Lovecrafts Vermächtnis: Alhazred – Author of the Necronomicon


Von allen menschlichen Figuren, die H. P. Lovecraft für seine Geschichten erschaffen hat, ist Abdul Alhazred zweifelsohne die ikonischste, aber auch die mysteriöseste. Der legendäre Autor des Necronomicons fungiert dabei nie als handelnde Figur, sondern gehört immer zum Hintergrund. Erstmals erwähnt wird er in der Geschichte „The Nameless City“ (1921), als Autor des Necronomicons wird er in „The Hound“ (1922) identifiziert – besagtes Grimoire taucht dort auch zum ersten Mal auf. Zumindestens namentlich wird er in vielen weiteren Geschichten Lovecrafts genannt, meistens im Kontext des Necronomicons, selten wird allerdings genauer auf ihn oder seine Tätigkeiten eingegangen. Am meisten erfährt man über Abdul Alhazred in „History of the Necronomicon” (1927 verfasst, allerdings erst über zehn Jahr später posthum herausgegeben) – diesen Abriss schrieb Lovecraft nicht zuletzt für sich selbst, um bei seinen Referenzen konsistent zu bleiben. Hier erfahren wir, dass es sich beim Autor des Necronomicons um einen verrückten Poeten aus Sanaa im Jemen handelt, der um das Jahr 700 herum lebte, u.a. in Damaskus aktiv war und das Al Azif (arabischer Name des Necronomicon) verfasste, bevor er im Jahr 738 von den Klauen einer unsichtbaren Kreatur auf offener Straße und im vollen Tageslicht zerrissen wurde. Statt zu Allah betete er zu Yog-Sothoth und Cthulhu.

Es ist wohl müßig zu erwähnen, dass Abdul Alhzared die Phantasie vieler spätere Autoren des „Cthulhu-Mythos“ anregte. Einer davon ist Donald Tyson, der bereits 2004 seine Version des Necronomicon veröffentlichte und 2006 mit der „Autobiografie“ Abdul Alhazreds gewissermaßen daran anknüpfte. „Alhazred – Author of the Necronomicon“ ist ein ordentlicher Wälzer mit über 600 Seiten und, im Gegensatz zu Tysons „Necronomicon – The Wanderings of Alhazred“, ein echter Roman und nicht nur ein verkappter Rollenspiel-Quellenband. Leider ist er nicht unbedingt überzeugender, im Gegenteil.

Die Handlung beginnt mit einem neunzehnjährigen Abdul Alhazred am Hof des jemenitischen Herrschers. Der spätere „verrückte Araber“ hat eine Affäre mit der Tochter besagten Königs, was ihn teuer zu stehen kommt: Nicht nur wird er im Gesicht verstümmelt, kastriert wird er auch, um anschließend in die Wüste verbannt zu werden. Dort wird er von einem Stamm von Ghulen – diese sind unter anderem bekannt aus der Lovecraft-Geschichte „Pickman’s Model“ – praktisch adoptiert. Eine Zeit lang zieht er mit dem Clan umher, bandelt mit einer Dschinn-Frau an, gerät in Kontakt mit Nyarlathotep und landet schließlich in Irem, der Stadt der Säulen (ebenfalls immer wieder bei Lovecraft thematisiert), wo er der Hexe I’thakuah (die namentlich an Ithaqua, einen Beitrag August Derleths zum „Cthulhu-Mythos“ erinnert) begegnet und Zeuge eines Konflikts zwischen den Großen Alten und den „Elder Things“ wird. Auch andere Mythos-Entitäten werden immer wieder zumindest namentlich eingestreut, seien es Cthulhu, Shub-Niggurath, Yig oder Tsathoggua. Alhazred begibt sich schließlich auf eine ausgedehnte Reise gen Alexandria. Auf dem Weg bekommt eine weitere Gefährtin in Gestalt von Martala, die seine Dienerin wird und ihn beim Vorhaben, verbotenes Wissen zu erlangen, unterstützt. Weitere Reisen führen schließlich nach Babylon und Damaskus (wo sich Alhazred auch laut Lovecraft herumgetrieben hat), um mit einem ihm und anderen Nekromanten feindlich gesinnten Kalifen abzurechnen.

