Unglaublich aber wahr: Nach der Sichtung der sechsten Episode von „Guillermo del Toro’s Cabinet of Curiosities“, „Dreams in the Witch-House“, sah ich mich gezwungen, die fünfte Episode, „Pickman’s Model“, zu reevaluieren. Bei beiden handelt es sich um sehr lose Adaptionen von Lovecraft-Geschichten; in meiner Rezension kam „Pickman’s Model“ nicht allzu gut weg. Nachdem ich nun aber die Adaption von Mika Watkins (Drehbuch) und Catherine Hardwicke (Regie) gesehen habe, musste ich „Pickman’s Model“ deutlich aufwerten. An meinen Kritikpunkten hat sich zwar nicht unbedingt etwas geändert, aber immerhin sind in dieser Episode der Serie noch erkennbare Spuren der ursprünglichen Geschichte vorhanden, von den sonstigen Qualitäten gar nicht erst zu sprechen.
Eine ausführliche Inhaltsangabe von Lovecrafts Kurzgeschichte lohnt sich an dieser Stelle praktisch nicht, da ohnehin kaum etwas geblieben ist, darum werde ich ausnahmsweise die Episode als Ausgangspunkt verwenden. Walter Gilman (als Kind: Gavin MacIver-Wright, als Erwachsener: Rupert Grint) muss mitansehen, die Seele seiner Schwester Epperley (Daphne Hoskins) ins Jenseits gezerrt wird. Fortan dreht sich sein Leben nur noch darum, mit Epperleys Geist Kontakt aufzunehmen – selbst seinem Freund Frank Elwood (Ismael Cruz Cordova), der ihn auf seiner spiritistischen Suche begleitet, wird es irgendwann zu viel. Walter glaubt, seinem Ziel näher zu kommen, indem er sich ein Zimmer im Haus der hingerichteten Hexe Keziah Mason (Lize Johnston) mietet. Schließlich gelingt es Walter, mithilfe einer speziellen Droge einen Weg in das Jenseits zu finden, doch genau dies wollen die zwar tote, aber doch noch ziemlich aktive Keziah und ihr Familiar Jenkins Brown (DJ Qualls) ausnutzen, um in die Welt der Lebenden einzudringen…
Wer mit der Geschichte vertraut ist, merkt sofort: Kaum etwas ist übriggeblieben, im Grunde haben Hardwicke und Watkins lediglich die Namen (Walter Gilman, Keziah Mason, Frank Elwood und Jenkins Brown, bei Lovecraft Brown Jenkin) sowie die sehr grobe Prämisse genommen und eine völlig eigene Geschichte erzählt. Konzeptioneller Kern von „The Dreams in the Witch-House“ ist die Idee, eine klassische Gestalt der Horrorliteratur, die Hexe, zu nehmen und sie in den Kontext kosmischen Horrors zu setzen. Lovecrafts Walter Gilman, Student an der Miskatonic Universität in Arkham, sucht nicht nach der Seele seiner Schwester, sondern glaubt, Keziah Masons „Magie“ sei in Wahrheit extrem fortschrittliche Mathematik, die es ihr unter anderem erlaubt, durch Raum und Zeit zu reisen. In ihr Haus zieht er ein, um seine Erforschung der noneuklidischen Geometrie weiterzutreiben. Nicht nur stellt sich heraus, dass Gilman recht hat, unglücklicherweise wird er von bösartigen Träumen heimgesucht und muss erkennen, dass Keziah Mason ihr finsteres Werk fortführen möchte und dabei den finsteren Göttern Nyarlathotep und Azathoth dient.
Jegliche Spuren des „Cthulhu-Mythos“, von den erwähnten Entitäten bis hin zum obligatorischen Gastauftritt des legendären Necronomicon, wurden vollständige aus der Adaption getilgt. Dasselbe gilt auch für den kosmischen Horror, der die Geschichte ausmacht. Ob Lovecrafts Versuch, klassischen Grusel mit seiner kosmizistischen Philosophie zu verknüpfen, wirklich erfolgreich war, ist freilich diskutabel, Lovecraft-Experte S. T. Joshi kann „The Dreams in the Witch-House“ beispielsweise kaum etwas abgewinnen. Die Adaption im Rahmen von „Guillermo del Toro’s Cabinet of Curiosities“ entnimmt der Story jedoch jeglichen interessanten Ansatz und macht ein generisches Gruselmärchen aus ihr, das nicht einmal besonders furchterregend ist. Keziah Mason wirkt eher lächerlich denn erschreckend und Jenkins Brown/Brown Jenkin, schon in der Kurzgeschichte ein Element, das für mich persönlich nicht funktioniert, wirkt ziemlich bescheuert. Selbst auf handwerklicher und struktureller Ebene bleibt „Dreams in the Witch-House“ hinter den anderen Episoden der Anthologie-Serie zurück. Ironischerweise ist es „Pickman’s Model“, das atmosphärisch näher an Lovecrafts Geschichte herankommt. Zumindest kommt die dort auftauchende Hexe meiner Vorstellung von Keziah Mason deutlich näher als das merkwürdige Baumwesen, zu dem sie im Kontext dieser Adaption gemacht wurde.
Fazit: „Dreams in the Witch-House“ hat mich der gleichnamigen Lovecraft-Geschichte so gut wie gar nichts zu tun, bietet keinen kosmischen Horror und kann auch sonst nicht überzeugen. Rupert Grints Performance ist der einzige Grund, sich diese schwächste Episode aus Guillermo del Toros Anthologie-Serie anzusehen.
Nun ist sie also komplett, die erste Staffel der ersten Tolkien-Fernsehserie, Amazons Prestigeprojekt, das im weiteren Sinne das „neue ‚Game of Thrones‘“ werden soll und das sich der Konzern viel, viel Geld hat Kosten lassen. Bereits vor einigen Wochen, nachdem die ersten beiden Folgen an den Start gingen, schrieb ich einen Artikel über meine Eindrücke – viele meiner Befürchtungen und Ahnungen haben sich bestätigt, während sich meine Meinung im Großen und Ganzen nicht wirklich geändert hat. Dennoch gibt es natürlich viel zu analysieren und zu vergleichen.
Ein Blick auf das Zweite Zeitalter von Mittelerde
Ausnahmsweise beginnen wir nicht mit einer Beschreibung der Handlung, sondern mit einem Blick auf die Vorlage, um dieses Projekt überhaupt erst richtig einordnen zu können. Wie inzwischen allgemein bekannt sein dürfte, spielt die „The Lord of the Rings: The Rings of Power“ im Zweiten Zeitalter von Mittelerde, während die Ereignisse der beiden Filmtrilogien sowie der Romane, auf denen sie basieren, im Dritten Zeitalter zu verordnen sind. Die Entscheidung, „The Rings of Power“ in diesem Zeitalter anzusiedeln, wurde sowohl aus kreativen als auch aus rechtlichen Gründen getroffen. Das Tolkien Estate behielt sich ein gewisses Mitspracherecht vor und erteilte einigen Konzepten, etwa einer neuen Adaption der eigentlichen Handlung des Romans oder Spin-offs zu Figuren wie Aragorn oder Gollum eine Absage. Aus kreativer Perspektive ist das Zweite Zeitalter ein verhältnismäßig unbeschriebenes Blatt. Nicht nur gab es vor „The Rings of Power“ keine filmischen Umsetzungen, den Prolog von „The Fellowship of the Rings“ und einige Flashbacks ausgenommen, auch in Tolkiens Schriften wird es am wenigsten ausführlich thematisiert. Abseits des „Lord of the Rings“ und des „Hobbit“ bewegte sich Tolkien vor allem im Ersten Zeitalter, das vom Krieg der Elben gegen Morgoth dominiert wird. Hier sind die epischen Legenden Mittelerdes angesiedelt, die im „Lord of the Rings“ immer wieder als mythische Geschichten auftauchen, die sich die Figuren erzählen – der Großteil des „Silmarillion“ setzt sich damit auseinander, ebenso wie diverse spätere Posthumveröffentlichungen wie „The Children of Húrin“ oder „Beren and Lúthien“. Im Gegensatz dazu finden sich kaum erzählende Texte, die während des Zweiten Zeitalters angesiedelt sind. Beim Großteil des Materials handelt es sich um zusammenfassende Geschichtswerke wie die „Akallabêth“, ein Kapitel des „Silmarillion“, das sich mit der Geschichte des im Zweiten Zeitalters dominanten Inselkönigreichs Númenor auseinandersetzt. Andere Texte aus der „History of Middle-earth“ oder „Unfinished Tales of Númenor and Middle-earth” bleiben, der Titel von Letzterem deutet es an, unvollendet. Insofern ist es nicht die schlechteste Entscheidung, die Serie im Zweiten Zeitalter anzusetzen, da dieses die meisten Freiheiten bietet und am wenigsten ausgestaltet ist. Wer sich dennoch dafür interessiert, was Tolkien über das Zweite Zeitalter geschrieben hat, kann sich glücklich schätzen, denn just ist eine von Brian Sibley zusammengestellte Kompilation der relevanten Texte aus den oben genannten Veröffentlichungen mit dem Titel „The Fall of Númenor“, wie üblich illustriert von Alan Lee, erschienen – ganz sicher ohne Hintergedanken. Das führt uns nun aber auch direkt zum nächsten Problem, denn all diese Werke durften für „The Lord of the Rings: The Rings of Power“ ohnehin überhaupt nicht benutzt werden, da Amazon „nur“ die Rechte am tatsächlichen Roman „The Lord of the Rings“ sowie den Anhängen erworben hat, nicht aber am „Silmarillion“, den „Unfinished Tales“ etc. Dem Tolkien-Kenner fällt das immer wieder auf, beispielsweise im Prolog der ersten Folge, in welchem Ereignisse aus diesen Werken impliziert, aber nicht explizit dargestellt werden, eben weil das zu rechtlichen Problemen führen würde.
