Stück der Woche: Suite from Christopher Young’s Nosferatu

Halloween 2023

Bekanntermaßen ist das Wort „Stummfilm“ eine Fehlebezeichnung, denn das Kino war nie tatsächlich stumm – Musik wurde von Anfang an verwendet, oft live gespielt von einem Pianisten, zu Anfang mit improvisierter Musik oder einem Repertoire klassischer Stücke, die zu einer bestimmten Stimmung passen. Irgendwann begann man dann auch, spezifische Stücke zu komponieren. Für den aus meiner Perspektive wichtigsten Stummfilm, Friedrich Wilhelm Murnaus „Nosferatu – Eine Sinfonie des Grauens“, komponierte Hans Erdmann eine „Fantastisch-romantische Suite“ die, der Name verrät es, eher die romantischen als die erschreckenden Elemente des Films herausarbeitet. Anders als Erdmanns Werk gingen die Scores vieler Stummfilme allerdings verloren, weshalb man immer wieder zur Wiederaufführung neue Begleitmusik in Auftrag gab. Der kürzlich verstorbene Komponist Carl Davis etwa vertonte eine ganze Reihe an Stummfilmen neu, darunter die Originalversion von „Ben Hur“ (1925) sowie „Napoléon“ (1927). Gerade Filme, die ohne eine sonstige Geräuschkulisse auskommen müssen, werden von der Musik noch einmal in weitaus stärkerem Ausmaß beeinflusst, als es ohnehin schon der Fall ist, weshalb es immer ein interessantes Experiment darstellt, einen Stummfilm mit neuer Musik zu sehen bzw. zu hören. Um zu „Nosferatu“ zurückzukehren: Murnaus Films bekam schon mehrfach neue Musik verpasst, auch wenn Erdmanns ursprünglicher Score der ist, der auf den meisten aktuellen Veröffentlichungen erhalten ist, aber gerade in diesem Jahr hat ein Projekt meine Aufmerksamkeit besonders geweckt. Im Februar 2023 wurde „Nosferatu“ in Zürich aufgeführt – mit einem neuen Score, komponiert von Horror-Maestro Christopher Young, bekannt für „Hellraiser“, „Drag Me to Hell“, „The Exorcism of Emily Rose“ und so viele andere. Leider gibt es bislang weder eine Veröffentlich des Films mit Youngs Score, noch eine Albenpräsentation der Musik, aber immerhin tauchte vor nicht allzu langer Zeit eine zehnminütige Suite auf, sodass man zumindest einen Eindruck des Werkes bekommen kann. Weitere Einblicke bietet eine kurze Dokumentation.

Sofort fällt auf, dass sich Youngs Ansatz radikal von Erdmanns unterscheidet: Hier haben wir es zweifelsohne mit einem waschechten Gothic-Horror-Score zu tun: Schwere, elegische Streicher, düsterer, brütender Bombast und ja, durchaus auch Romantik, aber eben eindeutig Schauerromantik, weit entfernt von Erdmanns Verspieltheit und eher klassischer Eleganz. Aber der Vierminutenmarke werden die Blechbläser dominanter und ein brutalter, marschartiger Rhythmus setzt ein – auch das etwas, das man in Erdmanns Musik sicher nicht findet. In seiner ebenso opulenten wie oppressiven Finsternis und der theatralischen Stimmung erinnert diese Musik, neben den bereits erwähnten Young-Werken, auch an Scores wie „Dracula“ von John Williams (quasi aus der „Verwandtschaft“) „Mary Shelley’s Frankenstein“ von Patrick Doyle oder „The Fly“ von Howard Shore.

Einerseits stellt sich nun die Frage, ob diese Art der eindeutig gotisch geprägten Musik tatsächlich zu Murnaus eher naturalistisch inszeniertem Film passt, andererseits legt man es bei einem derartigen Vorhaben natürlich darauf an, zu sehen, wie der Film mit einem radikal anderen Tonfall wirkt. Fakt ist allerdings, dass Youngs Musik genau meinen Geschmack trifft: Wie immer, wenn er sich in gotischen Untiefen seines Könnens begibt, kommt etwas heraus, das genau meiner Kragenweite entspricht. Ich jedenfalls hoffe, dass es sowohl eine Alben- als auch eine DVD-Veröffentlichung dieses Scores gibt, denn nur allzu gerne würde ich ihn zum einen komplett und zum anderen im Kontext hören.

Nebenbei: Ein ähnlich gelagertes Projekt gab es auch schon in den 90ern, allerdings mit Tod Brownings „Dracula“ aus dem Jahr 1931. Bei diesem handelt es sich zwar nicht um einen Stummfilm, allerdings gibt es keinen Score, nur Tschaikowskys „Schwanensee“ wird ein, zwei Mal eingespielt. Den neuen Soundtrack komponierte Philip Glass, eher bekannt für minimalistische Kompositionen. Hier wurde immerhin die Musik separat als Album veröffentlicht, es scheint auch auf der einen oder anderen DVD eine entsprechende Tonspur mit dem Soundtrack vorhanden zu sein. Glass‘ Werk steht in relativ krassem Kontrast zu dem, was Young für „Nosferatu“ komponiert hat, nicht zuletzt, weil Glass sich nicht des vollen Orchesters, sondern „nur“ des Kronos-Quartetts bediente. Auch hier ist es schwer, die Musik zu bewerten, ohne sie im Filmkontext erlebt zu haben, aber Glass gelingt es durchaus, gerade wegen des kleineren Ensembles, eine intensive Intimität zu erwecken.

Halloween 2023:
Art of Adaptation: The Silence of the Lambs
Art of Adaptation: Bride of Frankenstein
Fright Night (2011)
Art of Adaptation: Hannibal
Art of Adaptation: Dracula (Holy Horror)

Art of Adaptation: Dracula (Holy Horror)

Halloween 2023

Als rechtefreier Roman ist „Dracula“ ein beliebtes Objekt für Adaptionen – nicht nur im Film-, sondern auch im Hörspielbereich. Bereits einige davon habe ich verglichen, erst vor kurzem ist mir eine weitere untergekommen, dieses Mal aus der Hörspielreihe „Holy Horror“. Bei Holy Horror handelt es sich um eine Serie des Labels Holysoft, gegründet von David Holy – schön, bei der Namensgebung eine gewisse Stringenz festzustellen. Konzeptionell ist „Holy Horror“ ähnlich angelegt wie die Serie Gruselkabinett; es werden primär rechtefreie Klassiker der Schauerliteratur umgesetzt, zusätzlich zu einigen extra für die Serie verfassten Geschichten. Nicht nur bedienen sich David Holy und seine Autoren bei denselben Vorlagen wie Marc Gruppe und Stephan Bosenius von Titania Medien, sie schöpfen z.T. auch aus demselben Sprecherpool bekannter Synchron- und Hörspielstimmen. Der vielleicht größte Unterschied ist, dass Holy und Co. sich dem Quellenmaterial nicht im selben Ausmaß verpflichtet fühlen wie Gruppe und Bosenius. Während im Gruselkabinett zumeist sehr werktreu vorgegangen wird, ist die Nähe zur Vorlage in den Holy-Horror-Hörspielen oft sehr unterschiedlich. Die Frankenstein-Adaption (Folge 2) beispielsweise hält sich relativ eng an Mary Shelleys Roman, während „Carmilla“ (Folge 16) komplett in die Moderne versetzt wird und eher die zugrundeliegende Idee und den groben Plot als die tatsächliche Novelle von Sheridan LeFanu adaptiert.

Was also tun, wenn man „Dracula“ umsetzen möchte – immerhin einer der am häufigsten adaptierten Romane der Literaturgeschichte? Und während es tatsächlich sehr wenig Filme gibt, die Stokers Werk vorlagengetreu auf die Leinwand zaubern, trifft das im Hörspielbereich nicht zu. Für „Holy Horror“ ging der profilierte Hörspielautor Marco Göllner zu Werk, Folge 10 bis 14 sind dem transsylvanischen Grafen gewidmet – damit gehört die Holysoft-Adaption zu den längeren Exemplaren ihrer Gattung. Um nicht einfach nur ein weiteres Dracula-Hörspiel zu sein, hat Göllner zwar die Figuren und Handlung größtenteils so belassen, wie man es gewohnt ist, aber doch diverse strukturelle Änderungen vorgenommen und am Finale deutlich geschraubt. Ein Ziel scheint es gewesen zu sein, die einzelnen Episoden – jede verfügt über einen individuellen Titel – stärker als in sich geschlossene, erzählerische Einheiten zu inszenieren.

Dabei überrascht es kaum, dass die erste Episode den Titel „Das Tagebuch des Jonathan Harker“ trägt und, wie gewohnt, Jonathan Harkers (Patrick Bach) Erlebnisse auf Schloss Dracula schildert. Ähnlich wie im WDR-Hörspiel aus den 90ern und in der dreiteiligen Netflix/BBC-Serie baut auch Göllner eine zusätzliche Rahmenhandlung ein, indem er Mina Murray (Bettina Kurth) in dem Kloster, in dem Jonathan nach seinen Erlebnissen Zuflucht sucht, eintreffen lässt. Dort liest sie sein Tagebuch, um zu erfahren, was ihr Verlobter, der mit Erinnerungslücken kämpfen muss, in Transsylvanien erlebt hat und wie er zu der Erkenntnis kommt, dass sein Gastgeber Dracula (Michael Prelle) ein Vampir ist. Dieser Umstand nimmt auf die Erzählsituation Einfluss, da sich Patrick Back und Bettina Kurth hier als Erzählstimme konstant abwechseln und ineinander übergehen, was mir persönlich deutlich zu uneben und durcheinander ist.

Die zweite Folge, „Die letzte Fahrt der Demeter“, steht im Zeichen eines Trends der letzten Jahre: Nach dem Comic „Bram Stoker’s Death Ship“, der zweiten Episode der BBC/Netflix-Serie und dem diesjährigen Film „The Last Voyage of the Demeter“ handelt es sich hier nun schon um die vierte Adaption, die das Dracula-Kapitel mit den Logbucheinträgen des Captains der Demeter erweitert und zur (semi-)eigenständigen Geschichte ausbaut. Folge 3, „Van Helsings Verdacht“ und Folge 4, „Die Jagd auf den Grafen“, kehren wieder in größerem Ausmaß zu Stokers Text zurück, allerdings mit einigen Abweichungen, die vor allem struktureller Natur sind. Die ausgiebige Vorstellung der Figuren Jack Seward (Johannes Steck), Arthur Holmwood (Romanus Fuhrman), Quincey Morris (Peter Sura), Abraham Van Helsing (Peter Weis) und Lucy Westenra (Vanessa Wirth) sowie den damit verbundenen, langsamen Spannungsaufbau um Lucy Krankheit und Draculas erste Aktionen in Großbritannien spart sich Göllner, stattdessen springt er praktisch direkt zu Lucys Tod, erklärt das nötige in Dialogen und bemüht sich, die Angelegenheit sehr rasant und actionreich zu inszenieren.

Im Großen und Ganzen spielt sich die weitere Handlung wie bei Stoker ab, allerdings mit der einen oder anderen Anpassung. Die größte ist das Ende: Anders als im Roman jagen die Vampirjäger den Grafen nicht bis nach Transsylvanien, um ihn dann im Schatten seines Schlosses zu vernichten, stattdessen findet das Finale bei Whitby statt und Jonathan Harkers Kukri-Messer wird dabei eine erstaunlich große Bedeutung zugewiesen. Wie in den meisten Adaptionen darf der Graf zudem etwas aktiver werden und seine Widersacher aktiv bekämpfen, bevor er das Zeitliche segnet.

Die fünfte Folge, „Der Zoophag“, knüpft an einen weiteren „Ausgliederungstrend“ unter den Dracula-Adaptionen an: Fokus auf Renfield (Marco Göllner himself). Auch hier finden sich sowohl ein Comic, „Renfield; A Tale of Madness“, als auch ein Film aus dem Jahr 2023, „Renfield“, mit zumindest in Ansätzen ähnlicher Thematik. Ein Großteil dieser fünften Folge beinhaltet primär Szenen aus Stokers Roman, die nicht enthalten waren, vor allem Dr. Sewards Erforschung des „Zoophagen“, geht dann aber über Draculas Tod hinaus und formt eine Art Epilog, der nicht unbedingt mit der Vorlage konform ist. Renfield überlebt hier seinen eigentlichen Tod, wird selbst zum Vampir und nimmt nach und nach Rache an den Vampirjägern und sogar ihren Nachkommen.

Auf der technischen Seite gibt es wenig zu beklagen, auch wenn die Holysoft-Produktion in meinen Augen nicht ganz die atmosphärische Dichte der Gruselkabinett-Hörspiele erreicht. Die Sprecherriege kann sich ebenfalls sehen lassen, es sind auch durchaus einige sehr bekannte Stimmen darunter, nicht zuletzt Johannes Steck, der nicht nur ein profilierter Hörbuch-Interpret, sondern auch die deutsche Stimme von Michael Douglas ist. Probleme habe ich persönlich eher auf der konzeptionellen Ebene, da man dem Hörspiel anmerkt, dass Marco Göllner einerseits durchaus großen Respekt vor der Vorlage hat und auch tatsächlich Stokers Geschichte umsetzen wollte, aber andererseits vorhatte, gerade angesichts des Umstandes, dass es schon so viele Dracula-Hörspiele gibt, eigene Akzente zu setzen. Dementsprechend ist Göllner stets um eine Art Spagat bemüht, wobei gerade die strukturellen Umgestaltungen oftmals eher dazu zu dienen scheinen, die eigentliche Vorlagentreue zu verschleiern. Dabei gibt es durchaus gelungene Ideen, gerade die Demeter-Episode ist sehr gelungen und atmosphärisch, alles in allem will die Holy-Horror-Version von Stokers Roman allerdings nie so recht zusammenfinden und über ihre Einzelteile hinauswachsen. Besonders die finale Renfield-Episode wirkt merkwürdig abgekapselt, wie eine Mischung geschnittener Szenen und einer unnötigen Coda, die so absolut nicht zum Ende des Romans passen möchte.

Fazit: Trotz guter Sprecher und handwerklich solider Inszenierung weiß die Holy-Horror-Version von „Dracula“ nicht völlig zu überzeugen, da sie sich nie so recht entscheiden kann, ob sie nun eine vorlagengetreue Umsetzung des Romans oder doch eine Neuinterpretation sein möchte. Vor allem die strukturellen Änderungen sorgen dafür, dass Stokers Geschichte ihre erzählerische Kohärenz verliert – wer mit der Vorlage nicht vertraut ist, könnte spätestens nach Folge 2 den Überblick verlieren, während für den Kenner wohl nicht genug neue Impulse vorhanden sein dürften.