Hier komprimiert mag sich Tysons-Roman relativ Mythos-lastig anhören, aber das täuscht – tatsächlich sind die Verweise auf die Lovecraft’schen Inhalte nicht nur relativ dünn und sparsam gesät, sie spielen auch in der Handlung meistens keine große Rolle. Grundsätzlich ist es ja kein schlechter Ansatz, Elemente des „Cthulhu-Mythos“ bedacht und nicht zu verschwenderisch einzusetzen. Hier geht es aber um den Autor des Necronomicon, da hätte ich schon ein wenig… mehr erwartet. Tyson nimmt sich nicht nur extrem viel Zeit, das Necronomicon und der „verrückte Araber“ Lovecrafts scheinen nach über 600 Seiten immer noch sehr weit entfernt zu sein; es wirkt, als habe Tyson bereits Fortsetzungen im Kopf, um schließlich dort anzukommen, wo Alhazreds Geschichte in „History of the Necronomicon“ endet. Mehr noch, trotz einiger doch ziemlich expliziter Szenen kann man bei „Alhazred – Author of the Necronomicon“ nur bedingt von Horror, geschweige denn von kosmischem Horror sprechen, Dark Fantasy ist wahrscheinlich eine passendere Genre-Bezeichnung. Trotz der eindeutigen Lovecraft-Bezüge gelingt es Tyson leider nie, tatsächlichen kosmischen Horror zu kanalisieren.

Noch problematischer ist der Umstand, dass Tyson keinen geeigneten „Ersatz“ (Action, Suspense, etc.) für den kosmischen Horror bietet, der in einem Werk über Abdul Alhazred zu finden sein sollte. Zudem kann der Roman auch stilistisch nicht überzeugen. Tyson macht keine Anstalten, Lovecrafts Stil in irgendeiner Form zu imitieren, tatsächlich ist Tysons Prosa recht leicht und unkompliziert lesbar, aber leider weder fesselnd noch ansprechend. Selbst die brutaleren und expliziteren Szenen können ihre Wirkung nicht so recht entfalten und wirken profan. Wie bereits erwähnt ist der Roman eigentlich weder schwer zu lesen, noch stilistisch besonders anspruchsvoll, ich musste mich aber dennoch immer wieder zwingen, weiterzumachen, weil die Handlung ziemlich mäandert und die, zugegeben, durchaus interessanten Ideen, die präsentiert werden, sich in Banalitäten verlieren. Das mag auch an der Erzählperspektive liegen: „Alhazred – Author of the Necronomicon“ ist als Autobiographie (und damit eventuell als Teil besagten Grimoires) konzipiert und der Titelheld fungiert als Ich-Erzähler. Dennoch wirkt Alhazred merkwürdig distanziert, trotz dieser Perspektive gelingt es Tyson nur selten, den Leser wirklich an den Gedanken und dem Innenleben der Figur teilhaben zu lassen.

Die restlichen Figuren bleiben ebenfalls blass und wenig nachvollziehbar; Alhazreds Gehilfin Martala ist wohl noch die interessanteste. Leider gelingt es Tyson auch nicht, die Lovecraft’schen Entitäten, die tatsächlich auftauchen, richtig in Szene zu setzen. Wenn etwa Nyarlathotep immer mal wieder vorbeischaut, wirkt er nie fremdartig und verstörend, sondern gibt bestenfalls stereotype Schurkendialoge von sich. Angesichts der Tatsache, dass der führende Lovecraft-Experte S. T. Joshi sehr lobende Worte für Tysons Roman übrig hatte, ist das Ergebnis leider noch einmal enttäuschender.

Fazit: Gute Ideen, enttäuschende Umsetzung – von einer „Autobiographie“ Abdul Alhazreds erwartet man mehr kosmischen Horror. Leider gelingt es Donald Tyson nicht einmal Ansatzweise, das Potential des verrückten Arabers auszuschöpfen.