Galadriel (Morfydd Clark)
Showrunner J. D. Payne und Patrick McKay entschieden sich schließlich dazu, das über dreitausend Jahre umfassende Zweite Zeitalter stark zu komprimieren und Ereignisse, die zum Teil viele hundert Jahre auseinander liegen, in direkter Abfolge zu zeigen. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: Bereits im Jahr 1000, noch bevor die Ringe der Macht geschmiedet werden, beginnt Sauron damit, Barad-dûr zu errichten, während Galadriel und Celeborn sich im Jahr 1350 in Lothlórien niederlassen. Das Schmieden der Ringe der Macht findet ebenfalls in diesem Zeitraum statt, zwischen den Jahren 1500 und 1600. Viele der essentiellen Sterblichen Figuren, primär Elendil, Isildur, Míriel und Pharazôn, werden erst gut 1500 Jahre später, gegen Ende des Zweiten Zeitalters, überhaupt geboren. Ebenso liegt zwischen dem Schmieden der Ringe der Macht, das für die Serie titelgebende ist, und dem Untergang Númenors, der mit großer Wahrscheinlichkeit ein, wenn nicht DAS zentrale Ereignis kommender Staffeln sein wird (es wird bereits massiv angedeutet) eine ähnlich lange Zeitspanne. Dagegen sind die 17 Jahre, die Jackson und Co. aus „The Lord of the Rings“ tilgten, praktisch kaum der Erwähnung wert. Im Kontext einer derartigen Adaption sind diese Anpassungen tatsächlich ziemlich verständlich. Tolkien konzipierte die Inhalte des Zweiten Zeitalters primär als Hintergründe, ohne dort tatsächliche Narrativen anzusiedeln. Natürlich hätte man auch mit unterschiedlichen Zeitebenen oder großen Zeitsprüngen arbeiten können, aber das wäre dann vielleicht selbst für dieses Projekt zu ambitioniert gewesen.
Handlung, Konzeption und Struktur
Sowohl „The Hobbit” als auch „The Lord of the Rings” sind klassische Abenteuer- bzw. Questhandlungen: Einen Schatz finden, einen Ring zerstören. Essentiell ist dabei natürlich die Hobbit-Perspektive. Im Gegensatz dazu ist das Zweite Zeitalter stärker von politischen Machenschaften geprägt – die Geschichte Númenors ist eine Geschichte der Korruption und des Verfalls einer großen Zivilisation, es fehlen die klassischen Abenteuerelemente, die sowohl in den beiden Romanen Tolkiens als auch in vielen Geschichten des Ersten Zeitalters gegeben sind. Amazon wollte allerdings keine „Polit-Fantasy“ mit Fokus auf höfische Intrigen und Machtkämpfe in Númenor, sondern eine Serie, die an die Qualitäten der bisherigen Filme anknüpft, schließlich ist es das, was sich die breite Zuschauerschaft unter einer LotR-Serie vorstellt. Dementsprechend fällt auch die Konzeption aus; viele der Themen und Elemente, die Tolkien als essentiell empfand, sind zwar vorhanden, fungieren aber lediglich als Hintergrund.
Das zeigt sich bereits beim Ausgangspunkt der Handlung: Seitdem Morgoth besiegt wurde, herrscht Frieden, doch die Elbin Galadriel (Morfydd Clark) ist davon nicht überzeugt, denn Sauron, Morgoths mächtigster Diener und Mörder ihres Bruders Finrod (Will Fletcher), ist nach dem Fall seines Meisters verschwunden. Wie eine Besessene jagt die Kriegerin nach Spuren Saurons und weigert sich sogar, nach Valinor zurückzukehren. Stattdessen verunglückt sie auf See und begegnet dort dem ebenso schiffbrüchigen Halbrand (Charlie Vickers). Beide werden schließlich von dem númenorischen Kapitän Elendil (Lloyd Owen) aus dem Wasser gefischt und mit nach Númenor genommen. Da die Elben und Númenorer früher zwar Verbündete waren, sich inzwischen aber entfremdet haben, sind durch Galadriels Ankunft Konflikte vorprogrammiert. Da Númenor ohnehin gerade dabei ist, auf eine Regierungskrise zuzusteuern, ist sie nicht unbedingt willkommen…
Bronwyn (Nazanin Boniadi) und Arondir (Ismael Cruz Córdova)
Galadriels guter Freund Elrond (Robert Aramayo) soll derweil im Auftrag seines Königs Gil-galad (Benjamin Walker) und des Schmiedes Celebrimbor (Charles Edwards) die Beziehungen zum Zwergenkönigreich Khazad-dûm auffrischen, da Durin (Owain Arthur), der Prinz besagten Reiches, ein alter Freund Elronds ist. Celebrimbor schwebt ein großes Schmiede-Projekt vor, das den Elben dabei helfen soll, ihre Macht zu erhalten, da die sie generell auf dem Rückzug sind. Davon betroffen sind auch die Südlande, denn die dort stationierten Elben, darunter Arondir (Ismael Cruz Córdova), der davon nicht allzu begeistert ist, hat er doch Gefühle für die Menschenfrau Bronwyn (Nazanin Boniadi) entwickelt. Just in diesem Moment droht allerdings eine neue Gefahr für die Menschen der Südlande: Seit langer Zeit werden erstmals wieder Orks gesichtet, die sich unter Führung des enigmatischen Adar (Joseph Mawle) sammeln. Andernorts fällt ein mysteriöser Fremder (Daniel Weyman) vom Himmel und wird von den Haarfüßen, einem kleinwüchsigen Nomadenvolk, gefunden. Während die anderen Haarfüße skeptisch sind, versucht die junge Nori Brandyfoot (Markella Kavenagh) mit dem Fremden Freundschaft zu schließen, der anscheinend über besondere Kräfte verfügt und zu alledem nicht weiß, wo er herkommt.
An dieser doch verhältnismäßig knappen Inhaltsangabe zeigt sich, dass „The Rings of Power“ eine ganze Menge Figuren und Handlungsstränge hat, mit der die Serie über den Verlauf dieser ersten Staffel arbeiten kann und muss. Hinzu kommt, dass die Folgen zwar mitunter recht lange sind und zum Teil über eine Stunde dauern, es dafür aber nur acht gibt. All das führt bereits zu einigen strukturellen Problemen, sowohl in Bezug auf die Einzelepisoden als auch, was die gesamte Staffel angeht. Es lohnt sich, zum Vergleich eine Fantasy-Serie mit ähnlich epischen Ausmaßen anzusehen. Gerade in den frühen Staffeln litt „Game of Thrones“ teilweise ebenfalls am „Clipshow-Prinzip“: Einige Folgen fühlten sich an wie eine extrem teure Clipshow, in der jeder der vielen Handlungsstränge einmal kurz besucht wird. Das mag beim Binge-Watching weniger stören, ist aber beim wöchentlichen Veröffentlichungsrhythmus suboptimal. Die mit Abstand beste Folge von „The Rings of Power“ ist die sechste, „Udûn“, eben genau, weil sie sich nicht wie eine Clipshow, sondern eine halbwegs anständige narrative Einheit anfühlt. Ein weiteres Problem ist der Umstand, dass die Serie bereits enorm versprengt beginnt. Um noch einmal „Game of Thrones“ zu Vergleichszwecken heranzuziehen: Auch diese Serie arbeitet mit einer großen Menge an Figuren und Handlungssträngen, hat aber den Vorteil, dass sich zu Anfang alle essentiellen Figuren, mit Ausnahme von Daenerys, an einem Ort befinden und von dort aus auf ihre Reise starten. Tatsächlich nannte George R. R. Martin diesbezüglich „The Fellowship of the Rings“ als wichtige Inspirationsquelle. Dieser „gemeinsame Anfang“ hilft ungemein dabei, eine derartige Serie stärker zur Einheit zu machen. Immerhin finden im Verlauf von „The Rings of Power“ diverse Handlungsstränge zueinander, aber nicht in ausreichendem Maße. Die Haarfüße und der Fremde bleiben von der Haupthandlung völlig isoliert und manche Figuren, primär Bronwyn, Arondir und Adar, werden gegen Ende fast völlig vergessen.
