
Ich hatte es ja schon angekündigt: „X-Men: Days of Future Past“ ist, vor allem Hinblick auf die anderen Filme des Franchise, interessant und kompliziert genug, um eine ausführliche Analyse nicht nur zu rechtfertigen, der Film fordert sie geradezu. Der Fokus liegt dabei nicht nur auf dem Streifen selbst, sondern vor allem darauf, wie er sich zur „Verwandschaft“ verhält.
Dieser Artikel ist zweigeteilt, die erste Hälfte beschäftigt sich mit dem Verhältnis des Films zur gleichnamigen Comicvorlage, während die zweite Hälfte die Kontinuität des X-Men-Filmuniversums und die Auswirkungen, die „Days of Future Past“ darauf hat, diskutiert. Ich muss wohl nicht extra erwähnen, dass ich auf Spoiler keine Rücksicht nehmen werde, wer den Film also noch nicht gesehen hat und nicht vorher wissen möchte, wie er endet, sollte stattdessen meine spoilerfreie Filmkritik lesen.
Vorlage ist Vergangenheit: Film und Comic
Die meisten X-Men-Filme basieren zumindest teilweise auf genau bestimmbaren Comicvorlagen, allerdings handelt es sich zumeist um eher lose Adaptionen oder sogar Vermischungen einzelner Handlungsstränge. „X-Men: The Last Stand“ basiert zum Beispiel auf der berühmt-berüchtigten Dark-Phoenix-Saga, während der Plot um das Heilmittel aus Joss Whedons (ja, der Joss Whedon) X-Men-Run stammt. Sowohl „X-Men: First Class“ als auch „X-Men: Days of Future Past“ gehen diesbezüglich noch einen Schritt weiter und sind sogar nach der jeweiligen Comicvorlage benannte, auf der sie allerdings abermals nur lose basieren.

Das berühmt gewordene Cover von The Uncanny X-Men 141
Die in diesem Fall titelgebende Geschichte stammt aus dem Jahr 1981, wurde von Chris Claremont geschrieben und von John Byrne gezeichnet (Claremont/Byrne gilt als DAS X-Men-Dream-Team, zusammen haben sie einige der wichtigsten und einflussreichsten X-Men-Geschichten zu Papier gebracht, und ohne sie wären die Mutanten heute mit Sicherheit nicht so populär, wie sie es sind). Es handelt sich dabei interessanterweise weder um eine ausgekoppelte Miniserie oder Graphic Novel (wie es etwa bei „God Loves, Man Kills“, der Vorlage für „X2: X-Men United“, der Fall war), noch um einen größeren Handlungsbogen wie bei den oben erwähnten Beispielen. Die Geschichte zieht sich nur über zwei Hefte, The Uncanny X-Men 141 und 142, und fühlt sich beim Lesen ehrlich gesagt auch nicht so „groß“ an, wie man das vielleicht erwarten würde. Dennoch ist die Geschichte nicht nur enorm beliebt, sie hatte auch große Auswirkungen. Die düstere X-Men-Zukunft gehört zu den beliebtesten alternativen Marvel-Settings, es gibt mehrere Comics, die es wieder aufgreifen (etwa „Days of Future Present“ oder „Days of Future Yet To Come“) und auch in den diversen X-Men-Zeichentrickserien wurde sie mal mehr, mal weniger Vorlagengetreu umgesetzt.
Der Film adaptiert vor allem die Grundidee des Comics, passt diese dem Film-Universum an, erweitert und vergrößert sie. Besagte Grundidee lässt sich wie folgt zusammenfassen: In einer dystopischen Zukunft werden Mutanten von Sentinels gejagt und stehen kurz vor der Auslöschung. Um zu verhindern, dass dies geschieht, wird der Geist eines X-Man in seinen früheren Körper geschickt, um Mystique daran zu hindern, eine bestimmte politische Figur zu eliminieren, deren Tod die düstere Zukunft ausgelöst hat.
So weit so gut, alles andere unterscheidet sich allerdings fundamental vom Comic. Das beginnt schon bei der Auswahl der Figuren und der Zeitebene. Im Comic ist es Kitty Pryde, die vom Jahr 2013 aus in ihren Körper des Jahres 1981 geschickt wird, und zwar von Rachel Summers, der in dieser Zeitlinie existierenden Tochter von Scott Summers und Jean Grey. Im Filmuniversum funktioniert das nicht, da „Days of Future Past“ auch als Sequel zu „X-Men: First Class“ fungieren sollte und hauptsächlich im Jahr 1973 spielt, in welchem Film-Kitty noch gar nicht geboren ist. Aus diesem Grund wählte man Wolverine und gab Kitty dafür die Rolle von Rachel Summers. Die Begründung, weshalb es Wolverine und nicht Xavier ist, der zurückgeschickt wird, ist zwar ein wenig fadenscheinig, aber was soll’s, Wolverine ist nun einmal ein Fanliebling.