Bildquelle

Siehe auch:
Lovecrafts Vermächtnis: Necronomicon – The Wanderings of Alhazred
The Rise, Fall, and Rise of the Cthulhu Mythos

Lovecrafts Vermächtnis: Necronomicon – The Wanderings of Alhazred

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Fiktive legendäre Bücher haben die Tendenz, irgendwann Realität zu werden, sei es „Das Buch Nod“ aus dem Pen&Paper-Rollenspiel „Vampire: The Masquerade“, das als Quellenband bzw. Requisit Anfang der 90er erschien (von diversen Nachfolgewerken wie den „Offenbarungen der dunklen Mutter“ gar nicht erst zu sprechen) oder „Der König in Gelb“ aus Robert W. Chambers gleichnamiger Kurzgeschichtensammlung (der Autor Thomas Ryng hat sich daran gemacht, das Theaterstück zu schreiben; es kann erworben werden). Für das Necronomicon gilt das mehr als für jedes andere dieser real gewordenen Werke, nicht zuletzt, weil genug Leser dachten, beim von H. P. Lovecraft erfundenen Grimoire handle es sich um ein tatsächliches schwarzmagisches Werk. Lovecraft betonte mehrmals, dass das Necronomicon ausschließlich seiner Fantasie entstamme, was dieser Einstellung allerdings kaum einen Dämpfer verpasste. Anders als bei den oben erwähnten Werken finden sich Bücher, die von sich behaupten, das „echte“ Necronomicon zu sein. Die markantesten sind das sog. Simon-Necronomicon sowie das „Buch der toten Namen“ – über die Glaubwürdigkeit dieser beiden Machwerke bzw. den Mangel derselbigen habe ich mich in einem Artikel bereits ausgiebig geäußert.

Lovecraft selbst spielte durchaus mit dem Gedanken, das Necronomicon zu verfassen, verwarf diese Idee allerdings schnell wieder. Dafür hatte er zwei Gründe. Der erste ist sehr praktischer Natur: In „The Dunwich Horror“ zitiert Lovecraft eine kurze Passage aus dem Grimoire, die von Seite 751 stammt – demzufolge müsste es wohl mindestens um die 800 Seiten haben, was ihm als Unterfangen deutlich zu aufwendig war. Der zweite hängt mit der erzählerischen Wirkung zusammen: Über ein Buch zu schreiben, das den Leser in den Wahnsinn treiben kann, ist eine Sache, aber selbst ein solches Werk zu verfassen noch einmal eine ganz andere. Lovecraft fürchtete, dass das Ergebnis nur enttäuschen könne. Was sich ein Leser in seiner Fantasie ausmalt, ist letztendlich meistens stärker als das, was er schwarz auf weiß gedruckt vorfindet. Ein Autor hat diese Aufgabe allerdings auf sich genommen: Donald Tyson.

Bei Tyson handelt es sich um einen kanadischen Schriftsteller, der sich durchaus ernsthaft mit Okkultismus, Magick und ähnlichen Formen der Spiritualität beschäftigt – Dingen also, die der Skeptiker Lovecraft mit Sicherheit abgelehnt hätte (und ich muss zugeben, ich bin da durchaus geneigt, ihm zuzustimmen). Tatsächlich hat Tyson bereits mehrere Veröffentlichungen in diesem Bereich vorzuweisen. „Necronomicon – The Wanderings of Alhazred“ behauptet allerdings, anders als das Simon-Necronomicon oder das „Buch der toten Namen“, nicht von sich, das echte Werk zu sein, sondern ist ganz offensichtlich Fiktion. Darüber hinaus hat sich Tyson, anders als die Autoren der beiden oben genannten Werke, tatsächlich intensiv mit Lovecrafts Werk beschäftigt, denn seine Version repräsentiert den tatsächlichen „Lovecraft-Mythos“, um S. T. Joshis Bezeichnung zu verwenden, und nicht den „Derleth-Mythos“, wie es bei den anderen beiden Werken der Fall ist.