Art of Adaption: Tolkien, Jackson und das Vermächtnis Mittelerdes
Wenn es um die Adaption von Tolkiens Werken geht, sind die Filme von Peter Jackson nach wie vor der dominierende Faktor, an dem man einfach nicht vorbeikommt – zu sehr haben sie die allgemeine Wahrnehmung beeinflusst. Aus diesem Schatten kann „The Rings of Power“ nicht heraustreten, was zu einer ebenso merkwürdigen wie interessanten Persönlichkeitsspaltung führt. Bereits im Vorfeld fragte man sich: Spielt die Serie in derselben Kontinuität wie die Jackson-Filme und ist ein amtliches Prequel oder macht sie „ihr eigenes Ding“? Formal gesehen ist Letzteres der Fall, schon allein weil Amazon keine Rechte an den beiden Trilogien von New Line bzw. Warner besitzt, gleichzeitig finden sich aber immer wieder mehr oder weniger subtile Verweise oder Anleihen. Das beginnt bei der Wahl Neuseelands als Drehort (was sich aber für Staffel 2 ändert), dem mit Howard-Shore-Musik unterlegten Intro und vielen der Designs, die zumindest von den Filmen inspiriert und beeinflusst wurden, seien es Masken und Make-up der Orks oder die Jugendstilelemente bei den Elben. Angesichts der Tatsache, dass Tolkien-Künstler John Howe nach seinem Mitwirken an den beiden Jackson-Trilogien auch bei „The Rings of Power“ involviert war, ist das kaum verwunderlich. Besonders offensichtlich wird es bei den beiden Gastauftritten eines Balrogs (bzw. des Balrogs aus Moria), der so sehr nach dem Design der Filme aussieht, dass ich nach wie vor davon ausgehe, dass Amazon für die Verwendung zahlen musste. Lange Rede, kurzer Sinn: Man war sehr darauf bedacht, Erinnerungen an die Jackson-Trilogien zu wecken. Wenn die Serie dann aber Design-Entscheidungen trifft, die vom Konzept der Filme abweichen, wirken diese umso irritierender und hervorstechender. Das beste Beispiel sind die recht modern wirkenden Kurzhaarfrisuren der männlichen Elben. Die Ausnahme hierbei ist Benjamin Walkers Gil-galad, der visuell eindeutig an sein von Mark Ferguson gespieltes Gegenstück aus „The Fellowship of the Ring“ angelehnt ist. Dessen Auftritt ist allerdings kaum mehr als ein kurzes Cameo im Prolog des Films von 2001. Ich denke, es ist keine Übertreibung zu sagen, dass trotz allem die Filme, und nicht Tolkiens Werk der Hauptausgangspunkt von „The Rings of Power“ sind. Das zeigt sich bereits an der Hinzufügung der als Proto-Hobbits konzipierten Haarfüße. Der Name stammt tatsächlich von Tolkien; die Hobbits setzen sich aus drei Stämmen zusammen, neben den Haarfüßen sind das die Falbhäute und die Starren. Und tatsächlich waren die Hobbits ein nomadisches Volk, bevor sie sich im Auenland und im Breeland niederließen – das alles geschieht aber erst im Dritten Zeitalter, im Zweiten Zeitalter spielen sie noch keinerlei Rolle. Offenbar konnte man sich bei Amazon allerdings kein Mittelerde-Projekt ohne Hobbit-Beteiligung vorstellen.
Nori Brandyfoot (Markella Kavenagh) und Sadoc Burrows (Lenny Henry)
In vielerlei Hinsicht ist das Verhältnis von „The Rings of Power“ zu den Werken Tolkiens ähnlich wie das der beiden Spiele „Shadows of Mordor“ und „Shadows of War“: Der Grad an Vorlagentreue schwankt zwischen „erstaunlich detaillierte Anspielung“, „Tolkien hat zumindest nicht geschrieben, dass es explizit NICHT so war“ und einfachem Ignorieren des Quellenmaterials. Dass „The Rings of Power“ nicht für Puristen geeignet ist, denen bereits die Veränderungen und Anpassungen in Jacksons LotR-Trilogie zu weit gingen, dürfte ohnehin von vornherein klar gewesen sein. Ich selbst sehe mich nicht unbedingt als Purist und habe auch nicht per se etwas gegen Änderungen, die wichtige Frage für mich ist in diesem Kontext nicht, ob einfach Wort für Wort adaptiert wird, sondern ob die Adaption dem Geist der Vorlage gerecht wird. Gerade in diesem Bereich hat die Serie für mich aber einige Probleme, besonders, wenn sie zwar Elemente der Vorlage nimmt, diese aber grob vereinfacht. Das hat oft zur Folge, dass „The Rings of Power“ in relativ typische, klischeehafte Fantasy-Tropen abgeleitet, die zwar in letzter Konsequenz von Tolkien inspiriert, aber inzwischen unglaublich verwässert wurden. Der durch ein MacGuffin-Schwert ausbrechende Schicksalsberg, durch den die Südlande zu Mordor werden, ist ein ideales Beispiel. Dieses Element könnte in meinen Augen direkt aus einem der beiden Shadows-Spiele stammen, wäre von Tolkien aber niemals auf diese Weise konzipiert worden. Derartige Handlungskonstruktionen finden sich leider nur allzu häufig.
Die Rückkehr des Bösen: Galadriel und ihr Rachefeldzug
Wenn „The Rings of Power” einen Dreh- und Angelpunkt hat, dann sind es noch nicht die titelgebenden Ringe der Macht, sondern Galadriel und ihre Suche nach Sauron. Gerade hier wird die Wandlung von Tolkiens Konzepten hin zu generischen Fantasy-Tropen überdeutlich. Ich persönlich habe mit einer Figur wie der von Morfydd Clark dargestellten Version von Galadriel nicht per se ein Problem, sehr wohl aber mit dem Umstand, dass Galadriel zu einer derartigen Figur gemacht wurde. Die Intention von Payne und McKay ist relativ eindeutig: Abermals bauen sie darauf, dass das Publikum Cate Blanchetts Galadriel im Hinterkopf hat, um ihm dann den größtmöglichen Kontrast zu liefern: Statt einer mächtigen und weisen (wenn auch hin und wieder etwas unheimlichen) Elbenherrscherin wird eine forsche Kriegerin präsentiert, die primär auf Rache aus ist. Wenn er richtig umgesetzt wird, kann dieser etwas modernere Fantasy-Archetyp durchaus interessant sein, nur passt er meinem Empfinden nach absolut nicht zu Galadriel. Wie ihr Serien-Gegenstück glaubt Tolkiens Galadriel zu Beginn des Zweiten Zeitalters nicht, dass das Böse völlig ausgelöscht ist und möchte sich auf eine eventuelle Rückkehr vorbereiten, allerdings agiert sie dabei auf der politischen Eben und sucht nicht persönlich nach Sauron. Hätten man ihren Handlungsbogen einer anderen, neuen Figur gegeben und Galadriel als wichtige Nebenfigur etabliert, hätte ich damit wahrscheinlich weniger Probleme gehabt. Erschwerend hinzu kommt die Auflösung des Handlungsstrangs – persönliche Verantwortung ist eine wichtige Thematik, aber im Grunde wird Galadriel die ganze Staffel über nicht nur nach Strich und Faden von Sauron manipuliert, wo sie bei Tolkien eine der wenigen ist, die seine Verkleidungen durchschaut, sie macht trotzdem weiter und arbeitet auf das Schmieden der Ringe hin, selbst nachdem sie weiß, dass das alles von Sauron eingefädelt wurde und Teil seines Planes ist. Nicht einmal die Höflichkeit, die anderen Elben über die wahre Identität des Dunklen Herrschers zu informieren, kann sie aufbringen. Freiere Adaption ist schön und gut, aber den Charakter völlig ins Gegenteil zu verkehren erscheint mir doch recht dreist.