Halloween 2023:
Art of Adaptation: The Silence of the Lambs
Art of Adaptation: Bride of Frankenstein
Fright Night (2011)
Art of Adaptation: Hannibal

Siehe auch:
Geschichte der Vampire: Bram Stokers Roman
Geschichte der Vampire: Der gehörte Graf
Geschichte der Vampire: Der gezeichnete Graf
Art of Adaptation: Dracula in der Gruselserie
Dracula (BBC/Netflix)
Renfield

Art of Adaptation: Hannibal

Halloween 2023
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Thomas Harris ist kein Vielschreiber. Für „The Silence of the Lambs” brauchte er sieben Jahre, und nachdem der zweite Hannibal-Lecter-Roman sich als enorm erfolgreich erwies, von der Verfilmung gar nicht erst zu sprechen, nahm sich Harris noch mehr Zeit, um die Fortsetzung zu verfassen. Elf Jahren sollten vergehen, bis „Hannibal“ 1999 erschien. Anders als die beiden Vorgänger wurde der Roman sehr zwiespältig aufgenommen, ein Schicksal, das er mit dem Film teilt. Das mag auch daran liegen, dass sich „Hannibal“ stark von seinen Vorgängern unterscheidet, was sowohl inhaltliche als auch externe Gründe hat. Zum einen ließ Harris Hannibal Lecter in „Silence“ ausbrechen, das heißt, das Muster des Ermittlers, der den einsitzenden Serienkiller in einem Fall konsultiert, konnte nicht mehr verwendet werden. Zum anderen hatte Harris eine potentielle Verfilmung vermutlich bereits im Hinterkopf, und so legte er den Fokus auf das Element, von dem er glaubte, dass seine Leserschaft es wollte: Mehr Hannibal und seine Beziehung zu Clarice Starling.

Handlung und Konzeption
Strukturell sind „Red Dragon“ und „The Silence of the Lambs” einander sehr ähnlich: Beiden Romanen liegt eine klassische Krimihandlung zugrunde, ein Ermittler, Will Graham bzw. Clarice Starling, ermittelt im Fall eines Serienkillers und zieht dabei den eingesperrten Kannibalen Hannibal Lecter zurate. Und in beiden Romanen erforscht Harris nicht nur die Persönlichkeit besagten Ermittlers, sondern auch die des gejagten Serienkillers, den der Leser deutlich vor dem Ermittler kennenlernt. „Hannibal“ ist der erste Roman der Lecter-Reihe, der aus diesem Muster ausbricht, nicht zuletzt deshalb, weil auch Hannibal Lecter im letzten Drittel von „The Silence of the Lambs“ ausgebrochen ist und sich zu Beginn von „Hannibal“ bereits seit Jahren auf freiem Fuß in Florenz befindet, also nicht in der Lage ist, bei einem wie auch immer gearteten Fall zu helfen oder den Serienkiller per Zeitungsannonce auf den Ermittler aufmerksam zu machen. Folgende Inhaltsangabe deckt sowohl den Roman als auch den Film ab.

Seitdem sie Jame Gumb gestellt und getötet hat, ist Clarice Starling (Julianne Moore) eine vollwertige FBI-Agentin, allerdings läuft es derzeit nicht allzu rosig. Nach einem verpatzten Einsatz versucht das Bureau, Starling zum Sündenbock zu machen – besonders Paul Krendler (Ray Liotta) vom Justizministerium scheint es auf Starling abgesehen zu haben. Just in diesem Moment erhält Starling einen Brief von Hannibal Lecter (Anthony Hopkins). Zudem scheint das einzige überlebende Opfer Lecters, der reiche, aber entstellte und gelähmte Mason Verger (Gary Oldman in phänomenalem Make-up) über eine neue Spur zu verfügen. Seine Informationen gibt Verger allerdings nicht aus purer Herzensgüte heraus, stattdessen ist er auf Rache aus und kocht sein eigenes Süppchen, um den kannibalischen Psychiater einzufangen. Lecter selbst betätigt sich derweil unter dem Decknamen „Dr. Fell“ als Kurator der Capponi-Bibliothek in Florenz, wo allerdings der Polizist Rinaldo Pazzi (Giancarlo Giannini) auf ihn aufmerksam wird, um schließlich Mason Verger zu informieren. Lecter gelingt es allerdings, Pazzi und Vergers Häschern zu entgehen und nach Amerika zurückzukehren – allerdings nicht, ohne Pazzi vorher auf äußerst unschöne Art zu töten. Zurück in den USA gelingt es Verger dann allerdings doch, trotz aller Vorsichtsmaßnahmen, Lecter in seine Gewalt zu bringen. Um sich an ihm zu rächen, möchte Verger den Psychiater an eine Horde speziell gezüchteter Wildschweine verfüttern. Nun ist es an Starling, Lecter zu retten oder ihn sterben zu lassen…

Hier zeigt sich relativ eindeutig, wie Harris die Struktur der ersten beiden Lecter-Romane hinter sich lässt. Einige Elemente behält er allerdings auch bei – so ist Lecter in keinem der Romane beispielsweise der zentrale Antagonist, auch wenn sich seine Rolle von Roman zu Roman wandelt. In „Red Dragon“ lässt er sich am besten als sekundärer Antagonist beschreiben, in „The Silence of the Lambs“ hat er eher eine Mentorenrolle und in „Hannibal“ beginnt er, sich als sekundärer Protagonist fast schon zum Antihelden zu entwickeln; eine Entwicklung, die ihren Höhepunkt in „Hannibal Rising“ findet. Zentraler Antagonist ist in „Hannibal“ Mason Verger, der jedoch ein völlig anderes Biest ist als Francis Dolarhyde oder Jame Gumb. Auch Mason Verger ist zweifelsohne ein menschliches Monster, aber definitiv kein sozial gehemmter Serienkiller, der von seinen Psychosen getrieben wird. In gewisser Weise erinnert Verger, auf der einen Seite körperlich entstellt und völlig hilflos, auf der anderen aber aufgrund seines Reichtums extrem mächtig und zudem sadistisch, eher an einen Comic- oder Bond-Schurken. Gerade im Kontrast zu den (verhältnismäßig) geerdeten und realistischen, wenn auch überhöhten Serienmördern in „Red Dragon“ und „The Silence of the Lambs“ ist Mason Verger, der seine Martinis gerne mit Kindertränen angereichert trinkt und bereits gemeinsam mit Idi Amin seinem mörderischen Hedonismus frönte, doch reichlich over the top.

Dementsprechend ist der Plot von „Hannibal“ auch nicht als Krimihandlung inszeniert. Zwar gibt es durchaus Ermittlungsarbeiten, diese treten allerdings rasch in den Hintergrund. In einer Rezension, die ich vor vielen Jahren einmal gelesen habe (unglücklicherweise weiß ich nicht mehr, wo) wurde „Hannibal“ recht treffend beschrieben als Versuch, eine „barocke Blutorgie“ zu inszenieren. Tatsächlich wirkt es so, als versuche Harris „Hannibal“ zum Epos zu machen, mit einer deutlich weiteren und umfangreicheren Erzählweise. Vor allem die Florenz-Passagen stechen hier hervor. Zudem werde zumindest ich den Gedanken nicht los, dass Harris den Roman bereits mit dem Gedanken an eine potentielle Verfilmung verfasste: Mehr Action, mehr Nervenkitzel, generell mehr Grandeur. Und zumindest in Teilen wird das durchaus auch genutzt: Die düsteren Keller und verfallenen Häuser des Vorgängers werden durch die üppige Panoramaaufnahmen von Florenz ersetzt und wo die Konfrontation der Ermittlerin mit dem Serienkiller der Höhepunkt an Action war, beginnt „Hannibal“ bereits mit einem FBI-Großeinsatz.

Ist weniger mehr?
Dass „Hannibal“ verfilmt werden würde, war angesichts des Erfolges von „The Silence of the Lambs“ von Anfang an klar. Allerdings waren weder Regisseur Jonathan Demme noch Hauptdarstellerin Jodie Foster geneigt, sich an der Fortsetzung zu beteiligen – beiden behagte die Entwicklung der Geschichte und vor allem das Ende nicht. Aus diesem Grund wandte sich Produzent Dino de Laurentiis, Produzent aller vier Lecter-Filme, an einen Hochkaräter, dessen Film „Gladiator“ zuvor den Oscar als bester Film gewonnen hatte: Ridley Scott. Tatsächlich schlug de Laurentiis Scott bereits am Set von „Gladiator“ die Regie für „Hannibal“ vor, was dieser allerdings zuerst ablehnte, da er dachte, es handle sich um einen Film über den punischen Heerführer und er nach „Gladiator“ nicht schon wieder ein Historienepos drehen wollte. Das Drehbuch von David Mamet und Steven Zaillian überzeugte ihn dann allerdings. Während Anthony Hopkins als Lecter zurückkehrte (ohne seine Beteiligung wäre der Film kaum denkbar gewesen), besetzten Scott und de Laurentiis Starling dieses Mal mit Julianne Moore, die das eine oder andere Mal mit Starlings Akzent kämpfen muss und auch sonst hinter Jodie Foster zurückbleibt. Außer Hopkins kehrte zudem nur ein weiterer Schauspieler aus „The Silence of the Lambs“ zurück: Frankie Faison als Barney Matthews, der nicht nur, wie Hopkins, in allen Filmen der sog. Lecter-Trilogie mitspielt, sondern auch eine kleine Rolle in „Manhunter“ innehat und damit der Schauspieler in den meisten Harris-Verfilmungen ist.

Nun ist „Hannibal“ der umfangreichste Lecter-Roman – dementsprechend musste die Filmadaption deutlich mehr Elemente auslassen, als es noch bei „The Silence of the Lambs“ der Fall war. Einige ergaben sich durch die Umstände: Scott Glenn hatte, ähnlich wie Jodie Foster, kein Interesse an einer Rückkehr als Starlings Mentor Jack Crawford, und so wurde die Figur, die im Roman ohnehin nur noch eine untergeordnete Rolle spielt, komplett entfernt. Auch Starlings andere primäre Bezugsfigur, ihre Mitbewohnerin Ardelia Mapp, in „The Silence of the Lambs“ gespielt von Kasi Lemmons, fiel der Schere zum Opfer. Schon im Roman hat Starling scheinbar nur wenige soziale Kontakte, ohne Mapp und Crawford wirkt sie im Film nun fast völlig isoliert. Auch einige für „Hannibal“ neu geschaffene Figuren wurden ausgelassen, so etwa Mason Vergers Schwester Margot – auf sie werde ich in einem zukünftigen Artikel noch zu sprechen kommen. Zudem wurden zwei von Vergers Lakaien, Cordell und Dr. Doemling, zu einer Figur verschmolzen – Dr. Cordell Doemling (Željko Ivanek), der zu allem Überfluss auch noch Margots Rolle übernimmt, denn im Roman ist sie es, die ihren verhassten Bruder tötet, während diese Aufgabe im Film Cordell zugedacht wurde.

Von den geschnittenen Subplots und Figuren einmal abgesehen folgt der Film der Romanhandlung relativ genau und arbeitet zumindest die wichtigsten Stationen der Handlung ab, auch wenn hier und da einige Umstrukturierungen stattfinden. Das Gespräch zwischen Barney und Verger, mit dem der Film eröffnet wird, findet bei Harris beispielsweise erst in der Mitte des Romans statt und die Endszene im Flugzeug, in der Hannibal einem Kind etwas zu essen anbietet stammt, anders kontextualisiert, ebenfalls aus der Mitte des Romans. Wie nicht anders zu erwarten werden zudem diverse Details ausgespart: Nach ihrem Besuch bei Mason Verger führt Starling auf der Suche nach Lecter noch weitaus umfangreichere Ermittlungen durch und besucht beispielsweise das inzwischen größtenteils leerstehende Gebäude, in dem Hannibal Lecter so viele Jahre lang eingesperrt war. Dreh- und Angelpunkt dieser Ermittlungen ist ein Detail, das in den Filmen ohnehin nicht vorkommt: Lecters zusätzlicher Finger an einer Hand, den er sich chirurgisch entfernen ließ. Ebenfalls stark reduziert wird Lecters Rückkehr nach Amerika, diese sowie die Vorkehrungen und Maßnahmen, die der Doktor trifft, schildert Harris sehr ausführlich, im Film hingegen werden sie kaum thematisiert.

Gerade im Kontext des Medienwechsels ist zudem die Gewaltdarstellung ein sehr interessantes Thema, auch in Hinblick auf die anderen Romane und Filme. „Red Dragon“ und „The Silence of the Lambs“ sowie ihre zugehörigen Filmumsetzungen schilderten bzw. zeigten selten die Morde an sich, sondern ließen uns als Zuschauer und Leser eher die Nachwirkungen erforschen – die große Ausnahme diesbezüglich ist natürlich Lecters Ausbruch. Im Gegensatz dazu finden sich in „Hannibal“ diverse perfide Morde, die der Doktor begeht, zusätzlich zu nicht primär tödlichen Gemeinheiten – Stichwort: Mason Vergers Verstümmelung. Diese wird im Roman nur rückblickend von Verger selbst geschildert, der Film hingegen zeigt sie als recht verschwommenen Rückblick – allerdings kein Vergleich zu dem, was die Serie „Hannibal“ aus dieser Szene machen sollte. Generell ist „Hannibal“ – egal ob Buch oder Film – in der Gewaltdarstellung sehr viel expliziter und überdrehter. In „The Silence of the Lambs“ war Lecters Ausbruch gerade deshalb so schockierend, weil er der einzige Vorfall dieser Art war, während der Rest des Films sich auf implizierte Gewalt verließ. „Hannibal“ dagegen such nur allzu oft den schieren Schock, sei es beim Tod Rinaldo Pazzis oder in der berühmt berüchtigten Gehirn-Szene. Mason Vergers Tod, so unangenehm er auch sein mag, ist im Vergleich zum Roman allerdings etwas, sagen wir, „entschärft“. Generell scheint mir dieser Hang zur Exploitation in „Hannibal“ eher kontraproduktiv zu sein, primär, weil er die Suspense unterminiert und Selbstzweck zu sein scheint. Dies steht in einem interessanten Kontrast zur Serie „Hannibal“, die zwar über eine nicht minder drastische Gewaltdarstellung verfügt, diese aber in einen völlig anderen konzeptionellen und narrativen Kontext setzt.