Die Gestaltung der Zukunft sowie die Konstellation der X-Men und der Bruderschaft unterscheiden sich ebenfalls stark von der Vorlage. Im Comic sind die Mutanten in einem Internierungscamp und tragen Halsbänder, die ihre Kräfte ausschalten. Im Film kämpfen sie, sind aber letztendlich unweigerlich dem Untergang geweiht, da die Sentinels hier nicht nur große fiese Roboter sind, sondern sich an alle Mutantenkräfte anpassen und diese sogar reproduzieren können.

Ein Comic-Sentinel
Die Zukunfts-X-Men im Comic sind nicht mehr sehr zahlreich, zu diesen gehören Magneto, Shadowcat, Colossus, Franklin Richards (der Sohn von Reed Richards und Sue Storm) und Rachel Summers. Im Film dagegen kämpft, mit Ausnahme von Beast, fast alles, was in „The Last Stand“ nicht gestorben ist, zusätzlich zu neuen Gesichtern wie Bishop oder Blink. In den 70ern dagegen sind sowohl die X-Men als auch die Bruderschaft zu diesem Zeitpunkt nicht existent, Magneto sitzt mal wieder im Plastikgefängnis und Mystique arbeitet auf eigene Faust, während die X-Men praktisch nur aus Xavier, Beast und Wolverine bestehen. Im Comic sind beide Teams gut besetzt und aktiv.
Auch sonst unterscheidet sich der Handlungsablauf im Film stark von der Vorlage, wo es nicht Bolivar Trask ist, den Mystique umbringen will, sondern ein gewisser Senator Kelly – wir erinnern uns dunkel an die beiden Singer-Filme. Nebenbei bemerkt, in den Comics ist Trask nicht kleinwüchsig, aber ich denke, niemand außer den Hardcore-Puristen stört das, wenn Peter Dinklage die Rolle spielt. Viel interessanter ist, dass in „The Last Stand“ ebenfalls ein Bolivar Trask auftaucht (nicht kleinwüchsig, dafür aber Afroamerikaner, gespielt von Bill Duke), der mit den Sentinels allerdings nichts zu tun hat. Wahrscheinlich sollte man das als Zufall werten. Im Comic fehlt ebenfalls der ganze weltpolitische Überbau mit Nixon, JFK etc., ebenso wie Magneto, der lediglich in der Zukunftsrahmenhandlung auftaucht.

Bolivar Trask in den Comics
Die vielleicht gravierendste Änderung findet sich allerdings am Ende: Für die Zukunfts-X-Men im Comic gibt es kein Happy-End; wie sich die Zukunft nach dem gescheiterten Attentat verändert, bleibt offen, während wir im Film eine kurze Szene zu sehen bekommen, in welcher noch alle X-Men auftauchen, die bisher noch nicht zu sehen waren, mit der Ausnahme von Nightcrawler und Angel.
Im Großen und Ganzen muss ich sagen, dass mir die Umsetzung des Grundplots im Film besser gefällt als im Comic. Die Idee ist heute noch mehr als damals alles andere als revolutionär, insbesondere, da es seit dem erscheinen der beiden Hefte vier Terminator-Filme gab, die einem ähnlichen Handlungsmuster folgen, aber die Geschichte hat zweifelsohne viel Potential, das in der Vorlage in meinen Augen bei Weitem nicht ausgeschöpft wird.
Der Gordische Knoten: Die Kontinuität der X-Men-Filme
Die X-Men-Filme sind nicht gerade ein Musterbeispiel an stimmiger Kontinuität. Während die Trilogie noch halbwegs in sich konsistent ist, fangen die Probleme bei „X-Men Origins: Wolverine“ bereits an, wirklich problematisch wird es allerdings mit „X-Men: First Class“, da er sich einerseits an den bisherigen Filmen zu orientieren scheint (Hinweis hierauf sind Mystiques Aussehen, die Cameos von Hugh Jackman und Rebecca Romjin, die Reproduktion der Konzentrationslagerszene u.ä.), andererseits gibt es aber einige massive Kontinuitätsschnitzer. Selbst wenn man annimmt, dass „First Class“ nur die beiden Singer-Filme akzeptiert, gibt es einige Probleme, da Xavier in „X-Men“ beispielsweise behauptet, er hätte Magneto mit 17 Jahren kennen gelernt und dieser hätte ihm dabei geholfen, Cerebro zu bauen. In „First Class“ ist beides nicht der Fall, Xavier ist wesentlich älter, als er Magneto kennen lernt und Cerebro – zumindest der Prototyp – wurde von Hank McKoy gebaut. Ebenso ist Xavier in „X-Men“ überrascht, dass Magneto durch seinen Helm gegen Telepathie immun ist, während er in „First Class“ dabei war, als Magneto den Helm erwarb. Auch scheint es merkwürdig, dass Xavier und Mystique zusammen aufgewachsen sind, wo sie ihn in „X-Men“ doch bereitwillig vergiftet.