Sauron und die Mystery Box
In großen Franchises im Allgemeinen und J.J.-Abrams-Filmen im Besonderen ist die sog. „Mystery Box“ ein nur allzu beliebter erzählerischer Kniff, um das Publikum bei der Stange zu halten und im Vorfeld neugierig zu machen – oftmals in Kombination mit der Enthüllung einer bekannten Figur aus der Geschichte des Franchise: John Harrison ist Kahn, Miranda Tate ist Talia al Ghul, Franz Oberhauser ist Blofeld etc. Und was wurde nicht alles spekuliert, wer Snoke sein könnte. Tolkien hingegen ist die Mystery Box als erzählerisches Instrument völlig fremd. Natürlich kann es sein, dass Figuren ihre Identität verschleiern, aber normalerweise weiß man als Leser immer sehr genau, wer wer ist, nicht zuletzt, weil Tolkiens allwissender Erzähler zumeist ausführlich erläutert, was Sache ist. Zugegeben bietet sich eine derartige Narrative um das Schmieden der Ringe der Macht jedoch tatsächlich an, schließlich ist Sauron ein Meister der Verkleidung und Verwandlung, der sich als Annatar (Herr der Geschenke) in den Elbenschmieden von Eregion einschleicht und Celebrimbor dazu verleitet, die Ringe der Macht zu erschaffen. Da ist es nur naheliegend, diesen Aspekt in der Serie nicht nur als Mysterium für die Figuren, sondern auch für die Zuschauer zu inszenieren. Dieses Vorhaben ist in meinen Augen allerdings gründlich misslungen, und zwar aus mehreren Gründen. Zum einen scheinen Payne und McKay Angst vor der Tolkien-Leserschaft gehabt zu haben, was ich persönlich für grundlos halte. Natürlich, wer mit Tolkiens Schriften vertraut ist, weiß, dass Annatar Sauron ist. Und wer es herausfinden will, kann das auch problemlos tun. Die Erfahrung zeigt allerdings, dass das ein derartiger Twist dennoch funktionieren kann: „A Game of Thrones“ und „A Storm of Swords“ wurden lange vor dem Start von „Game of Thrones“ publiziert, dennoch waren Ned Starks Tod und die Rote Hochzeit Schockmomente für einen Großteil der Zuschauerschaft, die es entweder bewusst vermied, Buchspoiler zu konsumieren, oder überhaupt nicht auf die Idee kam. Dennoch entschieden sich die Showrunner, Annatar auszusparen und eine andere „zivile Identität“ für den Dunklen Herrscher zu finden. Mehr noch, neben der „Welche Figur ist Sauron?“-Box konstruierten sie eine zweite: „Wer ist der Fremde?“ Der naheliegende Schluss ist natürlich, den Fremden zu Sauron zu machen, womit durchaus auch gespielt wird, inklusive Fake-Enthüllung, aber dass dem nicht der Fall ist, wird bereits zuvor klar. Ansonsten sind es vor allem die neuen Figuren wie Adar, Bronwyn oder eben Halbrand, die in Frage kommen, und Halbrand ist letzten Endes derjenige, der übrig bleibt.
Halbrand (Charlie Vickers)
Gewissermaßen kann man Halbrand als eine Art Invertierung von Aragorn und (in geringerem Maße und bezogen auf die Filme) Thorin sehen: Auch er scheint ein König im Exil zu sein, ein mysteriöser, aber letzten Endes wohlmeinender Held, nur dass Halbrand sich eben als Dunkler Herrscher entpuppt und doch nicht so wohlmeinend ist. Sauron selbst kann in den beiden Filmtrilogien, vom Roman gar nicht erst zu sprechen, kaum als tatsächlicher Charakter bezeichnet werden, er ist eher Entität, Symbol des Bösen, der als flammendes Auge alles überwacht, aber selbst kaum handelt. Zugegeben, in der Hobbit-Trilogie bekommt er etwas mehr zu tun und ist ein wabernder Schatten, bevor er zum Auge wird, aber dennoch… In der Tat ist Sauron persönlich im Ersten und Zweiten Zeitalter deutlich aktiver und nahbarer, ist bis zum Untergang Númenors ein Gestaltwandler, tritt als luziferischer Verführer der Elben von Eregion und der Númenorer auf und kämpft persönlich gegen das letzte Bündnis, wie im Prolog von „The Fellowship of the Ring“ auch zu sehen war. Halbrand ist gewissermaßen der Annatar-Ersatz, den wir bekommen, und tatsächlich ist er auch in Eregion und beeinflusst Celebrimbor – kurz, in einer Szene, in der letzten Episode der ersten Staffel. Gerade das finde ich persönlich extrem enttäuschend; ich möchte Sauron nicht als Aragorn-artige Figur sehen, sondern als Bringer verbotenen Wissens. Die Infiltrierung der Elbenschmieden, die Beziehung zwischen Sauron als Annatar und Celebrimbor waren die Aspekte, auf die ich am meisten gespannt war. Natürlich ist es möglich, dass Sauron tatsächlich noch als Annatar auftritt, aber es wäre merkwürdig, würde man ihn noch einmal in einer anderen Gestalt in Eregion auftauchen lassen.
Zudem muss ich sagen, dass mich Charlie Vickers in der Rolle nicht völlig überzeugt. Als Pseudo-Aragron funktioniert er gut genug, ist angemessen zwielichtig, kann aber auch charismatisch und heroisch sein wenn nötig, aber für einen unsterblichen, Jahrtausende alten Maia fehlt ihm die nötige Gravitas, die absolute Selbstsicherheit und die Fremdartigkeit. Sein Wutausbruch wirkt eher lächerlich denn einschüchternd. Gerade in diesem Kontext versucht man abermals, ein wenig Ikonografie der Filme unterzubringen, da Sauron im Kontext dieses Wutausbruchs kurz mit „Katzenaugen“ zu sehen ist, die an das lidlose Auge der Filmtrilogie erinnern und zudenm an seine literarischen Ursprünge im Legendarium erinnern. Und immerhin einen positiven Aspekt gilt es durchaus hervorzuheben: Payne und McKay bemühen sich zumindest, einen durchaus faszinierenden Aspekt der Figur miteinzubringen, der in „The Lord of the Rings“ (Roman wie Filmtrilogie) kaum bis gar nicht beachtet wird: Saurons ursprüngliche Motivation ist, im Gegensatz zu seinem Meister Morgoth, der auf Zerstörung aus ist, Ordnung. Aus diesem Bedürfnis heraus entwickelt sich Sauron zum Tyrannen. In einem Briefentwurf aus dem Jahr 1954 beschreibt Tolkien Sauron zu Beginn des Zweiten Zeitalters als „not indeed wholly evil, not unless all ‚reformers‘ who want to hurry up with ‚reconstruction‘ and ‚reorganization‘ are wholly evil, even before pride and lust to exert their will eat them up.” (Letters, S. 190). Auf diesem Konzept fußt die Interpretation Saurons in der Serie, und tatsächlich, seine Rede an Galadriel bezüglich des Wiederaufbaus Mittelerdes spiegelt seine Worte an Celebrimbor aus dem „Silmarillion“ wider. Deutlich weniger subtil sind hingegen die an dieser Stelle eingestreuten Direktzitate aus „The Lord of the Rings“, Stichwort: Königin statt Dunklem Herrscher.
Elrond, Durin und das Schwinden der Elben
Von allen Handlungssträngen der Serie ist mir derjenige, der sich mit Elrond, Durin und ihrer Freundschaft beschäftigt, der liebste – und das nicht nur, weil hier tatsächlich auf die titelgebenden Ringe der Macht hingearbeitet wird. Viele der Beziehungen, die die Figuren von „The Rings of Power“ zueinander unterhalten, wirken auf mich recht steif und konstruiert, was das emotionale Investment stark reduziert – gerade im Vergleich zur LotR-Trilogie. Die Freundschaft zwischen Elrond und Durin IV sowie die Ehe zwischen Durin und Disa (Sophia Nomvete) hingegen ist nachvollziehbar, authentisch und vor allem herzlich, ohne allzu schmalzig zu sein. Es sind die kleinen Nuancen, die die Dialoge (ein Aspekt, der ansonsten nicht zu den Stärken der Serie gehört) so unterhaltsam machen. Gerade der Umstand, dass 20 Jahre Abwesenheit für einen unsterblichen Elben wie Elrond keine lange Zeit sind, für Durin aber sehr viel mehr zählen, ist wirklich ein gelungener Start. Zudem erbringen Robert Aramayo, Owain Arthur und Sophia Nomvete auch die besten schauspielerischen Leistungen.