Die Vollendung der Metamorphose: Mehr von Hannibal und Clarice
Metamorphose war stets ein essentielles Thema in den bisherigen Hannibal-Lecter-Romanen und -Filmen – primär als motivierende Psychose des jeweiligen Serienkillers. In „Red Dragon“ ist es die mentale Transformation Francis Dolarhydes in den großen roten Drachen und in „The Silence of the Lambs“ Jame Gumbs Wunsch nach körperlicher Metamorphose. In „Hannibal“ ist es der titelgebende Doktor selbst, der diese Thematik fortsetzt. Nachdem in den vergangenen beiden Romanen verhältnismäßig wenig über Hintergründe und Werdegang des kultivierten Kannibalen enthüllt wurde, gibt Harris in „Hannibal“ erste Details, die er in „Hannibal Rising“ weiter ausarbeiten sollte. Als Ursprung von Lecters, nennen wir es einmal „Geisteshaltung“, denn Psychose trifft es definitiv nicht, inszeniert Harris den gewaltsamen Tod von Lecters Schwester Mischa, den er in jungen Jahren miterleben musste, als Lecters Elternhaus in Litauen während des Zweiten Weltkriegs von Nazi-Kollaborateuren überfallen wird. Diese töten Mischa nicht nur, sondern verspeisen sie aufgrund der Lebensmittelknappheit auch – und füttern den jungen Hannibal Lecter ebenfalls mit ihr. Diese Idee einer Freudschen Entschuldigung für Lecters Kannibalismus kam unter Fans des Doktors überhaupt nicht gut an – wie so oft scheint eine derartige Enthüllung die enigmatische Figur zu entmystifizieren und zugleich zu banalisieren. Dennoch baut Lecters komplette Motivation im Roman auf diesem erlittenen Trauma auf. Sein letztendliches Ziel ist es, einen Platz für seine Schwester Mischa in der Welt zu finden, sie quasi zurückzubringen. Symbolisiert wird das durch eine zerbrochene Teetasse, die sich von selbst wieder zusammensetzt – eine Metapher, die immer wieder auftaucht. Der Platz, den Lecter sich schließlich für die Rückkehr seiner Schwester aussucht, ist Starling. Das kontroverse Ende des Romans steht schließlich komplett im Zeichen dieser Motivation, denn mit Drogen und Gehirnwäsche versucht Lecter tatsächlich, Starling praktisch in Mischa zu verwandeln, wobei wir wieder bei der Thematik der Metamorphose wären. Starling wehrt sich allerdings gegen dieses Vorhaben und bleibt sie selbst, was Hannibal in letzter Konsequenz akzeptiert. Stattdessen werden die beiden nun ein Liebespaar, überwinden so ihr jeweiliges Trauma und werden Jahre später von Barney in Buenos Aires beobachtet, woraufhin dieser panisch die Flucht ergreift. Dieses Ende der Lecter-Saga ist auf vielen Ebenen problematisch und wurde extrem kontrovers aufgenommen. Es scheint primär gegen Starlings fundamentale Natur und ihre Prinzipien zu verstoßen, aber auch für Lecter wirkt dieser Ausgang unangemessen.

Ganz ähnlich sahen es auch Ridley Scott, David Mamet, Steven Zaillian und Anthony Hopkins, weswegen sowohl Lecters Motivation als auch das Ende komplett geändert wurden. Mischa und sonstige Elemente des von Harris etablierten Hintergrunds der Figur tauchen im Film nicht auf, Lecters Gedankengänge, sein Antrieb bleibt dem Zuschauer verborgen. Und am Ende muss auch Starling ihre Integrität nicht opfern, sie gibt Hannibal nicht nach, sodass er sich gezwungen sieht, sich selbst die Hand abzuhacken, um fliehen zu können. Interessanterweise entledigten sich Scott und Co. so zwar der kontroversesten Elemente der Vorlage, rauben der Geschichte aber zugleich ihre thematische Grundlage. Egal, wie man Harris‘ „Hannibal“ nun bewertet, es ist definitiv ein Finale, ein Ende der Geschichte, das die Thematik der Serie weiterentwickelt und zum Abschluss bringt und zudem den Status Quo nachhaltig verändert. Im Kontrast dazu wirkt die Filmadaption beinahe belanglos, da am Ende praktisch derselbe Zustand hergestellt ist wie zu Beginn des Films: Hannibal, nun einhändig, ist auf der Flucht, während Starling einer ungewissen Zukunft beim FBI entgegenblickt. Die Frage ist nun, was man bevorzugt: Ein tatsächliches, abschließendes Ende, das die Figuren abwertet, oder ein offenes, belangloses Ende, das der Charakterisierung eher gerecht wird. Ich jedenfalls kann mich da nicht so recht entscheiden und bin mit beiden unzufrieden. Stattdessen verweise ich abermals auf die Serie „Hannibal“, die mit einer abstrahierten Version der Grundprämisse des Romans deutlich bessere Arbeit geleistet hat.

Diabolus in Musica
Viele Regisseure verlassen sich auf ein oder zwei Stammkomponisten – man denke nur an Steven Spielberg und John Williams oder Tim Burton und Danny Elfman. Ridley Scott hingegen scheint sich zwar immer wieder einen Stammkomponisten zu suchen, wechselt diesen dann aber alle paar Jahre aus. „Hannibal“ stammt aus Scotts „Zimmer-Phase“: Bereits an Gladiator arbeitete er mit Hans Zimmer zusammen und verpflichtete ihn nach „Hannibal“ auch noch für „Black Hawk Down“ und „Matchstick Men“, bevor Harry Gregson-Williams Scotts nächstes Historien-Epos „Kingdom of Heaven“ vertonte. Zimmer und sein Team knüpften zwar nicht stilistisch, sehr wohl aber methodisch an Howard Shores Score und die Musikauswahl von „The Silence of the Lambs“ an und bauten auf der Dualität von musikalischer Düsternis auf der einen und klassischer Schönheit auf der anderen an. Da Zimmer ohnehin, ähnlich wie Hannibal Lecter selbst, ein Fan von Johann Sebastian Bach ist, bildete das Werk des Barockkomponisten, primär seine lyrischen, kirchenmusikalischen Werke, die Grundlage des Scores – vor allem die Florenz-Szenen untermalt Zimmer mit überirdisch schönen Chor-Stücken und das Klavier spielt auch eine dominante Rolle. Die Horroraspekte hingegen werden zumeist durch sehr dissonante, abstrakte und häufig elektronisch verzerrte Passagen repräsentiert. Wie schon in Howard Shores Score sind Leitmotive bestenfalls von sekundärer Bedeutung, Atmosphäre und Stimmung stehen vor allem im Vordergrund.

Interessanterweise erweist sich „Hannibal“ als „Foreshadowing“ diverser populärer Zimmer-Werke der 2000er: Viele der eher elektronisch geprägten Action- und Suspense-Stücke geben bereits einen Eindruck dessen, was Zimmer später für die Dark-Knight-Trilogie komponieren sollte, während die religiös anmutenden choralen Texturen die Grundlage für den Sound der Robert-Langdon-Filme legen. Alles in allem ist „Hannibal“ unter den Lecter-Scores mit großem Abstand mein Favorit – Zimmer und Co. gelingt es hier, den Film nicht nur effektiv zu untermalen, sondern ihn aktiv aufzuwerten. Zudem beinhaltet der Soundtrack das schönste Stück, das jemals für einen Lecter-Film oder eine Lecter-Serie komponiert wurde: Die Arie Vide Cor Meum, die allerdings nicht von Zimmer, sondern von Patrick Cassidy geschrieben wurde. Den Text entnahm man Dante Aligheris La Vita Nuova. Die Arie taucht als diegetisches Stück im Film als Teil einer fiktiven Oper auf, die von Hannibal Lecter und Rinaldo Pazzi in Florenz besucht wird, findet später aber auch noch einmal extradiegetisch Verwendung. Zudem setzte Scott Vide Cor Meum auch in „Kingdom of Heaven“ wirkungsvoll, wenn auch für mich etwas irritierend, ein und die Macher der Serie „Hannibal“ entschlossen sich, die finale Szene der ersten Staffel mit der Arie zu unterlegen, was ich persönlich für einen grandiosen Einfall halte.

Fazit
Egal ob in Roman- oder in Filmform, „Hannibal“ lässt als großes Finale der Lecter-Trilogie in mehreren Bereichen zu wünschen übrig. Beide sind ambitionierter, als ihnen guttut und scheitern an der Inszenierung einer barocken Blutorgie, nicht zuletzt wegen der teils überdrehten Gewaltdarstellung. Knackpunkt des Scheiterns ist in beiden Fällen das Ende, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen: Thomas Harris inszeniert ein Finale, das unglaubwürdig ist und zugleich die Figuren banalisiert, während Ridley Scott die beiden Hauptfiguren, mit Abstrichen, in dieselbe Situation bringt, in der sie zu Beginn des Films waren, sodass nicht nur das Ende, sondern der gesamte Film, gewissermaßen belanglos wird.

Bildquelle

Trailer

Halloween 2023:
Art of Adaptation: The Silence of the Lambs
Art of Adaptation: Bride of Frankenstein
Fright Night (2011)

Siehe auch:
Art of Adaptation: Red Dragon
Hannibal Staffel 1

Fright Night (2011)

Halloween 2023
FrightNight2011Poster
Story: Charley Brewester (Anton Yelchin), einstmals ein Nerd, fand vor kurzem Einlass in den Kreis der „Coolen“ und datete mit Amy (Imogen Poots) das attraktivste Mädchen der Schule. Als sein früherer bester Freund „Evil Ed“ (Christopher Mintz-Plasse) ihm zu erklären versucht, dass ein Vampir in der Stadt ist und für das mysteriöse Verschwinden diverser Personen verantwortlich ist, will Charley davon erst einmal nichts wissen – doch dann verschwindet auch Ed. Charley findet heraus, dass sein neuer Nachbar Jerry (Colin Farrell) der Vampir ist. Ihm, Amy und seiner Mutter Jane (Toni Collette) gelingt es, einen ersten Angriff abzuwehren und zu fliehen. Hilfe erhofft sich Charley nun von Peter Vincent (David Tennant), einem Show-Magier und vermeintlichen Experten in Sachen Vampire…

Kritik: Craig Gillespies „Fright Night” stammt aus jener fast schon berüchtigten Ära, in der in Hollywood fast jeder Horror-Film in irgend einer Art und Weise ein Remake erhielt – im Gegensatz zu heute, wo die Studios eher auf Legacy-Sequels setzen, oft allerdings mit qualitativ ähnlichen Ergebnissen. Der Fairness halber muss allerdings gesagt werden, dass das Fright-Night-Remake alles in allem doch eher zu den höherwertigen Produktionen gehört. Angesichts der Messlatte ist das allerdings nur sehr bedingt ein Lob. Wie dem auch sei, 2011 sah es im Vampirgerne deutlich anders aus als 1985, als Tom Hollands Original in die Kinos kam. Damals befand man sich in einer Phase der Neuorientierung, in der man sich vom traditionellen Erzählmuster älterer Vampirfilme distanzierte und stärker auf moderne, dekonstruierende Elemente setzte. Neben „Fright Night“ sind Joel Schumachers „The Lost Boys“ (1987) und Kathryn Bigelows „Near Dark“ (ebenfalls 1987) sehr prominente Beispiele. 2011 hingegen dominierte Stephenie Meyers Twilight-Saga den Vampir in allen Ausprägungen. Die meisten Filme und Serien mit Blutsaugern aus dieser Zeit versuchten entweder, von „Twilight“ zu profitieren und auf dessen Erfolgswelle mitzuschwimmen oder sich klar davon zu distanzieren. „Fright Night“ leidet diesbezüglich an einer relativ merkwürdigen Persönlichkeitsspaltung, in der das Marketing gegen den eigentlichen Film arbeitet. Vor allem die Poster, die einen brütenden, rotäugigen Colin Farrell zeigen, aber auch ein Stück weit die Visualisierung im Film, arbeiten mit Anspielungen an „Twilight“. Im Gegensatz dazu wird Jerry aber keinesfalls als in irgendeiner Form sympathisch, geschweige denn nachvollziehbar gezeichnet. Zwar ist er, bedingt durch die Tatsache, dass Colin Farrell ihn spielt, sehr attraktiv, allerdings verfügt er nicht einmal über besonders viel Charisma, sondern bestenfalls über eine aufgesetzte (und sehr dünne) Cool-Guy-Fassade, die ihn eher unangenehm wirken lässt. Hier findet sich einer der größten Unterschiede zu Tom Hollands Original, in welchem Jerry, gespielt von Chris Sarandon, sich bemühte, immer sehr jovial und kumpelhaft herüberzukommen. Im Twilight-Zeitalter mögen Sarandon und Drehbuchautorin Marti Noxon diesen Ansatz als regelrecht subversiv wahrgenommen haben, er altert allerdings nicht besonders gut, sodass Remake-Jerry inzwischen in erster Linie relativ uninteressant wirkt.

Auch die anderen zentralen Figuren wurden zumindest etwas neu interpretiert. Wo Charley im Original ein relativ eindeutiger Nerd und Fan von Peter Vincent war, der keine größere Entwicklung durchmacht und einfach die ganze Zeit recht behält, ist er im Remake seiner Nerd-Phase gewissermaßen „entwachsen“ und bemüht sich, „normal“ und cool zu sein. Stattdessen ist es „Evil Ed“, der herausfindet, dass Jerry ein Vampir ist, während Charley in letzter Konsequenz zu der Erkenntnis kommt, dass er zu allen Aspekten seiner Persönlichkeit stehen muss und keine verleugnen sollte. Peter Vincent schließlich unterscheidet sich vor allem bezüglich seiner Inszenierung deutlich vom Tom Holland-Gegenstück: Statt an einen klassischen, an Peter Cushings Van Helsing erinnernden Vampirjäger ist er nun an einen aufwändigen Vegas-Illusionisten angelehnt – denn genau das ist auch sein Job. Tatsächlich gehört David Tennants Performance wahrscheinlich zu den unterhaltsamsten Aspekten des Remakes. Die Entwicklung, die er durchmacht, von Feigling zum echten Vampirjäger, ist im Grunde dieselbe, allerdings mit einem markanten Unterschied: Während Peter Vincent im Original nicht an Vampire glaubt und erst überzeugt werden muss, weiß sein Gegenstück aus dem Remake sehr genau, dass Vampire existieren, da er Überlebender eines vorherigen Angriffs ist – tatsächlich hat Jerry seine Eltern getötet. So muss er hier nicht einfach „nur“ seine Angst, sondern ein spezifisches Trauma überwinden.

Inszenatorisch ist „Fright Night“ ziemlich Standard – es gibt wenig, das wirklich hervorsticht. Wie schon im Original zeigen die Vampire eine sehr monströse Seite, wenn sie erregt, wütend oder hungrig sind. Anders als im Original fehlt hier allerdings das distinktive Element, die bizarre, an John Carpenters „The Thing“ gemahnende Kreativität bei der Kreaturengestaltung. Statt auf praktische Effekte greifen Gillespie und Co. auf CGI zurück, während das Design der Blutsauger vage an „30 Days of Night“ erinnert. Ein weiterer markanter Unterschied zum Original ist die Darstellung der Teenager: Tom Hooper bemühte sich diesbezüglich um große Authentizität, sodass die jugendlichen Figuren auch tatsächlich wie authentische Jugendliche aussehen. Im Remake dagegen wirken die Teenager wie Hollywood-Stars, die eben Teenager spielen.

Fazit: Was Horror-Remakes angeht, ist Fright Night, gerade im Vergleich zu diversen anderen Vertretern, durchaus anschaubar und hat zudem die eine oder andere interessante Neuinterpretation zu bieten; manche funktionieren besser (Peter Vincent), andere weniger gut (Jerry). Alles in allem ist das Original, gerade was die Darstellung der Vampire angeht, aber definitiv der lohnenswertere Film.

Trailer

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Halloween 2023:
Art of Adaptation: The Silence of the Lambs
Art of Adaptation: Bride of Frankenstein

Siehe auch:
Fright Night

Art of Adaptation: Bride of Frankenstein

Halloween 2023

Viele Horror-Sequels von Universal und Hammer, gerade im Bereich „Frankenstein“ und „Dracula“, haben die Tendenz, mit dem Quellenmaterial nicht mehr allzu viel zu tun zu haben. „Bride of Frankenstein“ zählt diesbezüglich zu den Ausnahmen. Vier Jahre sollte es dauern, bis James Whales „Frankenstein“ eine Fortsetzung erhielt – eine Fortsetzung, bei der sowohl Whale als auch die Hauptdarsteller des Vorgängers, Boris Karloff und Colin Clive, zurückkehrten. Und nicht nur das, viele Elemente aus Mary Shelleys Roman, die in „Frankenstein“ von 1931 ausgespart wurden, finden Eingang in die Fortsetzung, weshalb man hier nach wie vor von einer Adaption sprechen kann.