Manche der Kontinuitätsprobleme werden durch „X-Men: Days of Future Past“ gelöst, andere werden ignoriert (etwa der 17-jährige Xavier). Wer sich in der Film-Kontinuität allerdings nicht gut auskennt und mit Zeitreisen Probleme hat, der könnte nach der Sichtung von „Days of Future Past“ etwas verwirrt sein, denn Singers Film tut dasselbe wie J. J. Abrams‘ „Star Trek“: Durch Wolverines Reise in die Vergangenheit wird eine neue Zeitlinie gestartet.
Betrachten wir zuerst einmal, wo wir zu Beginn des Films stehen. Die dystopische Zukunft gehört zur ursprünglichen Zeitlinie, in der mit einer Ausnahme alle bisherigen X-Men-Filme spielen – Singer und sein Drehbuchteam machen im Verlauf des Films ziemlich klar, dass „X-Men Origins: Wolverine“ so, wie der Film ist, nicht mehr zur Kontinuität gehört, deswegen werde ich ihn im Folgenden auch nicht mehr beachten.
Die ursprüngliche Zeitlinie beginnt mit „X-Men: First Class“, die Welt wird durch die Kuba-Krise zum ersten Mal auf Mutanten aufmerksam. Danach spielen sich die Ereignisse so ab, wie Xavier und Magneto sie zu Beginn von „Days of Future Past“ schildern: Mystique tötet Bolivar Trask, wird gefangengenommen und mithilfe ihrer DNS werden die Sentinels weiterentwickelt – dieser Prozess erstreckt sich wohl über mehrere Jahrzehnte. Xavier erklärt, dass Raven Darkholme an dem Tag, an dem sie Trask tötet, erst wirklich zu Mystique wird. Ihre folgende Gefangenschaft, die Experimente etc. sorgen dafür, dass sie zu der kalten Killerin wird, die sie in der ursprünglichen Trilogie ist.
Das Serum, das Xavier sich spritzt, um seine Telepathie auszuschalten, sorgt auch dafür, dass die Rückblickszene mit dem laufenden Xavier zu Beginn von „The Last Stand“ wieder funktioniert: In der alten Zeitlinie muss Xavier seine Depressionen selbst überwunden haben (vielleicht ausgelöst durch den Mord an Trask?) und die Dosis zumindest reduziert haben. An Beast sehen wir ja, dass eine geringere Dosis seine Kräfte nicht völlig ausschaltet. Xavier nimmt das Serum bis in die 80er, reduziert dann aber irgendwann die Dosis immer weiter und entscheidet schließlich, dass er es überhaupt nicht mehr braucht oder will. Auch eine zeitweilige Versöhnung mit Magneto scheint zwar nicht besonders wahrscheinlich, aber immerhin nicht völlig ausgeschlossen.
Es folgen die Ereignisse von „X-Men“, „X2: X-Men United“ und „X-Men: The Last Stand“: Der Ellis-Island-Vorfall, die Sache mit Stryker und schließlich das Heilmitel und das Erwachen von Dark Phoenix. Ebenfalls zu dieser Zeitlinie gehört James Mangolds „The Wolverine“, das auf den Ereignissen von „The Last Stand“ aufbaut und in der Mid-Credits-Szene wiederrum auf „Days of Future Past“ hindeutet. Zwischen „The Last Stand“ (bzw. „The Wolverine“) und dem Anfang von „Days of Future Past“ fehlt nun praktisch ein Film – zumindest empfinde ich es so, denn es gibt ein paar Lücken. Die Lösung für Fragen wie „Warum lebt Xavier noch?“ wird zwar angedeutet (in der Post-Credits-Szene von „The Last Stand“ erfährt man, dass er sein Bewusstsein in einen anderen Körper transferiert hat), aber es wird doch auch vieles offen gelassen, etwa weshalb Kitty Pryde plötzlich Zeitreisefähigkeiten hat. Am Ende dieser primären Zeitlinie steht die finstere Zukunft, in der die Mutanten von den Sentinels gejagt und nach und nach vernichtet werden.
Dann wird Wolverines Geist in den Körper seines früheren Ichs geschickt, und damit beginnt die neue, sekundäre Zeitlinie. Während des Films laufen, vor allem aus dramaturgischen Gründen, sowohl die alte als auch die neue Zeitlinie parallel zueinander – ob das nun logisch ist sei einmal dahingestellt, aber immerhin wird es, im Gegensatz zu vielen anderen Zeitreisefilmen, wenigstens erwähnt und erklärt.