Ansonsten lässt sich Tysons Necronomicon am ehesten als Reiseführer bzw. Reisebericht durch den Mythos beschreiben – der Untertitel „The Wanderings of Alhazred“ ist also durchaus gerechtfertigt. Im Grunde berichtet Abdul Alhazred, besagter legendärer Autor des Necronomicons, von seinen Reisen, zum Teil zu realen Orten, zum Teil zu diversen Mythos-Schauplätzen wie R’yleh oder dem Plateau von Leng. Man darf hier allerdings keinen wirklich durchgehenden Handlungsstrang erwarten, auch ein Spannungsbogen fehlt völlig. Ein wirklicher Roman ist es nicht, aber ebenso wenig handelt es sich um ein fiktives Grimoire, auch wenn Tyson hin und wieder diverse Siegel zeigt oder Rituale erwähnt. Hier besteht durchaus die Möglichkeit, dass er „echte“ okkulte Inhalte integriert hat – um das zu bewerten fehlt es mir in diesem Bereich an Expertise.

Immerhin, die Lovecraft’schen Inhalte stimmen soweit und decken sich mit den Inhalten von HPLs Geschichten – es findet sich sogar ein cleverer Seitenhieb auf die falsche Interpretation des „Derleth-Mythos“. Zwar mischt Tyson immer wieder Elemente anderer Mythologien und Glaubenssysteme ein, etwa altägyptische, jüdische oder christliche, aber er bedient sich tatsächlich ausschließlich des „Lovecraft-Mythos“. Populäre Hinzufügungen des „Cthulhu-Mythos“ von anderen Autoren wie etwa Tsathoggua (von Clark Ashton Smith), Hastur/der König in Gelb (von Robert W. Chambers bzw. August Derleth) oder Glaaki (von Ramsay Campbell), finden keine Erwähnung. Die üblichen Lovecraft-Verdächtigen, von Dagon über Cthulhu bis hin zu Azathoth, sind allerdings prominent vertreten.

Obwohl Tysons Versuch, das Necronomicon zu konstruieren, deutlich besser gelungen ist, als es bei den beiden anderen der Fall war, bewahrheitet sich doch letztendlich Lovecrafts Befürchtung: Für ein mystisches Werk, das den Leser ob seiner Enthüllungen und Grauen in den Wahnsinn treibt, ist „Necronomicon: The Wanderings of Alhazred“ recht trocken. Zu deskriptiv fällt die Sprache letzten Endes aus; von einem fiktiven Autor, der den Spitznamen „the Mad Arab“ trägt, erwartet man doch ein wenig mehr. Derartig katalogisiert funktioniert der Mythos schlicht nicht mehr so gut – das hat sich bereits bei Derleth und anderen Autoren gezeigt, die zu dem noch versuchten, die Lovecrafts Götter und Entitäten diversen Elementen zuzuordnen oder sie im Stil der griechischen und ägyptischen Götter in Stammbäumen zu sortieren. Von Derartigem sieht Tyson zwar glücklicherweise ab, aber die Wirkung ist dennoch ähnlich. Die Lektüre gleicht am ehesten der eines Quellenbandes des RPGs „Call of Cthulhu“ (hierzulande bei Pegasus unter dem Titel „Cthulhu“ erschienen) und gerade hierfür würde Tysons Werke auch sicher sehr gut als Material anbieten, sei es um weitere Necronomicon-Zitat unterzubringen oder sich für Plots zu inspirieren.

Fazit: Von den Werken, die von sich behaupten, das Necronomicon zu sein, ist Donald Tysons „Necronomicon – The Wanderings of Alhazred“, das immerhin nicht den Anspruch erhebt, authentisch zu sein, zwar mit Abstand das Gelungenste, wer aber hofft, eine gute kosmische Horrorgeschichte zu finden, wird wohl enttäuscht werden. Wer hingegen zusätzliches Material für sein Cthulhu-Rollenspiel braucht, kann bedenkenlos zugreifen.

Bildquelle

Siehe auch:
Lovecrafts Vermächtnis: Das Necronomicon
Lovecrafts Vermächtnis: Der Cthulhu-Mythos
The Rise, Fall, and Rise of the Cthulhu Mythos