Handlung
Die Handlung von „Bride of Frankenstein“ schließt direkt an die des Vorgängers an. Nachdem das von Henry Frankenstein (Colin Clive) geschaffene Monster (Boris Karloff) scheinbar durch die einstürzende Mühle ums Leben gekommen ist, will Hans (Reginald Barlow), der Vater des Mädchens, das vom Monster ertränkt wurde, auch sichergehen – in den Trümmern muss er allerdings herausfinden, dass die Kreatur keinesfalls tot, sondern noch sehr lebendig ist. Auch Henry Frankenstein selbst hat überlebt und wird von seiner Verlobten Elizabeth (Valerie Hobson) gesund gepflegt. Trotz der traumatischen Erlebnisse hält Frankenstein nach wie vor seinen Überzeugungen fest und wird sogar noch befeuert: Henrys ehemaliger Lehrer Doktor Pretorius (Ernest Thesiger) nimmt Kontakt mit ihm auf und hegt ähnliche Absichten. Auch ihm ist es gelungen, Leben zu schaffen, allerdings nur in Form puppengroßer Homunkuli.

Frankensteins Schöpfung erfährt derweil etwas völlig Neues: Freundschaft und Zuneigung. Die Kreatur findet im Haus eines blinden alten Mannes (O. P. Heggie) Zuflucht. Aufgrund seiner Blindheit wird dieser nicht vom Äußeren des Monsters abgeschreckt und erkennt nur eine arme Seele, der er mit Güte begegnet. So lernt das Monster immerhin in Ansätzen die menschliche Sprache, bis es wieder vertrieben wird, denn die Dorfbewohner sind immer noch auf der Jagd. Schließlich gerät das Monster an Pretorius, der plant, einen weiblichen künstlichen Menschen zu schaffen, ein Vorhaben, das auch die Kreatur befürwortet, da sie sich nach Kameradschaft sehnt. Doch dazu benötigen sie Frankensteins Hilfe. Dieser ist, nachdem er Elizabeth geheiratet hat, jedoch nicht gewillt, bei der Erschaffung einer weiteren Kreatur behilflich zu sein. Erst, als das Monster Elizabeth kidnappt, kann Frankenstein „überredet“ werden, Pretorius zu helfen. Und tatsächlich, das Vorhaben gelingt. Doch „Frankensteins Braut“ (Elsa Lanchester), wie Pretorius sie theatralisch nennt, schreit entsetzt auf, als sie Frankensteins Erstschöpfung sieht. Voller Schmerz und Enttäuschung ermöglicht das Monster Frankenstein und Elizabeth die Flucht und brennt anschließend das Labor samt ihm selbst, Pretorius und der „Braut“ nieder.

Was von Mary Shelley übrig ist…
Tatsächlich eine ganze Menge. „Bride of Frankenstein“ lässt die Autorin, ebenfalls gespielt von Elsa Lanchester, sogar in einem Prolog auftreten, zusammen mit Percy Bysshe Shelley (Douglas Walton) and Lord Byron (Gavin Gordon), die sich in einem Schloss über ihren Roman unterhalten. Von den ursprünglichen Gästen, die in der Villa Diodati bei der Genesis des Romans „Frankenstein“ zugegen waren, fehlen nur Claire Clairmont und John William Polidori. Dieser Meta-Prolog darf durchaus als Indikator dafür gelten, dass James Whale und Drehbuchautor William Hurlbut sich im Verlauf des Films gerade in Bezug auf die Charakterisierung der Kreatur stärker auf Shelley beziehen. Zudem basiert die gesamte Handlung auf einem Konzept des Romans: Die Schaffung einer Frau für die Kreatur. Im Roman ist es die Kreatur selbst, die von Frankenstein möchte, dass er ihr eine Gefährtin schafft, doch kurz bevor diese vollendet ist, bricht Frankenstein den Prozess ab. Im Gegensatz dazu wird er im Film freilich erfolgreich durchgeführt, nur um gleichermaßen tragisch für die Kreatur zu enden.

Vor allem das Monster kommt in seiner Charakterisierung dem Romangegenstück deutlich näher als im Vorgänger – primär deshalb, weil man im Film von 1931 kaum von einer tatsächlichen Persönlichkeit sprechen kann. Die Kreatur in „Bride of Frankenstein“ ist quasi ein Kompromiss zwischen Roman- und Film-Version, zwar immer noch weit entfernt von dem eloquenten und hochintelligenten künstlichen Menschen, den Shelley beschreibt, aber doch in der Lage, immerhin in Ansätzen zu sprechen und eine eigene Agenda zu haben – und zwar dieselbe wie das Buchgegenstück. Zentrale Szene diesbezüglich ist das Gespräch mit dem blinden, alten Mann, das ziemlich direkt von Shelley kommt; natürlich angepasst an die Gegebenheiten des Films. Hier erfährt Frankensteins Schöpfung zum ersten Mal Güte und Zuneigung, die seine restliche Motivation bestimmen. Das zeigt sich auch am Ende, in dem sich Shelleys Ausgang der Geschichte doch zumindest spiegelt. In beiden Versionen macht das Monster auf seine Art seinen Frieden mit seinem Schöpfer, wobei dieser Frieden im Film sogar positiver ausfällt als im Roman, ermöglicht die Kreatur ihrem Schöpfer und seiner Frau doch die Flucht und das Überleben, was eine Vergebung doch zumindest impliziert.

Henry Frankenstein hingegen entfernt sich hier weiter von Victor Frankenstein, indem er in der Adaption eine deutlich passivere Figur ist. Während es in Mary Shelleys Roman entweder er selbst oder die Kreatur sind, die die Handlung vorantreiben, ist es in „Bride of Frankenstein“ eine neue Figur, die zum Motor des Plots wird: der rücksichtslose Doktor Pretorius. Dieser fungiert als eindeutiger Schurke des Films und greift in gewissem Sinne den getriebenen, gnadenlosen Frankenstein vor, den Peter Cushing später in der Hammer-Filmreihe spielen sollte. Zudem entspricht er in stärkerem Maße dem Archetypen des verrückten Wissenschaftlers. Pretorius bringt zudem mehr Humor in die Geschichte, denn seine Versuche, künstliche Menschen zu schaffen, resultieren in puppengroßen Homunkuli, die für die wahrscheinlich komischste und absurdeste Szene des Films sorgen.

Deutung und Wirkung
Aufgrund von James Whales eigener Homosexualität landen viele Kritiker schnell bei einer queeren Lesart des Films, was sich problemlos nachvollziehen lässt, angefangen beim Außenseiterstatus des Monsters über seine Suche nach Liebe und Anerkennung bis hin zum Gebaren von Doktor Pretotius. Noch eindeutiger als im ersten Film wird das Monster als sympathisch und missverstanden dargestellt. Mehr noch, trotz der titelgebenden Braut sind fast alle essentiellen Beziehungen des Films zwischen Männern. Während Frankensteins und Elizabeths Ehe verhältnismäßig wenig Gewicht bekommt, sind es Doktor Pretorius und Frankenstein bzw. Doktor Pretorius und die Kreatur, die gemeinsam neues Leben erschaffen wollen. Whale bemüht sich allerdings auch um christliche Symbolik, die Szene, in der das Monster vom Mob quasi gekreuzigt wird, ist nicht unbedingt subtil. Zudem opfert sich die Kreatur am Ende – zwar nicht für die Menschheit, sondern für ihren Schöpfer, aber immerhin…

Was die Wirkung angeht, erwies sich „Bride of Frankenstein“ als nur marginal weniger einflussreich als der Erstling und gilt unter Universal-Fans sogar als der bessere Film. Während „Frankenstein“ eine sehr reduzierte Version der Geschichte erzählte, ist es „Bride of Frankenstein“ möglich, die Thematik ausführlicher zu bearbeiten und dem Monster eine anständigen Handlungsstrang zu geben. Ebenso wie Frankensteins Schöpfung selbst fand auch die Braut mit ihrem ikonischen Design Eingang in das popkulturelle Verständnis von „Frankenstein“. Ihre Präsenz in der Geschichte wird mehr oder weniger erwartet und selbst ein Film wie „Mary Shelley’s Frankenstein“ von Kenneth Branagh, der immerhin den Namen der Autorin im Titel trägt, konnte es nicht beim abgebrochenen Versuch belassen und integrierte das Ende von „Bride of Frankenstein“ mehr oder weniger in die Handlung des Romans. Und nicht nur das, im Jahr 1985 erhielt die Braut mit dem angemessenen betitelten Film „The Bride“ von Franc Roddam mit Jennifer Beals in der Titelrolle ihren eignen Film. Auch in Crossover-Filmen und Serien ist Frankensteins Braut ein gern gesehener Gast.

Halloween 2023:
Art of Adaptation: The Silence of the Lambs

Siehe auch:
Art of Adaptation: Frankenstein – Mary Shelleys Roman
Art of Adaptation: Universals Frankenstein
Art of Adaptation: Georges Bess’ Frankenstein
Geschichte der Vampire: Universals Graf

Art of Adaptation: The Silence of the Lambs

Halloween 2023
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Wann immer Halloween näher rückt, tendiere ich dazu, mich intensiver mit dem Horror-Genre in all seinen Facetten zu beschäftigen, auch und gerade auf einer Meta-Ebene. Oftmals haftet allein dem Wort „Horror“ etwas anrüchiges, nicht unbedingt qualitativ hochwertiges an, mitunter denkt man zuerst an billige Slasher, Exploitation oder endlose Fortsetzungen ausgelutschter Konzepte. Das wirkt sich gerne auch auf die Vermarktung aus, mit der Folge, dass Filme, die mehr Anspruch vermitteln, eher als „Thriller“ oder „Psycho-Thriller“ angepriesen werden. Genregrenzen sind natürlich ohnehin fließend, aber gerade die Filmadaption von „The Silence of the Lambs“ war und ist immer wieder Gegenstand derartiger Diskussionen. Weder kann ich diesbezüglich eine finale Antwort geben, noch ist diese Frage wirklich Gegenstand dieses Artikels, aber doch vielleicht etwas, das man im Hinterkopf behalten sollte – wir werden auf jeden Fall noch einmal darauf zurückkommen.

Thomas Harris‘ Roman „The Silence of the Lambs“ erschien 1988 und ist als lose Fortsetzung von „Red Dragon“ konzipiert. Von einigen wiederkehrenden Figuren wie Jack Crawford, Frederic Chilton und natürlich Hannibal Lecter abgesehen spielt der Vorgänger allerdings keine große Rolle, die Ereignisse werden ein oder zwei Mal erwähnt und zudem erfahren wir, eher in einem Nebensatz, dass Will Graham inzwischen Alkoholiker ist. Zum Verständnis des Romans sind keine Vorkenntnisse nötig. Diesen Umstand machten sich Regisseur Jonathan Demme und Drehbuchautor Ted Tally bei der Filmadaption zunutze. Zwar hätten sie sich durchaus auf „Manhunter“ beziehen und sogar Darsteller zurückkehren lassen können, beispielsweise Brian Cox als Hannibal Lecter/Lecktor, sie entschieden sich aber, nicht zuletzt aufgrund des finanziellen Misserfolgs der Red-Dragon-Adaption, für einen kompletten Neuanfang, besetzen alle wiederkehrenden Rollen mit anderen Darstellern und wählten auch einen völlig anderen Ton und eine markant unterschiedliche Atmosphäre. Als „The Silence of the Lambs“ 1991 ins Kino kam, erwies sich der Film als durchschlagender Erfolg und ist bis heute einer von nur drei Filmen, dem es gelang, Oscars in den fünf Hauptkategorien (Bester Film, Regie, Drehbuch, Hauptdarsteller und Hauptdarstellerin) zu gewinnen. Und natürlich machte „The Silence of the Lambs“ Anthony Hopkins als Hannibal Lecter zu einer ikonischen Figur.

Handlung und Anpassungen
Mehr noch als „Manhunter“ (der den Fokus primär auf den Protagonisten legt und den Serienkiller auf das absolut nötige Minimum reduziert) oder „Red Dragon“ (der Hannibal Lecters Rolle im Vergleich zum Roman deutlich vergrößert) folgt „The Silence of the Lambs“ seiner Vorlage sehr genau. Beim groben Handlungskonstrukt orientierte sich Harris recht stark an „Red Dragon“: Abermals sind Jack Crawford (Scott Glenn) und die Behavioral Science Unit des FBI einem Serienkiller auf der Spur. Buffalo Bill häutet seine Opfer, daher der Spitzname, bislang sind die Spuren jedoch dürftig. Crawford vermutet, dass der eingesperrte und ebenso intelligente wie brutale Psychiater Hannibal Lecter (Anthony Hopkins) alias „Hannibal the Cannibal“ hilfreich sein könnte. Statt Will Graham, der sich endgültig in den Ruhestand verabschiedet hat, schickt Crawford dieses Mal eine junge Agentin in Ausbildung, Clarice Starling (Jodie Foster). Hannibal spielt mit ihr ebenso wie mit Will Graham, gibt ihr aber tatsächlich einen nützlichen Hinweis, der zu einer ersten Spur in Form eines frühen Opfers von Buffalo Bill führt. Währenddessen entführt Bill, mit der mit bürgerlichem Namen Jame Gumb (Ted Levine) heißt, Catherine Martin (Brooke Smith), ihres Zeichens Tochter der US-Senatorin Ruth Martin (Diane Baker). Damit wird der Druck auf Crawford und das FBI noch einmal deutlich erhöht. Doch wenn Lecter Starling dabei helfen soll, den Serienmörder zu fangen, muss sie ihm als Gegenleistung ihr eigenes Trauma offenbaren…

Auf der reinen Handlungseben sind sich Film und Roman wirklich sehr nahe, es gibt lediglich einige kleinere Auslassungen und Vereinfachungen bezüglich der Ermittlungsarbeiten und der Hintergründe der Figuren, um die Narrative etwas zu entschlacken. Die erste Spur, die Lecter Clarice gewissermaßen „schenkt“ ist ein Kopf in einem Glas. Im Roman gehört dieser Klaus, dem Liebhaber eines ehemaligen Patienten von Hannibal. Über diesen Patienten, den Flötisten Benjamin Raspail, weiß Hannibal um Jame Gumbs Identität. Der Film macht aus Klaus und Raspail eine Person, was auf die Handlung nicht wirklich Auswirkungen hat und die Notwendigkeit zusätzlicher Erklärungen minimiert. Der Umstand, dass Raspail der Flötist des Boston Filharmonic Orchestra war und von Hannibal getötet und zubereitet wurde, findet im Film keine Erwähnung und passt auch nicht zu Hannibals Erklärung, er habe ihn nicht umgebracht, nur beiseite geschafft. Stattdessen wird ein derartiges Ereignis in „Red Dragon“ gezeigt – der von Tim Weather gespielte Flötist bleibt allerdings namenlos. Ebenfalls gestrichen wurde beispielsweise eine Szene, in der Clarice Starling in Catherine Martins Wohnung Untersuchungen anstellt und dabei Senatorin Martin und Paul Krendler (Ron Vawter) begegnet – Letzterer spielt in „Hannibal“ (Roman) noch eine größere Rolle, wird in der Filmadaption aber von Ray Liotta gespielt. Eine dieser Ermittlungs-Auslassungen schadet dem Film tatsächlich geringfügig: Jack Crawford kennt relativ plötzlich Jame Gumbs Namen – er erklärt zwar in einem Halbsatz, woher dieses Wissen stammt, aber es kommt doch ziemlich abrupt. Im Roman dagegen nehmen Crawfords Ermittlungen diesbezüglich deutlich mehr Raum ein, sodass das Ganze weniger plötzlich kommt. Apropos Crawford: Während dieser im Film eine relativ statische Figur ist und „nur“ als Starlings Mentor fungiert, hat er im Roman einen eigenen Subplot, in dem er sich mit der Krebserkrankung und dem folgenden Tod seiner Frau auseinandersetzt.