Celebrimbor (Charles Edwards) und Elrond (Robert Aramayo)
Leider finden sich auf der Handlungsebene trotzdem einige Schwächen: Abermals nehmen die kreativen Köpfe eines von Tolkiens Konzepten, vereinfachen es und sorgen dafür, dass es zu einer äußerst plakativen Angelegenheit verkommt. Tatsächlich haben die Elben bereits im Zweiten Zeitalter mit ihrem „Schwinden“ zu kämpfen, einer langsam Abnahme ihrer Macht und ein genereller Verfall – bei Tolkien sind die Elbenringe dazu da, diesem entgegenzuwirken. „The Rings of Power“ übernimmt dieses eher abstrakte Konzept zwar, macht es aber zur nahbaren Gefahr, gegen die sehr bald etwas unternommen werden muss, schließlich haben die Blätter schon schwarze Adern. Sowohl die Notwendigkeit der Elbenringe als auch ihre tatsächliche Entstehung wird sehr überhastet und unsubtil dargestellt, vom Mithril als einzigem, wahrem Hilfsmittel gegen das Schwinden (bei Tolkien definitiv nicht der Fall, hier arbeiten die Noldor von Eregion einfach gerne mit dem Metall) bis hin zu Halbrands/Saurons Rolle bei der Erschaffung der Ringe, die zugleich zu groß und zu klein ausfällt. Bei Tolkien werden nicht die drei Elbenringe, sondern die sieben Zwergen- und die neun Menschenringe zuerst geschmiedet – von Sauron als Annatar und Celebrimbor in Gemeinschaftsarbeit. Aus diesem Grund hat Sauron auf die sieben und neun sehr direkten Einfluss, kann sie an sich bringen und an die Zwerge und Menschen verteilen. Die Elbenringe hingegen werden später von Celebrimbor alleine und im Geheimen geschmiedet. Saurons Einfluss bleibt indirekt, er hat nicht an ihnen mitgewirkt, sehr wohl benutzt Celebrimbor aber das von Sauron bereitgestellte Wissen, weshalb auch die Elbenringe anfällig sind, wenn Sauron den Einen Ring besitzt. Und wo wir gerade von Celebrimbor sprechen: Während ich Galadriel als zu dominant empfinde, denke ich, dass Celebrimbor als Schmied der Ringe der Macht eine deutlich zu kleine Rolle hat und mit Charles Edwards auch nicht sonderlich gut besetzt ist. Nichts gegen Edwards per se, aber er wirkt in der Rolle wie der gesetzte, nette Onkel. Von Celebrimbor erwarte ich mehr Leidenschaft und jugendlichen Elan, schließlich soll in ihm der feurige Geist seines Großvaters Fëanor, Schöpfer der Silmaril, fortbestehen. Wie oben bereits erwähnt: Meiner bescheidenen Meinung nach hätte die Beziehung zwischen Annatar/Sauron und Celebrimbor im Fokus der Serie stehen sollen, ist aber nun praktisch nichtexistent.
Númenor und der drohende Untergang
Ähnlich wie Celebrimbor und der Entstehungsprozess der Ringe ist auch das Inselkönigreich Númenor ein Aspekt, der mir in „The Rings of Power“ deutlich zu kurz kommt und nicht gut genug ausgearbeitet ist – schließlich ist Númenor Dreh- und Angelpunkt des Zweiten Zeitalters. Die reiche Insel ist sowohl bei Tolkien als auch in der Serie gewissermaßen ein Geschenk an die Edain, die Menschen, die sich im Kampf gegen Morgoth auf die Seite der Elben stellten. Erster König Númenors ist Elronds Zwillingsbruder Elros – beide sind Halbelben und dürfen somit entscheiden, welchem Volk sie sich zugehörig fühlen. Wo Elrond die Elben wählt, begründet Elros das Herrscherhaus von Númenor. Zu Anfang herrscht auch innige Freundschaft zwischen Númenorern und Elben, Erstere stehen Letzteren beispielsweise auch im Kampf gegen Sauron bei. Nach und nach entfremdet man sich aber, vor allem, weil die Númenorer auf die Unsterblichkeit der Elben eifersüchtig werden, sodass alles Elbische nach und nach mit Verachtung behandelt wird. Lediglich die Getreuen, ein Zweig des númenorischen Herrscherhauses, dem Elendil entstammt, richtet sich nach den alten Wegen, jedenfalls bis der vorletzte König der Insel, Tar Palantir, versucht, die Uhr zurückzudrehen – vergeblich. Dies sind auch mehr oder weniger die Ereignisse, die in der Serie geschehen sind, doch wo „The Rings of Power“ oft viel zu plakativ zu Werke geht, wird die Sachlage in Bezug auf Númenor zu subtil und zu wenig eindeutig vermittelt. Der Tolkien-Leser weiß, was Sache ist, für die Zuschauer, die mit Númenor jedoch nicht vertraut sind, bleibt die Angelegenheit recht nebulös. Dass der Untergang des Königreiches kommt, ist natürlich bereits absehbar und wird mehr als einmal angedeutet. Ich möchte zudem hier zu Protokoll geben, dass ein Palantír nicht wie eine Kristallkugel funktioniert und auch nicht in die Zukunft sehen kann.
Elendil (Lloyd Owen) und Isildur (Maxim Baldry)
Neben Tar Palantir (Ken Blackburn), seiner Tochter Míriel (Cynthia Addai-Robinson), die als Regentin fungiert, und dem stets zwielichtigen Pharazôn (Trystan Gravelle) lernen wir auch Aragorns Vorfahren Elendil (Lloyd Owen) und dessen Sohn Isildur (Maxim Baldry) kennen – Isildurs Bruder Anárion wird nur beiläufig erwähnt, dafür hat er allerdings eine Schwester namens Eärien (Ema Horvath). Von dieser Änderung abgesehen positionieren Payne und McKay hier am eindeutigsten die Figuren für ihre Rollen in den kommenden Staffeln. Das weicht zwar in den Details enorm von Tolkien ab, aber die grobe Richtung sowie die Konstellation der Figuren scheint immerhin dieselbe zu sein.
Vor allem designtechnisch ist Númenor interessant – auch hier lässt sich eine gewisser Einfluss der LotR-Trilogie nicht leugnen, zumindest in manchen architektonischen Details. Wo die Architektur von Gondor allerdings von byzantinischen Gebäuden und Stilelementen der späten Antike und des Mittelalters inspiriert ist, scheint Númenor eher orientalisch angehaucht zu sein, ohne dabei aber allzu sehr in Klischees zu Verfallen. Umso ärgerlicher ist es, dass das Inselkönigreich für meinen Geschmack so stiefmütterlich behandelt wird. Vielmehr sollte Númenor Ausgangspunkt der Handlung sein und deutlich ausführlicher dargestellt werden. Hätte man beispielsweise auf den Handlungsstrang der Haarfüße verzichtet, hätte man einiges an Zeit für Númenor und eine detailliertere Auseinandersetzung mit seiner Kultur gewonnen.
How I Met Your Mordor
Während die Edain, die im Ersten Zeitalter auf der Seiten der Valar und Elben gegen Morgoth kämpften, Númenor bekamen und eine mächtige Zivilisation erschufen, brach für die restlichen Menschen, die sich dem Feind verschrieben hatten, eine dunkle und trostlose Zeit an. „The Rings of Power“ zeigt uns diese Menschen als relativ typische Fantasy-Dorfbewohner, die in den „Southlands“ leben – der Region, die später als Mordor bekannt werden wird. Ähnlich wie in „Shadows of Mordor“ ist diese Gegend zuerst ein recht wohnlicher Landstrich mit viel Vegetation und noch nicht die altbekannte Aschewüste. Der Handlungsstrang um Arondir, Bronwyn, Adar und die Orks ist für mich persönlich der zwiespältigste. Zum einen sammeln sich hier diverse Klischees, die einfach nicht hätten sein müssen: Die Bewohner der Southlands lassen hervorstechende kulturelle Merkmale vermissen, die Elben/Menschen-Romanze ist selbst im Mittelerde-Kontext inzwischen ein Klischee und der bereits erwähnte Plot rund um das MacGuffin-Schwert, mit dem man den Schicksalsberg aktiviert, ist wirklich allzu ärgerlich. Das ist „Prequelitis“ in Reinform: Eine banale, plakative Erklärung für ein Handlungselement, das eigentlich keiner Erklärung bedarf.