Zur sekundären Zeitlinie gehören nach wie vor die Ereignisse von „X-Men: First Class“ und der Teil von „Days of Future Past“, der im Jahr 1973 spielt. Alle anderen Filme gehören allerdings nicht mehr dazu.
Im Internet existiert noch eine weitere Theorie, um die oben erwähnten Kontinuitätsprobleme zu Erklären: Ihr zufolge gibt es nicht zwei, sondern drei Kontinuitäten. In der ersten, die von den anderen völlig losgelöst ist, spielen „X-Men Origins: Wolverine“, „X-Men“, „X2: X-Men United“ und „X-Men: The Last Stand“. Zur zweiten gehören „X-Men: First Class“, „The Wolverine“ und die Zukunftsteile von „Days of Future Past“. Zwischen „First Class“ und „The Wolverine“ finden Ereignisse statt, die denen der ursprünglichen Trilogie sehr ähnlich, aber nicht mit ihnen identisch sind. Die dritte Kontinuität ist die oben beschriebene, durch Wolverines Zeitreise veränderte. Vermutlich ist diese Theorie für den gemeinen Filmschauenden wahrscheinlich ein wenig zu pedantisch.
Am Ende von „Days of Future Past“ erhalten wir noch einen kleinen Ausblick auf die Zukunft der sekundären Zeitlinie, die nicht allzu viel verrät, die aber immerhin einige Schlüsse zulässt und zu Vermutungen anregt: Die Ereignisse von „X-Men“ und „X2: X-Men United“ könnten in groben Zügen in dieser Kontinuität ebenfalls passiert sein, allerdings nicht identisch wie in den alten Filmen. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass Wolverine Teil der X-Men ist und Rogue weiße Strähnen hat und mit Bobby Drake/Iceman zusammen ist. Die Ereignisse von „The Last Stand“ dagegen haben sich gar nicht oder zumindest anders abgespielt, da Jean und Cyclops noch leben. Ich persönlich glaube allerdings, dass man diesen Ausblick nur als mögliche Zukunft verstehen sollte, schon allein weil man nicht weiß, was in zukünftigen Filmen noch alles passiert.
Betrachten wir zum Schluss noch einmal, wie „Days of Future Past“ im Jahr 1973 endet und was das für die sekundäre Zeitlinie und die kommenden X-Men-Filme bedeuten könnte. Xavier eröffnet seine Schule wieder, was zu erwarten war. Das heißt, dass wir in „X-Men: Apocalypse“, dem bereits angekündigten Sequel zu „Days of Future Past“, wieder ein funktionsfähiges X-Men-Team unter Leitung des McAvoy-Xaviers zu sehen bekommen werden. Da Magneto entkommt, könnte auch die Bruderschaft wieder auftauchen, mögliche Kandidaten gab es im Film bereits zu sehen, etwa eine jüngere Version von Toad.
Die interessanteste Frage ist nun, wie sich Mystique wohl entwickelt. Sie hat weder Trask noch Magneto getötet und sich mit Xavier zumindest teilweise versöhnt. Vermutlich wird sie sich nicht erneut der Bruderschaft anschließen. Am Ende des Films hat sie die Gestalt des jungen William Stryker angenommen, was auch Fragen bezüglich Logans weiterem Schicksal aufwirft. Bekommt er nun kein Adamantium-Skelett?
Wie auch immer sich die neue Zeitlinie entwickelt, nun ist klar, wie Bryan Singer und Co. den Kontinuitätsknoten des X-Men-Filmuniversums gelöst haben, nämlich genau so, wie Alexander der Große es mit dem Gordischen Knoten getan hat: Sie haben ihn durchgehauen, in dem sie mit „Days of Future Past“ einen Quasi-Reboot initialisiert haben. Diese Lösung ist zweifelsohne reichlich unelegant, ermöglicht aber nun weitere X-Men-Filme ohne den Ballast der bisherigen Teile. Nun stellt sich allerdings noch die Frage, in welcher Kontinuität der dritte Wolverine-Film spielen wird, der für 2017 angekündigt ist und bei dem James Mangold wieder Regie führen soll. Wird er als Sequel zu „The Wolverine“ konzipiert und spielt damit in der primären Zeitlinie, oder spielt er in der sekundären Zeitlinie und steht in irgendeiner Form mit „X-Men: Apcoalypse“ in Verbindung? Only time can tell.
Siehe auch:
X-Men
X-Men: First Class
Wolverine: Weg des Kriegers
X-Men: Days of Future Past
X-Men: Days of Future Past – Soundtrack