Fly, fly, fly: Hannibal und Clarice
Trotz der Parallelen im Handlungsaufbau finden sich auch einige massive Unterschiede zwischen „Red Dragon“ und „The Silence of the Lambs“. Das betrifft vor allem die jeweilige Hauptfigur und ihr Verhältnis zu Hannibal Lecter – Will Graham und Clarice Starling sind sehr unterschiedlich konzipiert. Graham ist ein erfahrener Ermittler, der aufgrund seiner Arbeit tief traumatisiert wurde. Mehr noch, Hannibal Lecter ist für dieses Trauma verantwortlich und versucht sogar noch aus der Gefängniszelle heraus, für Wills Tod zu sorgen, indem er dessen Privatadresse Francis Dolarhyde zukommen lässt. Zwischen Starling und Lecter hingegen gibt es keine, wie auch immer geartete Beziehung zu Beginn des Romans (bzw. des Films), sie befindet sich noch in der Ausbildung und hat keinerlei Erfahrung – was allerdings nicht bedeutet, dass sie nicht auch traumatisiert wäre. In gewissem Sinne fungiert Starling als invertiertes Gegenstück zu Will Graham, was sich sehr schön an der jeweils ersten Lecter-Szene in „Red Dragon“ und „The Silence of the Lambs“ zeigt: In ersteren bemerkt der Doktor, dass Will immer noch dasselbe scheußliche Aftershave wie bei seinem Prozess verwendet, während er sich über Starlings Geruch deutlich positiver äußert – Evian Hautcreme scheint dem Doktor eher zuzusagen.

Im Gegensatz zu Will stammt Starlings Trauma aus der Kindheit. Hier finden sich subtile Differenzen: Während Starling im Roman zwar die Lämmer schreien hört, aber in letzter Konsequenz mit einem blinden Pferd von der Ranch abhaut und dieses Pferd zudem sehr lange überlebt, schnappt sie sich im Film eines der zu schlachtenden Führlingslämmer. Dabei handelt es sich wahrscheinlich um eine Änderung, die ihrer Geschichte etwas mehr Kohärenz und zusätzliche Tragik verpassen soll, denn „ihr“ Lamm wird geschlachtet. Anders als Will hilft Hannibal ihr tatsächlich, auch wenn er parallel die Situation gnadenlos ausnutzt, einmal, indem er Starling dazu bringt, ihr Trauma zu enthüllen, und natürlich, indem er seinen Ausbruch plant und durchführt. Dennoch entsteht eine sehr merkwürdige, ganz sicher nicht gesunde Mentorenbeziehung zwischen Starling und Lecter. In diesem Kontext fällt Lecters Rolle im Vergleich zu „Red Dragon“ (dem Roman) deutlich größer aus, dort taucht er nur in zwei Szenen wirklich auf und verschwindet dann größtenteils aus der Handlung, auch wenn seine Aktionen natürlich nachwirken. In „The Silence of the Lambs“ hingegen kommt er nicht nur deutlich häufiger vor, seine Präsenz ist auch dann spürbar, wenn er gerade nicht zugegen ist. Der gesamte Roman – und damit auch der Film, dreht sich mindestens so sehr um die Starling/Lecter-Beziehung wie um den eigentlich zu lösenden Fall. Das wird im Film äußerst gelungen umgesetzt: Nicht umsonst hat Anthony Hopkins „nur“ 16 Minuten Leinwandzeit, bekam aber trotzdem den Oscar als bester Hauptdarsteller und dominiert den Film gnadenlos. Fosters Spiel ist natürlich nicht weniger gelungen – die Szene, in welcher sie ihr Träume schildert, gehört nach wie vor zu den eindringlichsten des ganzen Films. Im Roman findet sich interessanterweise eine Szene, die zwischen seinem Ausbruch und dem Finale spielt, die im Film vollständig ausgespart wird und in der wir einen kurzen Einblick im Lecters Vorgehen auf der Flucht erhalten.

Gerade bezüglich der inneren Vorgänge ist Harris‘ Prosa äußerst interessant, da er einerseits sehr in die Tiefe geht, uns am Innenleben der Figuren teilhaben lässt und ihre tiefen, dunklen Geheimnisse aufdeckt. Gleichzeitig behält der Erzähler allerdings Distanz zu den Figuren, etwa, indem er sie immer nur beim Nachnamen nennt. Im Erzähltexte ist selten bis gar nie von „Clarice“ die Rede, sondern immer nur von „Starling“. In den Szenen, die aus der Perspektive von Buffalo Bill oder Hannibal Lecter geschildert werden, geht der Erzähler sogar noch weiter, es ist immer die Rede von „Dr. Lecter“ oder „Mr. Gumb“, so als hätte er zu viel Respekt vor diesen Serienmördern, um im Text mit ihnen zu fraternisieren. Dieses spezielle literarische Stilmittel für die Leinwand zu adaptieren ist nun nicht unbedingt leicht, aber Jontahan Demme hat hier wirklich Beeindruckendes geschafft. Gerade in den Dialogszenen, primär natürlich zwischen Starling und Lecter, traktiert er den Zuschauer regelrecht mit unangenehmen Nahaufnahmen, Schnitt und Gegenschnitt auf die Gesichter der sich unterhaltenden Personen, um so diese „unbehagliche Nähe“ darzustellen. Zugleich wird hierdurch auch der „Male Gaze“, mit dem Starling von diversen männlichen Figuren immer und immer wieder bedacht wird, gelungen visualisiert.

Ein weiteres, sehr interessantes Element aus Harris‘ Prosa ist Lecters Beschreibung: Zwar knüpft er hier an „Red Dragon“ an (verhältnismäßig klein und zierlich, sehr gepflegt, braune Augen mit Rotstich), fügt aber ein markantes Element hinzu, das im Vorgänger nicht erwähnt wird: Hannibal Lecter hat an der linken Hand einen sechsten Finger. Dieses Element ist äußerst symbolisch: Die linke Hand galt ohnehin früher als „die böse“ Hand, sodass der sechste Finger an dieser in Kombination mit den rötlichen Augen Lecter ein eindeutig satanisches Element verleiht. Beide Elemente wurden bei Hopkins‘ Darstellung ausgespart, ebenso wie bei allen anderen filmischen Inkarnationen der Figur – zumindest auf Postern kommen die roten Augen immerhin zum Einsatz.

Buffalo Bill
Reden wir nicht lange um den heißen Brei herum: In einem politischen Klima wie dem heutigen würde man eine Figur wie Buffalo Bill alias Jame Gumb sicher nicht mehr so schreiben wie in den 90ern: Ein Killer, der glaubt, im falschen Körper zu stecken und deswegen junge Frauen tötet, um sich ein „Frauenkostüm“ zu schneidern. Gewissermaßen ist „The Silence of the Lambs“ durch seinen Klassikerstatus sowie den Fokus auf Hannibal und Clarice ein Stück weit „geschützt“, aber ich bin mir ziemlich sicher, würden Roman und/oder Film heute genau so erscheinen, käme wahrscheinlich von allen Seiten und Fraktionen ein empörter Aufschrei, entweder weil die Auseinandersetzung nicht differenziert genug oder aber, im Gegenteil, zu differenziert ausfällt. Wie wir inzwischen aus der völlig irrsinnigen Gesetzgebung diverser republikanisch regierter Bundesstaaten wissen, würde manch einer das Thema am liebsten völlig totschweigen. Tatsächlich übten bestimmte Journalisten und Gruppierungen bereits in den 90ern Kritik an der Darstellung der Transgender-Thematik und dem Umstand, dass sich in Film und Roman keine positive queere Repräsentation findet, was einerseits durchaus richtig ist, allerdings wenig beachtet wurde und dem Erfolg des Films auch nicht schadete. Wie um diesem Umstand vorzubeugen, bemüht sich Harris im Roman, mehrfach sehr deutlich zu machen, dass Jame Gumb „kein echter transsexueller“, wie Harris es ausdrückt, ist, sondern sich lediglich für einen hält. Auch im Film wird das erwähnt, wenn auch nicht so eindringlich. Ist Harris oder sein Werk also transfeindlich? Ich denke nicht. Aber lässt es sich derartig auslegen, besonders, wenn man mit den passenden Vorurteilen an die Thematik herangeht? Mit Sicherheit.

Wenn man den aktuellen Kontext vorübergehend ausklammert, knüpft Jame Gumb thematisch doch recht nahtlos an Francis Dolarhyde an. Beide Figuren streben eine umfassende Transformation an – bei Dolarhyde ist die Verwandlung in den „großen, roten Drachen“ allerdings eher mental bzw. metaphorisch zu verstehen (zumindest größtenteils), während Jame Gumbs Verlangen, sich zu verwandeln, sehr viel handfester ist. Ähnlich wie in „Red Dragon“ taucht Harris auch hier in die Vergangenheit und die Psyche seiner Figur ein, allerdings bei weitem nicht so intensiv. In der zweiten Hälfte von „Red Dragon“ wird Dolarhyde fast schon zur Hauptfigur, während Will Graham in Teilen und Hannibal Lecter komplett zurücktreten; er entwickelt sich sogar, bedingt durch Reba McClane, als Figur auch durchaus weiter. Jame Gumb hingegen spielt durchgehend die zweite Geige, Hannibal und Clarice bleiben zweifelsfrei im Fokus. Der Film reduziert Buffalo Bill sogar noch weiter, viele der Hintergrundinformationen, die im Roman vermittelt werden, bleiben in der Adaption auf der Strecke. Stattdessen versucht Jonathan Demme, uns über die Bildsprache des Films Einblicke in Jame Gumbs Geist zu geben. Die Nähszene ist diesbezüglich natürlich der eindeutigste Kandidat, aber auch die Darstellung von Gumbs Wohnsituation lässt tief blicken. Das heruntergekommene Haus in Kombination mit dem labyrinthartigen Keller sagt einiges über den Hausherrn aus.

Atmosphäre und Genre
Kehren wir zur eingangs gestellten Frage zurück: Horror oder Thriller? Und ist eine Unterscheidung überhaupt sinnvoll? Es gibt eine große Überschneidungsfläche bei beiden Genres, sodass eine klare Abgrenzung oftmals nicht ganz leicht ist. In meinen Augen steht bei einem Thriller die Spannung stärker im Fokus, während es beim Horror eher darum geht, den Konsumenten zu erschrecken oder zu schockieren. Wie sagte Stephen King einmal so schön? „I recognize terror as the finest emotion and so I will try to terrorize the reader. But if I find that I cannot terrify, I will try to horrify, and if I find that I cannot horrify, I’ll go for the gross-out. I’m not proud.“ (Quelle) Bei einem Thriller handelt es sich für mich um eine Art Brücke zwischen Krimi und Horror. Offensichtlich Übernatürliches (Werwölfe, Vampire etc.) fällt natürlich fast immer eher in die Horror-Kategorie, während es gerade bei Serienkillern oft auf die Inszenierung ankommt. Liegt der Fokus auf den Ermittlungen und Ermittlern, ist es eher ein Thriller, rückt man dagegen eher die Untaten und das Grauen, das Killer entfesselt, in den Mittelpunkt, würde ich es als Horror klassifizieren. Thomas Harris‘ Romane machen die Beantwortung dieser Frage nur noch schwerer, aber die Adaptionen sprechen gezwungenermaßen eine eindeutigere Sprache – wie sich am Beispiel von „Red Dragon“ zeigt, kann man denselben Roman auf sehr unterschiedliche Art und Weise umsetzen. Wenn wir das gesamte Hannibal-Lecter-Franchise abseits der Romane betrachten, würde ich sagen, dass es auch das gesamte Spektrum zwischen dem, was man gemeinhin unter Horror und Thriller versteht, abdeckt. Am einen Ende hätten wir „Manhunter“; Michael Manns Film beschäftigt sich kaum mit dem Killer oder seinen Taten, stattdessen stehen Graham und seine Ermittlungen im Mittelpunkt. Die Serie „Hannibal“ hingegen hat viel größeres Interesse daran, die Taten der Serienmörder als surreale, bizarre und verstörende Kunstwerke zu zeigen und fällt damit, trotz der Ermittlerarbeit, in meinen Augen recht eindeutig in die Horror-Kategorie. Alles andere ist mehr oder weniger in der Mitte.

„The Silence of the Lambs“ fungiert in diesem Kontext als Weichensteller, weg vom Thriller und hin zum Horror, auch wenn man gerade den Film, zumindest in meiner Wahrnehmung, keiner Kategorie eindeutig zuordnen kann. Eine hypothetische, von Michael Mann inszenierte Version von „The Silence of the Lambs“ als Fortsetzung von „Manhunter“ hätte durchaus stilistisch an diesen anknüpfen können. Jonathan Demme entschied sich allerdings für eine radikal andere Herangehensweise, vermied die kalte und sterile Atmosphäre Manns und bediente sich der Stilmittel und Bildsprache des Gothic Horror. Nehmen wir als Beispiel nur einmal Lecters Zelle: Die Interpretation in „Manhunter“ ist deutlich näher an Harris‘ Beschreibung, mit Weiß als vorherrschender bzw. einziger Farbe und Gitterstäben statt der Glaswand der späteren Filme. Im Gegensatz dazu zeigt Demme ein fast schon mittelalterlich anmutendes Kerkergewölbe. Der für den Gothic Horror typische Verfall ist überall vorhanden, am stärksten natürlich in Jame Gumbs Bleibe. Zusätzlich inszeniert Demme Hannibal Lecter mit geradezu übernatürlich anmutender Eleganz. Nicht umsonst wurde der Doktor immer und immer wieder mit Dracula verglichen – selbst im Film fragt ein Polizist Starling, ob Lecter mit einem Vampir vergleichbar sei. In gewissem Sinne ist Hannibal Lecter, speziell Anthony Hopkins‘ Hannibal Lecter, eine modernisierte Version des zivilisierten Monsters der klassischen Schauerliteratur.