Adar (Joseph Mawle)
Adar und die Orks hingegen sind ein anderes Kapitel. Zuerst einmal gilt es, die Orks der Serie im Allgemeinen zu loben, Make-up, Masken etc. sind wirklich extrem gut gelungen, knüpfen zwar an die LotR-Trilogie an, versuchen aber auch, und das durchaus erfolgreich, mit eigenen Designelementen zu überzeugen. Nach dem übermäßigen CGI-Einsatz in der Hobbit-Trilogie bei Azog und Konsorten tut es gut, wieder praktische Orks zu sehen. Zudem liefert Joseph Mawle, am besten bekannten als Benjen Stark in „Game of Thrones“, eine wirklich starke Performance als Adar ab. Mit diesem Handlungsstrang greift „The Rings of Power“ ein Element auf, bei dem Tolkien mit sich selbst haderte: Die Orks, ihre Natur und ihr Ursprung. Sind Orks tatsächlich immer böse, vielleicht sogar genetisch dazu „verurteilt“, im Dienste finsterer Mächte zu stehen? Verfügen sie über freien Willen? Auf diese Fragen konnte Tolkien nie eine wirklich abschließende Antwort finden. Ebenso verhält es sich mit ihrem Ursprung: Aus dem „Silmarillion“ erfahren wir, dass die Orks einst Elben waren, die von Morgoth, der nicht selbst erschaffen, sondern nur korrumpieren kann, durch Folter und Experimente verwandelt, „a ruined and terrible form of life“, um Saruman aus der Jackson-Trilogie zu zitieren, die diesen Ursprung ebenfalls aufgreift. Aus später veröffentlichen Schriften wissen wir allerdings , dass Tolkien mit dieser Erklärung irgendwann nicht mehr zufrieden war und sich überlegte, die Menschen doch deutlich früher erwachen und sie als Morgoths „Rohmaterial“ fungieren zu lassen. Wie dem auch sei, „The Rings of Power“ orientiert sich am publizierten „Silmarillion“ und stellt die Frage: Was, wenn einer der ursprünglichen Elben, die zu Orks wurden, bis ins Zweite Zeitalter überlebt hat? Die Antwort, die Payne und McKay geben, ist sicher nicht unkontrovers, im Kontext dieser Serie aber doch ein durchaus interessantes Experiment. Zudem werden die Orks zwar auf recht typische Art und Weise dargestellt, verfügen aber unter Adars Führung zugleich über einen Unabhängigkeitstrieb: Sie wollen gerade nicht wieder von einem gewissen Dunklen Herrscher unterjocht werden, sondern im neubenannten Mordor ihr eigenes Ding drehen. Daraus wird freilich nichts, wie die letzte Einstellung des Finales verrät.
Von Fremden und Haarfüßen
Ich erwähnte es bereits zuvor: Der gesamte Handlungsstrang um die Haarfüße ist wahrscheinlich das größte Zugeständnis der Amazon-Serie an die Rezeption der Filme: Vermutlich fiel es den Showrunnern, den Produzenten oder Jeff Bezos persönlich schwer, sich eine Mittelerde-Adaption ohne Hobbits vorzustellen. Also nehme man die Haarfüße als nomadische Proto-Version dieses Volkes und füge es in die Serie ein, in der Hoffnung, dass das Publikum darauf anspringt. Ich war bereits im Vorfeld enorm skeptisch, und diese Skepsis hat sich bestätigt: Die Haarfüße sind in mehr als einer Hinsicht selbst in dieser nicht unbedingt vorlagengetreuen Adaption ein Fremdkörper. Alle anderen Handlungsstränge agieren über den Verlauf der acht Folgen auf die eine oder andere Art miteinander, außer diesem hier, der völlig isoliert bleibt. Das Einzige, das Nori Brandyfoot und ihren Stamm mit dem Rest der Serie in irgendeine Beziehung setzt, ist die vage Möglichkeit, dass es sich bei dem Fremden um Sauron handeln könnte. Die Prämisse dieses Handlungsstranges erinnert stark an „Diablo 3“, gefolgt von einer „Fish out of Water“-Geschichte, in welcher der Fremde seine magischen Fähigkeiten entdeckt, wobei es bereits von Anfang an klar ist, dass es sich nicht um Sauron handelt, auch wenn die enigmatischen Kultistinnen das glauben mögen. Ich hatte schon nach den ersten Folgen den unangenehmen Verdacht, man könne die zweite Mystery-Box der Serie verwenden, um einen weiteren Signatur-Charakter des Franchise einzuführen, und wahrhaftig, alles deutet darauf hin, dass es sich bei dem von Daniel Weyman gespielten Fremden um Gandalf persönlich handelt, was schon eine massive Lore-Abweichung wäre. Ursprünglich ließ Tolkien die Istari, die fünf Zauberer, denn als solcher wird der Fremde eindeutig identifiziert, um das Jahr 1000 des Dritten Zeitalters per Boot in Mittelerde ankommen, ändert später aber, wie in „The Nature of Middle-earth“ nachzulesen ist, seine Meinung und ließ zwei von ihnen bereits im Zweiten Zeitalter auftauchen. Keiner dieser beiden ist allerdings Gandalf (noch Saruman oder Radagast), sondern es sind die beiden „Blauen Zauberer“ die, je nach Version des Legendariums, die Namen Alatar und Pallando oder Morinehtar and Rómestámo tragen. Der Fremde als Blauer Zauberer wäre akkurater, ist aber weitaus unwahrscheinlicher, zum einen haben die Blauen Zauberer keinen Wiedererkennungswert und zum anderen gibt Daniel Weyman, nachdem er fast die ganze Staffel über nur stumm gestikuliert, am Ende ein Gandalf-Zitat in seiner besten Ian-McKellen-Impression ab. Das ist schon ein ziemlich eindeutiger Indikator.
Der Fremde (Daniel Weyman)
All diese Faktoren in Kombination sorgen dafür, dass der Handlungsstrang um die Haarfüße und den Fremden der in meinen Augen mit Abstand schwächste ist; abermals ist die Prequelitis sehr stark und manifestiert sich in plumpen und plakativen Origin-Storys, die zudem noch ziemlich schlecht geschrieben sind. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der Tod von Sadoc Burrowsd (Lenny Henry) ist als tragisch und emotional konzipiert, kommt aber ziemlich steif und beinahe lächerlich daher. Auch die drei Kultistinnen wirken eher albern denn furchteinflößend. Ich bin sicher, dass Nori und der Fremde in zukünftigen Staffeln mit den anderen Figuren noch interagieren werden, aber nach aktuellem Stand wirkt dieser Handlungsstrang nicht nur völlig isoliert, sondern im erzählerischen Gefüge der Serie auch völlig nutzlos und ist nur dazu da, um LotR-Fans mit Hobbits und Zauberern Elemente an die Hand zu geben, die im Zweiten Zeitalter nichts verloren haben und auch nicht gebraucht werden.
Musik der Ainur: Bear McCrearys Score
Auch bezüglich der Musik tritt „The Rings of Power“ in große Fußstapfen, schließlich haben Howard Shores sechs Mittelerde-Scores die Messlatte unglaublich hochgelegt. In dieser Hinsicht kann sich die Amazon-Serie ebenfalls nicht so recht entscheiden, ob sie sich vom Einfluss der beiden Filmtrilogien lösen möchte oder nicht. Ursprünglich heuerte man den umtriebigen Film- und Fernsehkomponisten Bear McCreary an, der in den letzten zehn Jahren mehr als ausreichend beweisen hat, dass er sowohl kompetent als auch vielseitig genug ist, um einem derartigen Projekt gerecht zu werden. Gewissermaßen Last Minute konnte Amazon dann aber doch noch Howard Shore für das Intro gewinnen, was wohl eher als Marketing-Stunt zu bewerten ist. Nicht, dass Shores Intro-Musik schlecht wäre, im Gegenteil, aber McCreary hätte zweifellos ein ebenso gutes Stück schreiben können. Und, mehr noch, die Musik des Intros spielt in der Serie selbst keine Rolle, weil sie erst komponiert wurde, nachdem die Scores zu den acht Episoden bereits vollendet waren. Dafür gibt es allerdings subtile melodische und harmonische Verweise zu Shores eigener Mittelerde-Musik.
