, dass es sich dabei um eine sehr subtile Anspielung auf den Roman handelt. Bei Tolkien überhört eine Drossel, wie Bilbo den Zwergen von der kahlen Stelle auf Smaugs Bauch erzählt und bringt diese Information zu Bard – hätte man dieses Handlungselement übernommen, hätte ich mir gut vorstellen können, dass die Drossel derartig repräsentiert wird. Dieser Moment der Leichtigkeit wird jedoch sofort von tiefen, finsteren Blechbläsern verdrängt. Bei 3:22 erklingt schließlich das Thema des Arkensteins, als Bilbo ihn eher zufällig findet. Das Drachenkrankheits-Ostinato kehrt bei 4:05 zurück als Smaug prophezeit, wie Thorin wohl auf den Arkenstein reagieren wird. Nebenbei bemerkt ist es insgesamt recht schwer, die Musik hier zuzuordnen, weil sie gerade in diesen Szenen sehr zerstückelt wirkt und oft nicht mit dem Track übereinstimmt – entweder, weil noch kurz vor Kinostart ungeschnitten wurde, oder um ein besseres Hörererlebnis für das Album zu schaffen.

Bei 4:26 kehrt die B-Phrase ein weiteres Mal zurück, wieder einmal heimtückisch schlängelnd und weiterhin begleitet vom Drachenkrankheits-Ostinato. Ein mögliches Bündnis mit Sauron wird bei 4:32 durch einen knappen Gastauftritt von Mordors absteigender Terz musikalisch angedeutet, während eine kurze, einschneidende Einspielung der ersten beiden Noten der A-Phrase des Smaug-Themas bei 4:34 von Smaugs labilem Gemüt und seiner schnellen Erregbarkeit künden. Genau diese Nuancen sind es, die Shores Musik so ergiebig und faszinierend machen. Smaugs Thema köchelt bis zur Fünfminutenmarke weiter vor sich hin, bis sich die A-Phrase schließlich mit voller Wucht entlädt. Darauf folgen aleatorische, absichtlich verstimmte Streicher, die einen verstörenden Klangteppich schaffen. Die verstimmten Streicher kommen für Smaugs Thema sowohl hier als auch in „The Battle of the Five Armies“ immer wieder vor und gehen wohl auf Orchestrierer und Dirigent Conrad Pope zurück, dies wird jedenfalls im Bonusmaterial gezeigt. Ab 6:05 ist eine Erweiterung des Smaug-Materials zu hören, die abermals die Brutalität des Drachen darstellt und am Ende sogar vom Chor unterstützt wird.

Siehe auch:
The Quest for Erebor
Wilderland
The House of Beorn
Flies and Spiders
The Woodland Realm
Feast of Starlight
The Forest River
Bard, a Man From Lake-Town
Protector of the Common Folk
Durin’s Folk
A Spell of Concealment
On the Doorstep
The Courage of Hobbits
Kingsfoil
The Hunters