Ein weiteres Element, das zur Horror-Wahrnehmung beiträgt, ist die Opferperspektive, die es beispielsweise in „Red Dragon“ auf diese Weise nicht gab. Anders als Francis Dolarhyde hält Jame Gumb seine Opfer über längere Zeit hinweg gefangen. Sowohl Thomas Harris als auch Jonathan Demme lassen uns als Leser bzw. Zuschauer recht intensiv an Catherine Martins Gefangenschaft, ihrer nackten Angst und auf dem kleinen bisschen Hoffnung teilhaben. Als besonders intensiv und eindringlich habe ich beispielsweise immer die Szene empfunden, in der Catherine die blutigen Spuren und die Nagelreste an der Wand der Grube entdeckt und ihr mit einem Mal klar, welches Schicksal ihre Vorgängerinnen erlitten haben. Wenn das nicht der pure Horror ist…

Diabolus in Musica
Bevor Howard Shore als Komponist der Lord-of-the-Rings-Trilogie einem breiten Publikum bekannt wurde, galt er unter Filmmusik-Fans primär als Fachmann für düstere, atmosphärische Horror- und Thriller-Scores. Manche, etwa „The Fly“, sind opernhaft opulent, die meisten fallen jedoch eher in die Kategorie „düster und brütend“. Auch nach der LotR-Trilogie kehrte Shore immer wieder in diesen Modus zurück, etwa mit „A History of Violence“, „Doubt“ oder „The Pale Blue Eye“. Seine Musik für „The Silence of the Lambs“ fällt eindeutig in diese Kategorie. Shores Score ist extrem atmosphärisch, ja gerade zu oppressiv düster. Stilmittel und musikalische Figuren, die Shore später in Peter Jacksons beiden Mittelerde-Trilogien verwenden sollte, lassen sich hier bereits ausmachen – zwar findet sich keine Spur vom epischen Bombast der Tolkien-Adaptionen, wohl aber verwendet Shore dieselben Techniken in der Suspense-Musik. In „The Silence of the Lambs“ zeichnet sich eine gewisse Tendenz in der musikalischen Repräsentation Hannibal Lecters ab, die sich in diversen anderen Medien fortsetzen sollte: Oftmals werden die Horror- Aspekte der Geschichte, seien es Lecters Morde oder die anderen Serienkiller, mit dem düsteren, teilweise dissonanten Score untermalt, während Lecters kultivierte Seite durch bereits existierende klassische Musik dargestellt wird. Der Roman liefert hier freilich das entsprechende Stück: Bachs Goldbergvariationen, die aufgrund ihres prominenten Einsatzes bereits eng mit Hannibal Lecter verknüpft sind und in „Hannibal“ (sowohl Roman als auch Film und Serie) weiter eingesetzt werden.

Auch wenn Shore in „The Silence of the Lambs” eher auf Atmosphäre denn auf eingängige Melodien setzt, finden sich durchaus Leitmotive, das markanteste gehört sicher Clarice Starling. Ihr Motiv, oft auf der Oboe gespielt, passt zu ihrer jungen, etwas naiven Art. Interessant ist es aber vor allem deshalb, weil Shore es in „The Hobbit: The Desolation of Smaug“ wieder aufgriff und als Basis füt Tauriels Thema verwendete. Auch Hannibal Lecter und Buffalo Bill erhalten Motive, die jedoch kaum herausstechen. Jame Gumbs musikalische Repräsentation ist noch düsterer und grimmiger als der ohnehin schon sehr düstere und grimmige Grundtenor der Musik, während Lecters Thema durch einen sehr klassischen und klaren Aufbau besticht. Shores Score gehört zu denen, die im Film exzellent funktionieren, abseits davon aber eher zu einer depressiven Gemütslage führen können. Wer dennoch an einer stilistischen Fortführung interessiert ist, macht mit „The Pale Blue Eye“ definitiv nichts falsch.

Fazit
Egal ob Horror oder Thriller, „The Silence of Lambs” ist nicht nur ein Klassiker des Genres, sondern wahrscheinlich auch eine der besten Romanadaptionen der Filmgeschichte, die es trotz großer Vorlagentreue schafft, eigene Akzente zu setzen. Ganz nebenbei wurde Jonathan Demmes Film zu einem DER Standards für den filmischen Umgang mit Serienkillern. Ob man Bufallo Bill nun als nicht mehr zeitgemäß oder gar problematisch empfindet, Clarice Starling ist immer noch eine exzellente Protagonisten, Hannibal Lecter so faszinierend und einnehmend wie eh und je und der Film an sich ein Idealbeispiel an Suspense und subtilem (oder auch nicht so subtilem) Grauen.

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Siehe auch:
Art of Adaptation: Red Dragon
Hannibal Staffel 1

Star Trek III: The Search for Spock

Star_Trek_III_The_Search_for_Spock
Story:
Spock (Leonard Nimoy) ist tot und die Crew der Enterprise trägt trauer. Doch es gibt noch Hoffnung, denn nicht nur hat der Halbvulkanier sein „katra“ (sein Bewusstsein bzw. seine Seele) auf Dr. McKoy (DeForest Kelley) übertragen, sein Körper, der auf dem Genesis-Planeten seine letzte Ruhestätte finden sollte, ist als Kind zu neuem Leben erwacht. Admiral James T. Kirk (William Shatner) und der Rest der Crew setzen also alles daran, Spocks Körper zurückzuholen und ihn mit seinem katra zu vereinen. Der Klingone Kruge (Christopher Lloyd) hat allerdings andere Pläne und möchte die Macht von Genesis für das klingonische Imperium erringen…

Kritik: Die Formel ist nur allzu bekannt: Die geraden Star-Trek-Filme (II, IV, VI etc.) gelten als die guten, die ungeraden hingegen werden als die schlechten wahrgenommen. In wie fern das tatsächlich zutrifft, ist natürlich vom persönlichen Geschmack abhängig. Das vielleicht größte Problem des dritten Trek-Films, „The Search for Spock“, ist wohl, dass er auf den exzellenten „The Wrath of Khan“ folgt und dem direkten Vergleich einfach nicht standhalten kann. Nachdem „The Wrath of Khan“ zeigte, dass Star Trek im Kino exzellent funktionieren und positive Zuschauerreaktionen hervorrufen kann, war man bei Paramount begierig, mit einer Fortsetzung an diesen Erfolg anzuschließen. Zugleich erkannte Leonard Nimoy, dass er mit Spock, der am Ende des Vorgängers das Zeitliche segnete, noch nicht fertig war. Und mehr noch, Nimoy wollte dieses Mal Regie führen. Produzent Harve Bennett arbeitete abermals die Geschichte aus und verfasste auch das Drehbuch selbst. Die Crew der Originalserie kehrte komplett zurück, die in „The Wrath of Khan“ neu hinzugestoßene Vulkanierin Saavik wurde allerdings umbesetzt, da Kirstie Alley kein Interesse daran hatte, als Spocks Protegé zurückzukehren. In „The Search for Spock“ wird sie stattdessen von Robin Curtis verkörpert. Mit Mark Lenard kehrte in der Rolle von Spocks Vater Sarek allerdings ein weiterer Veteran der Originalserie zurück. Ähnlich wie Nicholas Meyer vor ihm musste sich auch Nimoy als Regisseur mit einem relativ niedrigen Budget begnügen, das aber immerhin mit 16 Millionen Dollar etwas höher ausfiel als das von „The Wrath of Khan“.

Für sich betrachtet ist „The Search for Spock“ definitiv kein schlechter Film und zweifelsohne weit entfernt von der kontemplativen Langweile von „The Motion Picture“ oder der schieren Merkwürdigkeit von „The Final Frontier“. Tatsächlich gelingt es Nimoy sehr gut, die Stimmung der Originalserie zu vermitteln und mit dem in „The Wrath of Khan“ etablierten Tonfall zu verknüpfen. Der Einfluss des Vorgängers ist, wie aufgrund des Erfolgs nicht anders zu erwarten, stets spürbar, Ästhetik, Atmosphäre und natürlich die Handlung knüpfen direkt an „The Wrath of Khan“ an und das nicht nur, weil es sich um eine direkte Fortsetzung handelt. Der von Christopher Lloyd ein Jahr vor seiner Paraderolle als Doc Brown in „Back to the Future“ dargestellte Kruge orientiert sich in Konzeption und Inszenierung eindeutig an Khan. Llyod hat sichtlich Spaß daran, Kruge darzustellen und zudem ist er die erste wirkliche klingonische Bedrohung seit der Originalserie; in „The Motion Picture“ hatte die Spezies lediglich einen Cameo-Auftritt und in „The Wrath of Khan“ war sie überhaupt nicht präsent. Was allerdings, gerade im Vergleich zu Khan, fehlt, ist die persönliche Beziehung; Kruge stolpert mehr oder weniger zufällig in die ganze Angelegenheit. Zwar wird versucht, durch den Tod von Kirks Sohn David Marcus (Merritt Butrick) ein persönlicheres Animositätsverhältnis zwischen Kruge und Kirk zu etablieren, der Klingone selbst überlebt allerdings nicht lange genug, um das Potential völlig auszuschöpfen. Immerhin greifen spätere Filme dieses Element durchaus wirkungsvoll wieder auf.

Die aus dramaturgischer Sicht größte Schwäche des Films ist wahrscheinlich, dass das Pulver zu früh verschossen wird. Die mit Abstand beste Szene ist der Diebstahl der Enterprise, der relativ zu Anfang des Films stattfindet. Andere Elemente leiden im Rückblick – hier sei vor allem die Zerstörung des klassischen Schiffs genannt, die gefühlt in jedem zweiten Film der Reihe stattfindet. Für sich betrachtet, gerade im Kontext einer Erstsichtung ohne den Ballast der späteren Filme, handelt es sich dabei aber durchaus um einen angemessen emotionalen Moment. Nicht minder emotional fällt der Tod von Kirks Sohn aus, gerade hier zeigt Shatner, was für ein guter Schauspieler er im richtigen Kontext doch sein kann. Generell leisten die Darsteller unter Nimoys Regie alle wirklich gute Arbeit, neben Shatner selbst sei hier vor allem DeForest Kelley genannt, der dieses Mal vor der Herausforderung stand, den von Spock „besessenen“ McKoy darzustellen. Nimoys eigentlich Rolle fällt sehr klein aus, da der Spock, den wir kennen und lieben, nur ganz am Ende auftaucht, was für Nimoy die Aufgabe der Regieführung mit Sicherheit deutlich vereinfachte. Im Folgefilm, „The Voyage Home“, sollte Nimoy nicht nur abermals Regie führen, sondern eine deutlich größere Rolle als in „The Search for Spock“ spielen, eine durchaus beeindruckende Leistung.

Score: Wie sehr „The Search for Spock” an „The Wrath of Khan” anknüpft, zeigt sich auch bei der Wahl des Komponisten, denn abermals verpflichtete man James Horner, obwohl Nimoy eigentlich wollte, dass sein guter Freund Leonard Rosenman den Taktstock schwingt. Rosenman sollte schließlich den Score für den Folgefilm schreiben. Wie der Film selbst knüpft auch Horner nahtlos an en Vorgänger, sowohl stilistisch als auch leitmotivisch. Die markanteste Entwicklung diesbezüglich ist die Aufspaltung des ursprünglichen Kirk/Enterprise-Themas in ein Motiv für Kirk und eines für Spock. Horners neues Thema für die Klingonen beruft sich zwar nicht direkt auf Goldsmiths Identität aus „The Motion Picture“, verfügt aber über gewisse rhythmische Ähnlichkeiten, wirkt darüber hinaus jedoch eher wie eine Weiterentwicklung des Khan-Materials aus „The Wrath of Khan“. Ähnlich wie der Film als ganzes leidet auch der Score ein wenig unter der herausragenden Qualität des Vorgängers, aus deren Schatten er weder treten kann noch will. Dennoch ist „The Search for Spock“ ein unverzichtbares Komplementärwerk zu „The Wrath of Khan“, sodass beide Scores in Kombination ein effektives Gesamtwerk abgeben.

Fazit: „The Search for Spock“ mag nicht völlig an die Qualitäten des überragenden Vorgängers anknüpfen können, überzeugt aber doch als unterhaltsames Star-Trek-Abenteuer mit einem gelungenen, emotionalen Kern.

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Siehe auch:
Star Trek: The Motion Picture
Star Trek II: The Wrath of Khan

Art of Adaptation: Dracula 2000

Eine ganze Reihe von Filmen und anderen Medien versuchte über die Jahre hinweg, Dracula in einen modernen bzw. zeitgenössischen Kontext zu setzen, so etwa die beiden Hammer-Filme „Dracula A.D. 1972“ und „The Satanic Rites of Dracula“, die dritte Folge der von Netflix und der BBC produzierten Miniserie „Dracula“ mit Claes Bang oder, das aktuellste Beispiel, die Horror-Komödie „Renfield“. In meiner Kritik zu besagtem Film verwies ich bereits auf einige interessante Parallelen zwischen „Renfield“ und einem anderen filmischen Versuch, Stokers Vampirgrafen in ein modernes Setting zu verfrachten: „Dracula 2000“, auch bekannte als „Wes Craven’s Dracula“ (ein irreführender Titel, denn Craven produzierte nur, während Patrick Lussier Regie führte), ist vielleicht das bekannteste Beispiel für ein derartiges Unterfangen. Zweifelsohne handelt es sich hierbei nicht um einen guten Film, aber doch um einen interessanten, der immerhin noch genug mit Stokers Roman gemeinsam hat, um einen Art-of-Adaptation-Artikel zu rechtfertigen. Tatsächlich fungiert „Dracula 2000“ auf gewisse Weise sowohl als Fortsetzung der ursprünglichen Geschichte als auch als Neuerzählung.

Adaption oder Fortsetzung?
Abseits von Romanen oder Comicserien ist Hammers „Dracula A.D. 1972“ wahrscheinlich einer der markantesten frühen Versuche, Stokers Graf in ein zeitgenössisches Setting zu verpflanzen – ein Versuch, bei dem sich „Dracula 2000“, bewusst oder unbewusst, einiges abgeschaut hat. „Dracula A.D. 1972“ hätte als gewöhnliches Sequel der Dracula-Filmserie funktionieren können, wurde aber als Reboot inszeniert: Die Szene zu Beginn des Films, in welcher eine finale Auseinandersetzung zwischen Dracula und Van Helsing gezeigt wird, passt weder inhaltlich noch bzgl. der Datierung zu den bisherigen Filmen. Ganz ähnlich ist auch das Verhältnis von „Dracula 2000“ zu Stokers Roman: Im Film müssen Ende des 19. Jahrhunderts Ereignisse stattgefunden haben, die zumindest grob mit denen des Romans übereinstimmen. Allerdings werden nur einige spärliche Flashbacks gezeigt, in welchen Dracula (Gerard Butler) von Van Helsing (Christopher Plummer) überwältigt und in einem Sarg eingesperrt wird. Die Szene spielt eindeutig in London und entspricht definitiv nicht den in Stokers Roman geschilderten Ereignissen, denn dort wird der Graf in Transsylvanien besiegt und sehr eindeutig getötet. Der Dracula, mit dem wir es in diesem Film zu tun haben, ist allerdings einfach nicht totzukriegen, weshalb Van Helsing sich zu seinem Wächter macht, mithilfe von Draculas Blut am Leben bleibt und sich als sein eigener Enkel ausgibt. Stokers Roman existiert in der erzählten Welt des Films, scheint mit den tatsächlichen Ereignissen aber nur sehr bedingt konform zu sein, allerdings hat Dracula wohl tatsächlich Carfax von Jonathan Harker erworben, um anschließend mit der Demeter nach England zu reisen.