McCreary selbst durfte auf Shores Musik aus rechtlichen Gründen nicht direkt verweisen, zweifelsohne bewegen sich seine Kompositionen aber in ähnlichen Gefilden: Großes Orchester und Chor, zusätzlich zu diversen Spezialinstrumenten, die die Kulturen und Figuren repräsentieren, etwa keltische und nordische Instrumente für die Haarfüße, ganz ähnlich wie in den Filmen. Wie Shore bedient sich auch McCreary einer Vielzahl an verschiedenen Leitmotiven für Figuren, Kulturen und Konzepte, die kunstvoll variiert und miteinander verwoben werden. Dabei bleibt McCreary seinem eigenen Sound allerdings stets treu, sodass es sich bei seiner Musik für die Serie zwar zweifelsohne um Mittelerde-Musik handelt, sie aber nicht zu einem Shore-Abklatsch verkommt. Die beiden dominantesten Themen wurden bereits im Vorfeld veröffentlicht und auch von mir besprochen, sie gelten Galadriel und Sauron, davon abgesehen finden sich u.a. Leitmotive für Elrond, Nori, den Fremden oder Durin, Fraktionsthemen für die Zwerge von Moria, die Númenorer, die Haarfüße und, und, und…
Die Veröffentlichung der Musik in Albenform ist darüber hinaus äußerst lobenswert: Nicht nur gibt es zu jeder Episode ein Album, Amazon hat darüber hinaus ein umfangreiches Staffelalbum an den Start gebracht, auf dem sich Suiten zu den essentiellen Themen sowie die herausragendsten Score-Tracks, etwa das ebenso elegante wie energetische Scherzo for Violin and Swords, das actionreiche Cavalry oder das sakrale Nolwa Mahtar finden. Wer also nur ein Best of möchte, ohne sich dafür durch acht Stunden Musik zu arbeiten, kann getrost zum Staffelalbum greifen, und wer wirklich die Musik in ihrer Gesamtheit genießen möchte, hat eben dazu auch die Möglichkeit. Wie kritisch ich auch viele andere Elemente der Serie sehen mag, McCrearys Score ist über jeden Zweifel erhaben, eine mehr als würdige Fortführung des musikalischen Vermächtnisses Mittelerdes und einer der besten Scores des Jahres. Eine ausführlichere Besprechung findet sich hier.
Fazit
Gemessen am umfangreichen Diskurs, der zu „The Lord of the Rings: The Rings of Power“ geführt wurde, vom Preis, den Amazon für die Rechte und die Produktion zahlte, bis hin zu Kontroversen bezüglich des diversen Casts und der „Vergewaltigung von Tolkiens Vermächtnis“, ist die Serie geradezu erstaunlich mittelmäßig – weder das Meisterwerk, dass man sich vor allem beim Amazon wohl erhofft hat, noch das totale Desaster, das von vielen prophezeit wurde. „The Rings of Power“ besticht vor allem auf handwerklicher und technischer Ebene; dem Produktionsdesign, den visuellen Effekten, den Schauwerten im Allgemeinen und natürlich der grandiosen Musik von Bear McCreary kann man definitiv keinen Vorwurf machen. An dieser Front wird das viele Geld, das Amazon in dieses Projekt pumpte, deutlich spürbar. Anders sieht es in Sachen Dramaturgie, Struktur, Handlungs- und Charakterentwicklung und Drehbücher im Allgemeinen aus. Dass die Serie Tolkien-Puristen nicht zufriedenstellen würde, war ohnehin abzusehen, allerdings lässt „The Rings of Power“ auch, zumindest für mich, deutlich zu oft den Geist Tolkiens hinter sich und greift auf erschöpfte Fantasy-Klischees und modernes Mystery-Box-Storytelling zurück, die es nun wirklich nicht gebraucht hätte und die gerade in einer Tolkien-Adaption sehr fehl am Platz sind. Hin und wieder tauchen auch interessante Konzepte auf, die Elemente aus Tolkiens Werk auf sinnvolle Art und Weise erweitern und diskutieren, etwa der Freiheitsdrang der Orks oder die Freundschaft zwischen Elrond und Durin, aber Derartiges bleibt leider verhältnismäßig selten.
Zudem fällt es der Serie sehr schwer, sich vom Vermächtnis der Jackson-Filme zu lösen. In Sachen Design und Musik ist das nicht weiter tragisch (warum das Rad neu erfinden?), aber gerade in Bezug auf Handlungselemente wird es kritisch: Das Zweite Zeitalter hat und braucht keine Hobbits und Zauberer. In meinen Augen hätte „The Rings of Power“ besser daran getan, sich auf Númenor und das tatsächliche Schmieden der titelgebenden Ringe zu fokussieren, das in der finalen Folge eher als Nachgedanke abgehandelt wird, ganz nach dem Motto: „War da nicht noch irgendetwas mit Ringen?“. Somit bleibt mein ursprüngliches Urteil bestehen: Von den beiden Fantasy-Prequel-Serien dieses Herbstes ist „House of the Dragon“ die deutlich stärkere: Zwar kann sich das GoT-Spin-off in Sachen Optik, Musik und Spektakel bei Weitem nicht so sehr hervortun, ist aber in Sachen Figuren, Handlungsentwicklung, Dialogen und Schauspielleistung um so Vieles stärker als „The Rings of Power“. Und, am wichtigsten, trotz einiger doch ziemlich massiver inhaltlicher Abweichungen von der Vorlage, bleibt „House of the Dragon“ dem Geist doch stets treu – und das ist es, was ich mir von „The Rings of Power“ gewünscht hätte.
Zitiert nach: Tolkien, J. R. R.: Letter 153: To Peter Hastings (draft), in: The Letters of J. R. R. Tolkien. A selection edited by Humphrey Carpenter. With the assistance of Christopher Tolkien. London 2006 [1981], S. 187-196.
Spoiler! Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes wird nur allzu gerne in Crossovern verwendet – ich besprach bereits das eine oder andere im Rahmen dieses Blogs. Zumeist paaren Autoren den Meisterdetektiv mit anderen Figuren aus dem viktorianischen Umfeld – Dracula, Dr. Jekyll/Mr. Hyde etc. Auch mit anderen legendären Detektiven wie Batman durfte er schon interagieren und selbst in den Gefilden des „Cthulhu-Mythos“ sind Holmes und Watson keine Fremden mehr, mit den Horror-Ikonen der 80er interagieren sie allerdings eher selten, doch auch hier finden sich Ausnahmen. Die vielleicht bemerkenswerteste Pastiche dieser Art ist ein Roman mit dem Titel „Sherlock Holmes and the Servants of Hell“ von Paul Kane. Die Prämisse ist ebenso so simpel wie faszinierend: Was geschieht, wenn man Sherlock Holmes auf die Cenobiten aus Clive Barkers „Hellraiser“ treffen lässt?
Paul Kane ist für ein derartiges Projekt sicher die geeignetste Wahl, vor allem wegen seiner intimen Kenntnis des Hellraiser-Franchise; so verfasste er unter anderem das Sachbuch „The Hellraiser Films and Their Legacy“ und fungiert zusammen mit seiner Frau Marie O’Regan als Herausgeber der Kurzgeschichtensammlung „Hellbound Hearts“. Das Verfassen eines passenden Romans scheint da der nächste logisch Schritt. Die Kombination von Holmes und „Hellraiser“ scheint auf den ersten Blick ein wenig gewöhnungsbedürftig zu sein, passt aber deutlich besser, als es etwa bei vergleichbaren Horror-Filmreihen der 80er der Fäll wäre. Sowohl in den Filmen als auch in Comics und sonstigen Fortführungen zeigten Autoren bereits, dass eine Hellraiser-Geschichte auch sehr gut in vergangenen Epochen funktionieren kann. Richtet man sich allerdings nach dem etablierten Kanon der Filme, steht die Franchise-Ikone Pinhead während des viktorianischen Zeitalters noch nicht zur Verfügung, da sein menschliches Alter Ego Elliot Spencer erst 1921 in den Besitz der Lament Configuration gelangt, um im Anschluss zum Cenobiten zu werden – auch das ein Problem, mit dem Paul Kane in diesem Kontext umgehen muss und für das er eine sehr kreative Lösung findet.