Die eigentliche Handlung des Films beginnt viele Jahre, nachdem Van Helsing alle anderen Vampire ausgelöscht und sich anschließend in Carfax niedergelassen hat, um Dracula zu hüten. Eine Gruppe von Dieben vermutet, er verberge Schätze in den Gewölben seines Anwesens. Allerdings finden sie nur einen Sarg, der sich nicht öffnen lässt. Die Gruppe macht sich mit dem Sarg per Flugzeug auf nach New Orleans. Noch im Flugzeug schaffen sie es tatsächlich, die Kiste zu öffnen und Dracula steigt heraus. Zwei der Diebe, Solina (Jennifer Esposito) und Marcus (Omar Epps) werden von Dracula in Vampire verwandelt, bevor er sich daran macht, in New Orleans nach Mary Heller (Justine Waddell), Van Helsings entfremdeter Tochter zu suchen. Wegen Van Helsings Versuche, sein Leben zu verlängern, wurde Mary mit Vampirblut geboren, das nun nach Dracula ruft. Van Helsing und sein Gehilfe Simon (Jonny Lee Miller) folgen dem Grafen nun nach Nordamerika, um ihn erneut einsperren zu können. Hier zeigt sich: Trotz des eigentlichen Fortsetzungscharakters arbeiten Lussier und Drehbuchautor Joel Soisson viele Elemente und Figuren aus Stokers Roman ein, oft in etwas modernisierter Art und Weise. Statt von Transsylvanien nach London reist der Graf nun von London nach New Orleans, statt mit einem Schiff kommt Dracula nun mit einem abstürzenden Flugzeug an seinem Ziel an – die Reise mit der Demeter wird allerdings im Vorspann des Films ebenfalls gezeigt. Und abermals ist er hinter einer jungen Frau her. Während Dracula und Van Helsing gewissermaßen die ursprünglichen, sprich: aus dem viktorianischen Zeitalter stammenden Versionen ihrer Figuren sind, gibt es für andere, sagen wir, Substitute, die teilweise sogar denselben Namen tragen. Mary ist natürlich der Ersatz für Mina Harker – der Name ist sicher nicht zufällig gewählt, denn einerseits erinnert er an Stokers Charakter und verweist andererseits auf die diversen biblischen Bezüge (dazu später mehr). Zudem ist sie Van Helsings Tochter, ähnlich wie Mina in „Dracula“ von 1979 mit Frank Langella. Und natürlich hat Mary eine beste Freundin namens Lucy (Colleen Ann Fitzpatrick), die zu Draculas Opfer und später zur Vampirin wird. Ihr Nachnahme ist Westerman statt Westenra, aber Lucy müsste es ja inzwischen gewohnt sein, dass ihr Name in diversen Adaptionen leicht abgewandelt wird.

Ebenso wenig überrascht der Umstand, dass Dracula aus seinen Opfern drei „Bräute“ rekrutiert, neben der bereits erwähnten Lucy ist das die ebenfalls bereits erwähnte Diebin Solina sowie die relativ unbeteiligte Reporterin Valerie Sharpe (Jeri Ryan). An die Stelle Jonathan Harkers und der drei Vampirjäger tritt Van Helsings Gehilfe Simon, allerdings taucht im Film auch ein Dr. Seward (Robert Verlaque) auf – dessen Rolle fällt allerdings sehr klein aus und ist kaum mit dem Gegenstück aus Stokers Roman vergleichbar. Da Quincey Morris mal wieder komplett fehlt, ist es ein weiteres Mal Abraham Van Helsing, der als Vater der einen Hauptfigur und Mentor der anderen das zeitliche segnen darf. Nebenbei bemerkt, Christopher Plummer, der eine zumindest Van-Helsing-artige Rolle bereits in „Nosferatu in Venice“ spielte, liefert mit Abstand die beste schauspielerische Leistung. Alle anderen Darstellungen bleiben ziemlich flach, vor allem Gerard Butler fehlt als Dracula die Präsenz eines Lugosi, Lee oder Oldman. In gewissem Sinne knüpft Butler an Frank Langellas romantisch-brütende Darstellung der Figur an, aber selbst hier zieht er den Kürzeren. Wie man es auch dreht und wendet, als spartanischer Heerführer macht Butler deutlich mehr her als als Vampirfürst.

Der Graf und sein Genre
„Dracula 2000“ ist stilistisch ein nicht unbedingt bekömmliches, aber doch irgendwie faszinierendes Konglomerat alter und neuer Tropen des Horror- bzw. Vampirgenres. Man merkt, dass Lussier seinen Film jung, aktuell und sexy gestalten wollte, weshalb sich viele typische Merkmale gleichartiger Horror- bzw. Action-Filme der späten 90er und frühen 2000er finden (Bildsprache, Musik etc.), die den Film aus heutiger Perspektive in deutlich stärkerem Ausmaß altern lassen, als das bei so manchem älterem Film der Fall ist. Das Erscheinungsbild der Titelfigur ist ein ausgezeichneter Indikator: Weder hat die von Gerard Butler verkörperte Version den Schnurrbart und die haarigen Hände aus Stokers Roman, noch erinnert sie visuell an Bela Lugosi oder Christopher Lee. Stattdessen sind es die oft langhaarigen, attraktiven, düster-emotionalen Vampire der 90er, nach deren Vorbild dieser Dracula geformt ist, zumindest, was die Inszenierung angeht. Ein wenig Brad Pitts Louis de Pont du Lac hier, etwas David Boreanaz‘ Angel da und natürlich noch eine Prise Gary Oldmans Dracula – freilich ohne die Vielseitigkeit und Charaktertiefe. Tatsächlich bietet Butler gewissermaßen einen Vorgeschmack auf Stuart Townsends Lestat aus „Queen of the Damned“ (2002) – man wird das Gefühl nicht los, dass nicht etwa Tom Cruise in dieser Rolle, sondern Butler als Dracula Pate für Lestats zweiten Leinwandauftritt stand. Wie Oldmans Graf bekommt diese Inkarnation zudem eine gewisse Tragik und sogar eine göttliche Erlösung, die in den beiden Direct-to-DVD-Sequels freilich wieder zunichte gemacht wird.

Trotz des modernen Anstrichs versteckt sich in „Dracula 2000“ im Grunde die Hammer-Formel. Ich wies bereits auf die inhaltlichen Parallelen zu „Dracula A.D. 1972“ hin, diese gehen allerdings tiefer und erstrecken sich auf die gesamte Serie. Wie die Hammer-Filme flirtet auch „Dracula 2000“ stark mit der Verruchtheit und Erotik, die dem Vampir innewohnt. Das zeigt sich nicht nur durch diese sehr junge und attraktive Version von Dracula, sondern auch durch seine „Bräute“. Ein weiteres Mal wird in diesem Kontext dann jedoch der Madonna/Hure-Komplex bedient: Die reine, jungfräuliche Mary kann Dracula letztendlich widerstehen und kommt größtenteils unbeschadet aus der Angelegenheit heraus, während Solina, Lucy und Valerie, die jeweils als sehr promiskuitiv dargestellt werden, in letzter Konsequenz genau dafür bestraft werden und zuerst dem Vampirismus und dann dem endgültigen Tod zum Opfer fallen. Ähnlich wie die Hammer-Filme hat „Dracula 2000“ keinerlei Probleme damit, diese Promiskuität zu zeigen – schließlich befinden wir uns gerade in der Hochzeit der „sexy Vampire“, bevor die Twilight-Saga den Archetyp des keuschen Stalkers ins Rampenlicht rückte – aber trotz dieses Anstrichs vermittelt Lussiers Film doch eine sehr konservative Weltsicht.

Freilich hat „Dracula 2000“ noch eine ganz andere, religiöse Ebene, denn Dracula wird hier zwar auch mit Vlad Țepeș gleichgesetzt, aber eben nicht nur. Wie in anderen, früheren wie späteren Werken, ist der Ursprung des Vampirismus mit Dracula verknüpft. Während „Bram Stoker’s Dracula“ den Zustand des Grafen auf seine Beleidigung Gottes zurückführt und er in „Blade Trinity“ der Prototyp der Vampirspezies ist und aus dem alten Sumer stammt, wird er in „Dracula 2000“ als Judas Iskariot identifiziert, der für seinen Verrat an Jesus dazu verflucht wird, als unsterblicher Blutsauger über die Erde zu wandeln. Wobei impliziert wird, dass es nicht einmal so sehr der Verrat ist, der die Vampirnatur verantwortlich ist, sondern die darauffolgende Ablehnung Gottes durch Judas – gewissermaßen verflucht sich der Verräter aufgrund von Hass und Schuldgefühlen selbst. Damit wird sowohl seine Abscheu vor christlichen Symbolen erklärt als auch seine Schwäche gegen Silber (da Judas Jesus bekanntermaßen für 30 Silberstücke verrät). Die finale Tötung in diesem Film erfolgt dann schließlich weder durch Sonnenlicht, noch durch einen Pfahl ins Herz, sondern durch Hängen, wobei der Film impliziert, dass Dracula/Judas hier erlöst wird. Es ist freilich nicht das erste Mal, dass ein biblischer Ursprung für den Vampirismus gewählt wird: In „Vampire: The Masquerade“ ist es Kain und in mehr als einem Werk wird Lilith, Adams apokryphe erste Frau, zur Urmutter aller Blutsauger.

Fazit: „Dracula 2000“ ist weder eine gute Adaption, noch eine gute Fortsetzung von Bram Stokers Geschichte, aber ein durchaus faszinierendes Artefakt seiner Zeit, das wie so viele andere zeigt, dass die Idee, Dracula in die Moderne zu verpflanzen, selten erfolgreich ist.

Siehe auch:
Geschichte der Vampire: Dracula – Bram Stokers Roman
Geschichte der Vampire: Secret Origins
Dracula A.D. 1972
The Satanic Rites of Dracula
Dracula (BBC/Netflix)
Art of Adaptation: Dracula (1979)
Renfield
Nosferatu in Venice

Renfield

Poster_Renfield
Story: Seit vielen Jahrzehnten dient Renfield (Nicholas Hoult) dem mächtigen Vampirfürsten Dracula (Nicolas Cage), beschafft ihm Opfer oder hilft ihm, wenn er mal wieder von Vampirjägern attackiert wird. Um seinen Schuldgefühlen wenigstens etwas Linderung zu verschaffen, nimmt Renfield an den Treffen einer Selbsthilfegruppe Teil und führt seinem Meister die toxischen Partner der anderen Teilnehmer zu. Derweil versucht die Verkehrspolizistin Rebecca Quincy (Awkwafina), die Mitglieder der Lobo-Verbrecherfamilie dingfest zu machen. Eher durch Zufall verhindert Renfield einen Angriff der Lobos auf Rebecca. Erstmals beginnen andere, Renfield als Helden wahrzunehmen. Kann es ihm gelingen, sich aus dem toxischen Einfluss Draculas zu befreien?

Kritik: Ähnlich wie andere Ikonen der britischen Literatur, sei es Sherlock Holmes, Robin Hood oder König Artus, wird auch Dracula regelmäßig reaktiviert – oft ist Universal daran beteiligt, aufgrund des legendären Films von 1931 ist das Studio nach wie vor der Meinung, einen gewissen Besitzanspruch auf den Vampirfürsten erheben zu können. 2023 schickt Universal gleich zwei Kandidaten ins Rennen: „Renfield“ und „The Last Voyage of the Demeter“. Tonal scheinen beide Filme sehr unterschiedlich zu sein („The Last Voyage of the Demeter“ konnte ich allerdings noch nicht selbst in Augenschein nehmen), neben der Präsenz von Stokers Grafen haben sie aber vor allem eines gemeinsam: Beide erleiden an den Kinokassen Schiffbruch. Davon abgesehen findet sich noch ein anderer, deutlich älterer Dracula-Film, der einige überraschende Parallelen zu „Renfield“ aufweist: „Dracula 2000“, auch bekannt als „Wes Craven’s Dracula“: Beide Filme versetzen Dracula in die Gegenwart, fungieren dabei aber zumindest irgendwie als Fortsetzung der ursprünglichen Geschichte, spielen in New Orleans und haben einen Score von Marco Beltrami. „Renfield“ ist tonal allerdings ein völlig anderes Biest als „Dracula 2000“, denn hierbei handelt es sich um eine relativ eindeutige Komödie – Regisseur Chris McKay und Drehbuchautor Ryan Ridley lassen an diesem Umstand keinen Zweifel.

Ich hatte „Renfield“ gegenüber im Vorfeld einiges an Gutwillen: Zum einen hat „What We Do in the Shadows“ (Film wie Serie) nachhaltig bewiesen, dass eine Vampirkomödie sehr gut funktionieren kann und zum anderen ist die Idee eines Dracula spielenden Nicolas Cage natürlich sehr verführerisch. Konzeptionell ist „Renfield“ zudem äußerst vielversprechend. Nachdem die Figur des Renfield oft eher Nachgedanke ist und selten viel Aufmerksamkeit bekommt, ist die Idee, die toxische Beziehung zwischen dem Diener und seinem Herrn aufzuarbeiten, ein durchaus brauchbarer Ansatz. Diesbezüglich ist „Renfield“ wahrlich nicht subtil: Toxizität, sowohl in einer romantischen als auch einer professionellen Beziehung wird sehr offen angesprochen und thematisiert, nicht zuletzt durch die Selbsthilfegruppe, an deren Treffen Renfield regelmäßig teilnimmt. Auch Draculas Verhalten gegenüber Renfield spricht eine sehr, sehr deutliche Sprache, von den mehr oder weniger subtilen Manipulationen bis hin zum Gaslighting. Die Szenen zwischen Nicholas Hoult als Renfield und Nicolas Cage als Dracula sind zweifelsohne auch der Höhepunkt des Films.

Neben diesem zentralen Handlungsstrang gibt es allerdings noch einen zweiten, der sich mit der von Awkwafina gespielten Rebecca Quincy (eine Anspielung auf Quincey Morris?) und ihrem Kampf gegen die mafiöse Lobo-Familie auseinandersetzt. Dieser ist leider deutlich weniger interessant, sorgt für die eine oder andere Länge (was in einem gerade einmal 93 Minuten dauernden Film eigentlich nicht der Fall sein sollte) und wirkt merkwürdig deplatziert. Zwar interagieren die beiden Handlungsstränge durchaus miteinander, Renfield muss sich mit den Lobos auseinandersetzen und Dracula übernimmt gegen Ende gewissermaßen die Macht über die Gangster, aber dennoch wirkt diese Sekundärhandlung wie ein Fremdkörper, der von der deutlich interessanteren Renfield/Dracula-Dynamik ablenkt. Auch abseits davon hat „Renfield“ einige tonale Probleme. Primär ist diese Komödie überdrehter, als ihr guttut. Einerseits versucht sie, die Toxizität authentisch darzustellen, schießt dann aber weit übers Ziel hinaus, wenn sowohl Renfield als auch Dracula in völlig überhöhte Kampfszenen mit viel schlecht animiertem CGI-Blut verwickelt werden, die besser zu „Deadpool“ als zu einem Dracula-Film passen. Apropos Superhelden: Dass Renfield gerne Insekten verspeist, dürfte ja allseits bekannt sein. Hier bekommt er allerdings kurzzeitig Superkräfte, wenn er sich an Krabbeltieren gütlich tut, was die Parallelen zu „Deadpool“ und anderen Superheldenfilmen noch erhöht. Zudem verfügt „Renfield“ über eine ganze Reihe an übermäßig selbstreferenziellen und plakativen Momenten, die dem Film einfach nicht guttun.

Da „Renfield“ von Universal vertrieben wird, finden sich viele Anspielungen auf Tod Brownings „Dracula“ mit Bela Lugosi. Nicht nur wurde der Film mehrfach als Fortsetzung des Klassikers bezeichnet, sogar einige Szenen wurden direkt nachgestellt, mit Cage an Stelle Bela Lugosis und Hoult statt Dwight Frye. Cages Dracula ist allerdings deutlich… sagen wir, extrovertierter als Lugosis Interpretation der Figur. Abseits der überdrehten Gebahrens bin ich vielleicht sogar geneigt, dieser Version der Figur eine etwas größere Nähe zu Bram Stokers ursprünglichem Charakter zu attestieren: Cages Dracula besitzt, anders als Lugosis Graf, kaum klassisch-verführerischen Tendenzen, was auch damit zusammenhängen könnte, dass er die erste Hälfte des Films damit beschäftigt ist, sich von sehr verheerenden Verletzungen zu regenerieren. Wenn Dracula lockt, dann ist es mit dem Versprechen von Macht und nicht mit erotischer Ausstrahlung oder sexueller Verführung. Abseits dieser stärker an den Roman angelehnten Charakterisierung des Grafen finden sich relativ wenig Anspielungen an Stokers Werk – einmal mehr ist Dracula hier eine abstrakte Verkörperung des bösen Vampirs als Archetyp. Zudem wollte man eine positivere Darstellung eines „Abusers“ vermeiden. Drei Details sind allerdings erwähnenswert: Zum einen wird Dracula einmal als „Voivode der Walachei“ bezeichnet, was zumindest andeutet, dass auch „Renfield“ der weit verbreiteten Tendenz folgt, aus Dracula und dem historischen Vlad Țepeș dieselbe Figut zu machen. Und zum anderen sind die Figuren des Films mit dem Namen „Dracula“ vertraut, es wird allerdings nicht mitgeteilt, weshalb. Da man davon ausgehen muss, dass die Ereignisse des Lugosi-Klassikers als Vorgeschichte fungieren, besteht die Möglichkeit, dass Bram Stoker in der erzählten Welt des Films seinen Roman basierend auf diesen Ereignissen (wenn auch stark abgeändert) verfasst hat. Schließlich und endlich kann Renfields Vorname als Anspielung auf den Roman betrachtet werden. In diesem erfahren wir nur seine Initialen, R. M. Renfield, was dazu führte, dass er in vielen Adaptionen entweder keinen Vornamen hat, oder aber einen völlig neuen bekommt, etwa Milo, Frank oder Thomas. Hier lautet sein voller Name Robert Montague Renfield, was mit den Initialen immerhin konform geht und durchaus passen könnte.

Fazit: „Renfield“ ist eine in der Idee interessante, in der Umsetzung aber eher schwache und zu überdrehte Horror-Komödie mit deutlich zu vielen Anlehungen an den Superheldenfilm, die jedoch zumindest Abschnittsweise dank der Spielfreude von Nicolas Cage und Nicholas Hoult zu unterhalten weiß.

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Siehe auch:
Geschichte der Vampire: Dracula – Bram Stokers Roman
Geschichte der Vampire: Dracula – Universals Graf
Geschichte der Vampire: Dracula – Der gezeichnete Graf
Art of Adaptation: Dracula (1979)

Oppenheimer

Oppenheimer_(film)
Story: Der Physiker J. Robert Oppenheimer (Cillian Murphy) wird während des Zweiten Weltkriegs von Lieutenant General Leslie R. Groves (Matt Damon) mit der Leitung des Manhattan Projects zur Entwicklung der Atombombe betraut. Die Bemühungen erweisen sich als erfolgreich, das Projekt gelingt und der Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki beendet den Zweiten Weltkrieg. Doch Jahre später schwindet das Ansehen des „Vaters der Atombombe“, er gerät unter den Verdacht, ein Kommunist zu sein droht, durch die Intrigen des ambitionierten Politikers Lewis Strauss (Robert Downey jr.) nicht nur seine Sicherheitsfreigabe, sondern auch sein Ansehen zu verlieren…

Kritik: Christopher Nolans „Oppenheimer“ ist ein rundum faszinierendes Projekt, begonnen bei seiner Konzeption über den Kontext der Veröffentlichung bis hin zum eigentlichen Filminhalt. Mit diesem Film beweist Nolan ein weiteres Mal, dass er einer der letzten großen Autorenfilmer Hollywoods ist: Wer sonst bekäme ein derartiges Budget, von der beeindruckenden Riege an hochkarätigen Stars und Darstellern gar nicht erst zu sprechen, für das Biopic des „Vaters der Atombombe“? Dass „Oppenheimer“ trotz seiner Natur wegen Nolans Namen allein Aufmerksamkeit generieren würde, war ohnehin klar, aber die Wirkung, die der Film entwickelte, konnte man nun wirklich nicht vorhersehen, Stichwort „Barbenheimer“. Gemeinsam mit Greta Gerwigs „Barbie“ mutierte „Oppenheimer“ zu DEM Kinoereignis des Sommers, wahrscheinlich sogar des Jahres, das einer von Corona und (absolut gerechtfertigten) Streiks angeschlagenen Kinobranche zumindest einen Hauch Hoffnung beschert.

Von einem konventionellen Biopic ist „Oppenheimer“ freilich weit entfernt. Wie nicht anders zu erwarten experimentiert Nolan auch in diesem Film freudig mit Zeit, Zeitwahrnehmung und Erzählstruktur, wobei sich die ersten beiden Akte des Films stark vom dritten unterscheiden, man könnte sogar von einem Genrewechsel sprechen. Nolan umrahmt Oppenheimers Vorgeschichte und die eigentliche Schaffung der Atombombe nicht mit einer, sondern gleich mit zwei Rahmenhandlungen, zwei Anhörungen, die deutlich nach dem Zweiten Weltkrieg stattfinden: In der ersten steht Oppenheimers Sicherheitsfreigabe auf dem Prüfstand, in der zweiten, einer Senatsanhörung, geht es um Lewis Strauss‘ Bestätigung als Handelsminister der Vereinigten Staaten. Zu Anfang fungieren diese Anhörungen als Erzählrahmen, der erste Akt erinnert dabei noch am meisten an ein typisches Biopic, als Zuschauer erhalten wir verhältnismäßig knappe, ausgewählte Einblicke in Oppenheimers Leben vor dem Manhatten Project, inklusive Gastauftritten diverser Wissenschaftsgrößen, darunter Niels Bohr (Kenneth Branagh), Werner Heisenberg (Matthias Schweighöfer) oder Albert Einstein (Tom Conti). Der zweite Akt ist weniger sprunghaft, hier steht die Konstruktion der Atombombe bis zum erfolgreichen Testlauf im Fokus, im dritten Akt hingegen werden die beiden Anhörungen zum zentralen Element.

Nun ist „Oppenheimer“ sicher kein Actionfilm, im Prinzip besteht der Film aus vielen Unterhaltungen über zum Teil sehr wissenschaftliche Themen. Dennoch ist das Ganze derart dynamisch bzw. bombastisch inszeniert und geschnitten, dass Oppenheimers Leben eine beeindruckende Sogwirkung entwickelt. Die Atombombe scheint in den ersten beiden Akten das Zentrum eines dramaturgischen Strudels zu sein, auf das alle Ereignisse des Films zusteuern bzw. von dem sie angezogen werden, inklusive der Rahmenhandlung, die zwar nach dem erfolgreichen Test spielt, zugleich aber ebenfalls als Erzählinstanz auf diesen hinarbeitet. Gerade hier zeigt Nolan seine Meisterschaft, denn diese komplexe narrative Herangehensweise hätte in den Händen eines geringeren Regisseurs oder Drehbuchautors leicht in die Hose gehen können, funktioniert hier jedoch ausgezeichnet. Das einnehmende Momentum der ersten beiden Akte geht nach dem erfolgreichen Test der Bombe verloren – hier mutiert „Oppenheimer“ regelrecht zum Politthriller, die Anhörungen arten zum Duell der Rivalen Strauss und Oppenheimer aus. Das, wohlgemerkt, ohne dass es zur direkten Konfrontation käme und mit der Option, dass diese Duell-Narrative lediglich auf Strauss‘ Wahrnehmung beruht. Schnitt und Strukturierung sorgen allerdings abermals dafür, dass keinerlei Langeweile aufkommt und der Film eine beeindruckende Dynamik beibehält, auch wenn, notgedrungen, der Sog der ersten beiden Akte nicht beibehalten wird. Während sich die ersten beiden Stunden des Films mit der Frage beschäftigen, ob und wie die Atombombe gebaut werden kann, konzentriert sich die dritte auf die Konsequenzen, moralischen Implikationen etc.

Bei einem derart komplexen Sujet bleiben natürlich viele Elemente auf der Strecke – wer sich etwa eine adäquate Darstellung der wissenschaftlichen Hintergründe gewünscht hat, wird unweigerlich enttäuscht, auch wenn diese im ersten Akt zumindest in Ansätzen etwas angerissen werden. Nolan geht es viel mehr um Themen wie Verantwortung und persönliche Wahrnehmung. Ein immer wiederkehrendes Element in der Handlung ist Oppenheimers Gespräch mit Einstein, das mehrfach aus verschiedenen Perspektiven gezeigt wird. Wahrnehmung und Standpunkt bestimmen zudem die Farbgebung des Films: Szenen in schwarzweiß sollen eine gewisse Objektivität vermitteln, während Farbe von Oppenheimers persönlichem Blickwinkel kündet, man könnte es allerdings auch figurenabhängig interpretieren: Farbig für Oppenheimer, schwarzweiß für Strauss. Immer wieder bekommt man zudem Einblicke in die Gedankenwelt des Wissenschaftlers, etwa wenn er sich physikalische Prinzipien visualisiert oder Visionen von der Wirkung der Atombombe hat. Ähnlich wie in „Dunkirk“ bleibt Nolan der Perspektive seiner Protagonisten verhaftet, weder die Nazis noch die Japaner werden in irgendeiner Form gezeigt, auch der Abwurf der Atombombe bleibt ein Ereignis, über das wir als Zuschauer nur informiert werden. Nolan zeigt lediglich Oppenheimers Vorstellung der Konsequenzen.

Noch beeindruckender als sonst fällt dieses Mal die Darstellerriege aus, sowohl was die Leistungen als auch der schieren Präsenz großer Namen angeht. Dass dieser Film Cillian Murphy gehört, dürfte wohl absolut niemand überraschen. Es handelt sich bereits um die sechste Zusammenarbeit von Nolan und Murphy, allerdings die erste, in der er sich seiner als Hauptdarsteller bedient. Murphy liefert eine beeindruckende Darstellung des Wissenschaftlers ab, umso mehr, da der Film sich so sehr an seiner Perspektive orientiert. Das schreit regelrecht nach einer Oscar-Nominierung, wenn nicht gar nach einem Sieg, und in diesem Fall wäre das auch völlig gerechtfertigt. Abseits von Murphy ist „Oppenheimer“ so hochkarätig besetzt wie kein anderer Nolan-Film – angesichts der Darstellerriege, die der Regisseur in seinen bisherigen Filmen um sich versammeln konnte, ist das ein beeindruckendes Urteil. Murphy stellt alle anderen zwar gnadenlos in den Schatten, nicht zuletzt wegen des zentralen Fokus auf die Titelfigur, aber gerade die Performance von Robert Downey jr. ist kaum weniger eindrucksvoll. Auch abseits dieser beiden ist „Oppenheimer“ wirklich bis in die kleinste Rolle extrem prominent besetzt. Trotz begrenzter Leinwandzeit hinterlassen Emily Blunt als Oppenheimers Ehefrau Katherine und Florence Pugh als seine Geliebte Jean Tatlock ebenso einen bleibenden Eindruck wie Matt Damon als Leslie Groves. Kenneth Branagh, hier zu sehen als Niels Bohr, scheint nach „Dunkirk“ und „Tenet“ langsam zu einem von Nolans Standardschauspielern zu werden und auch das Mitwirken von Matthew Modine (als Vannevar Bush) und David Dastmalchian (als William L. Borden) ist kaum verwunderlich. Wirklich überrascht hingegen hat mich Gary Oldmans fünf Minuten dauernder, aber von unkenntlich machendem Make-up geprägter Auftritt als Präsident Harry S. Truman. Fehlt eigentlich nur Michael Caine…

Was den Score angeht, wandte sich Nolan erneut an Ludwig Göransson, nachdem dieser bei „Tenet“ bewies, dass er ebenfalls Zimmer’sche Klanggebilde schaffen kann. Nolan bemüht sich bezüglich Musik und Sounddesign wie üblich um ein immersives Erlebnis, was zur Folge hat, dass beide Elemente der Tonspur oftmals verschmelzen. Göranssons Arbeit hier ist, trotz eines gewissen Hangs zum Minimalismus und zu abstrakten Klangteppichen, allerdings deutlich besser und angenehmer hörbar als die Scores von „Dunkirk“ oder „Tenet“ mit ihren aggressiven Sounddesign-Elementen. Über weite Strecken dominieren durchaus melodische Steicherpassagen, die dazu dienen, Oppenheimers emotionales Innenleben darzustellen. Die wissenschaftlichen Bestandteile der Geschichte, aber auch das politische Drama, werden dagegen eher durch Synth- und Eletronica-Elemente, die z.T. vage an Vangelis erinnern, repräsentiert. Gemessen am Nolan’schen Soundtrack-Standard ist dieser hier fast schon zugänglich und auch außerhalb des Films genießbar.

Fazit: Ist „Oppenheimer“ Nolans bester Film? Dieses Urteil möchte ich (noch) nicht fällen. Gerade von handwerklicher, narrativer oder schauspielerischer Seite ließe sich zweifelsohne ein gutes Argument machen, andererseits habe ich, aufgrund meiner Prädisposition, nach wie vor eine große Vorliebe für „Batman Begins“ und „The Dark Knight“. Ist „Oppenheimer“ einer der, wenn nicht gar DER beste Film des Jahres 2023? Mit Sicherheit. „Oppenheimer“ ist ein einnehmendes, anspruchsvolles, aber dennoch spannendes und mitreißendes Portrait eines ebenso genialen wie zerrissenen Menschen. Wer mit Nolans Stil und Eigenheiten nichts anfangen kann, wird durch „Oppenheimer“ sicher auch nicht bekehrt, aber alle anderen sollten sich diesen Film nicht entgehen lassen.

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Siehe auch:
Dunkirk