In jedem Fall zeigt Kane mit „Sherlock Holmes and the Servants of Hell”, dass er zu deutlich mehr in der Lage ist als nur einem simplen Crossover, denn der Roman ist tatsächlich eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem Franchise, die dessen Entwicklung kommentiert, aber zugleich auch die Holmes-Aspekte nicht aus den Augen verliert. Aus diesem Grund lässt Kane Holmes und Watson nicht einfach „nur“ die Lament Configuration lösen und auf Cenobiten treffen, sondern integriert verschiedene Elemente der Filme in den Roman. Zu Beginn befinden sich Holmes und Watson nicht unbedingt im besten emotionalen Zustand: Letzterer trauert um seine verstorbene Ehefrau Mary, während Ersterer nach den Ereignissen an den Reichenbach-Fällen und seinem vermeintlichen Tod nicht mehr derselbe ist: Holmes gibt sich mehr denn je seinem alten Laster, den bewusstseinsverändernden Drogen hin, und wird regelrecht zum Adrenalinjunkie. Vielleicht verschafft ja ein neuer Fall Ablenkung: Mehrere Personen sind unter mysteriösen Umständen verschwunden, und in jedem dieser Fälle spielt eine mysteriöse Puzzlebox eine Rolle. Die Namen der verschwundenen Personen lassen den Hellraiser-Fan sofort aufhorchen: Francis Cotton, James Philip Monroe und Howard Spencer. Hier beginnen die Handlungselemente der Hellraiser-Filme mehr oder weniger subtil in die Holmes-Geschichte einzudringen, indem Kane viktorianische Pendants zu Figuren der ersten drei Hellraiser-Filme als Nebenfiguren auftreten lässt. Francis Cottons Bruder Lawrence und seine Frau Juliet sind diejenigen, die Holmes und Watson beauftragen, und natürlich hat Lawrence eine Tochter namens Kirsten aus erster Ehe – Fank, Larry, Julia und Kirsty Cotton sind da nicht allzu weit entfernt. Dennoch begnügt sich Kane nicht damit, die Handlung des ersten Films im London des späten 19. Jahrhunderts noch einmal durchzuexerzieren, die Cottons sind nur ein kleines Puzzelstückchen. James Philip Monroe verweist natürlich auf den Clubbesitzer J. P. Monroe aus „Hellraiser III: Hell on Earth“ und bei Howard Spencer handelt es sich um den Vater von Elliot Spencer, der später zu Pinhead werden soll – auf diese Weise integriert Kane jeweils ein Opfer der Lament Configuration aus den ersten drei Filmen in seinen Roman. Auch weitere Figuren erhalten, was man als „Pseudo-Cameos“ bezeichnen könnte, darunter eine Reporterin namens Summerskill (Joe Summerskill aus „Hellraiser III: Hell on Earth“), ein Polizist namens Thorndyke (Joseph Thorne aus „Hellraiser: Inferno“) und eine junge Frau namens Kline (Amy Kline aus „Hellraiser: Deader“). Natürlich stoßen Holmes und Watson bei ihren Ermittlungen schließlich auf Gerüchte um den „Orden der klaffenden Wunde“ („Order of the Gash“). Holmes weiß zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits deutlich mehr, als er mit Watson teilen möchte. Um ihn vor weiteren Gefahren zu schützen, schickt er ihn nach Frankreich, um dort über die Herkunft der Puzzlebox nachzuforschen. Wie nicht anders zu erwarten, stößt Watson dort auf ein Mitglied der Lemarchand-Familie und trifft zudem auch einen gewissen Henri D’Amour, Vorfahre des von Clive Barker geschaffenen okkulten Detektivs Harry D’Amour, der u.a. Protagonist des Romans „The Scarlet Gospels“ ist und auch in diversen Hellraiser-Comics auftritt. Holmes macht sich derweil an den finalen Schritt zur Aufklärung des Falls: Die Lösung der Lament Configuration…
Es sollte erwähnt werden, dass Kane nicht nur im Hellraiser-, sondern auch im Sherlock-Holmes-Bereich sehr kompetent ist. Stilistisch baut er definitiv auf Doyle auf und vermittelt sofort die richtige Atmosphäre, auch die Beziehung zwischen Holmes und Watson gelingt ihm sehr gut. Große Teile des Romans sind zudem, in bester Tradition, als Bericht Watsons konzipiert, bei den restlichen Kapiteln fungiert Holmes selbst als PoV-Charakter, aber nicht als Ich-Erzähler. Nach einem stark an den Anfang von „Hellraiser“ und „Hellbound: Hellraiser II“ erinnernden Prolog, in welchem ein Individuum, das sich im letzten Satz als Sherlock Holmes herausstellt, die Lament Configuration löst, folgt ein erster Teil, der ausschließlich aus Watsons Perspektive verfasst ist, im zweiten Teil folgen wir ausschließlich Holmes und im dritten wechseln sich die Holmes- und Watson-Kapitel ab. Kenner beider Franchises werden viele Anspielungen und Referenzen entdecken, neben den oben erwähnten Gastauftritten dürfen natürlich auch Mycroft Holmes und Mrs. Hudson auftauchen, zudem werden viele vergangene Fälle erwähnt. Auch „The Hellbound Heart“ wird nicht ausgespart, wo immer Cenobiten aktiv waren, kann beispielsweise ein Vanille-Duft festgestellt werden.
Trotz der Hellraiser-Elemente ist „Sherlock Holmes and the Servants of Hell” bis zu dem Moment, in dem der Titelheld selbst die Lament Configuration löst, eine relativ „normale“ Holmes-Geschichte, ab dann begeben wir uns allerdings in völlig andere Gefilde. Auch sorgt Kane dafür, dass sein Roman die Tendenzen der Filmreihe widerspiegelt. Die ersten zwei Drittel erinnern stärker an „Hellraiser“, sind geerdeter und subtiler, während das letzte Drittel eher „Hellbound: Hellraiser II“ gleicht, und das nicht nur, weil das Labyrinth zum primären Handlungsort wird, auch inhaltlich finden sich einige deutliche Parallelen. Wir erfahren, dass – wie könnte es anders sein? – James Moriarty ein weiteres Mal hinter allem steckt. Anstatt, wie in „Victorian Undead“, eine Zombieseuche loszulassen, ist er dieses Mal zum Cenobiten geworden und trachtetet danach, mit seinen eigenen Horden die Macht im Labyrinth zu übernehmen. Diese „handgemachten“ Häscher erinnern bezüglich ihrer Beschreibung an Steampunk-Cenobiten und werden ähnlich behandelt wie Pinheads Fußsoldaten in „Hellraiser III: Hell on Earth“. Kane verwendet sogar dieselbe Bezeichnung für sie, „Pseudo-Cenobiten“. Moriartys Rolle gleicht der von Dr. Channard in „Hellbound: Hellraiser II“, auch er wird als Emporkömmling, als neuer Cenobit, der den Status Quo aufmischt, dargestellt. Er steht im Kontrast zu den „alten“ Cenobiten, dem Quartett, das erscheint, als Holmes die Lament Configuration löst und das stark an jenes aus den ersten beiden Hellraiser-Filmen erinnert, auch wenn sich der Anführer DIESER Vierertruppe durch Glasscherben statt durch Nägel im Kopf auszeichnet, weshalb Watson ihm den Spitznamen „Glass“ verpasst. Wie Pinhead in „Hellbound: Hellraiser II“ wird er allerdings äußerst unelegant abserviert. Mitunter wirkt es anschließend fast, als wolle Kane Channard eher unbefriedigendes Ableben ausgleichen, denn nun wird Holmes selbst zum Cenobiten, um die Ordnung in der Hölle wieder herzustellen und gegen den Empokömmling zu kämpfen. Gerade hier scheint Kane die Entwicklung des Franchises zu kommentieren: der Moriarty-Cenobit mit seinen megalomanischen Absichten erinnert nicht nur an Channard, sondern auch an den eindeutig bösen Pinhead des dritten und vierten Hellraiser-Films, während der Holmes-Cenobit mehr an die stoische, die Regeln befolgende Inkarnation der ersten beiden Filme gemahnt. Wie ich selbst scheint auch Kane eindeutig diesen ursprünglichen Hell Priest, „demon to some, angel to others“ dem eindeutig satanischen Pinhead späterer Filme vorzuziehen. Obwohl die Franchise-Ikone bis auf einen kurzen Cameo-Auftritt in einer Vision in Kanes Roman nicht vorkommt, ist der Schatten, den er voraus (bzw. zurück) wirft, stets wahrnehmbar, nicht zuletzt, da sein Kommen bereits kryptisch angedeutet wird.
Das Finale des Romans ist für Fans der Filmreihe und der zugehörigen Druckerzeugnisse natürlich ein gefundenes Fressen, nicht zuletzt, weil Kane noch einmal eine ganze Menge Referenzen unterbringt. Die diversen Cenobiten und Dämonen, die Teil von Holmes‘ Armee werden, könnten mitunter aus den Hellraiser-Comics der 90er stammen, da ich davon nur einige wenige gelesen habe, bin ich mir diesbezüglich allerdings nicht sicher. Der Dämon, der als „Our Lord of Quarters“ bezeichnet wird, stammt aber definitiv aus der gleichnamigen Kurzgeschichte, die in „Hellbound Hearts“ erschienen ist. Trotz allem muss allerdings erwähnt werden, dass Kane die Subtilität im Finale eindeutig dem Spektakel unterordnet, und zudem erinnert der Plot einer höllischen Machtübernahme nicht nur an „Hellbound: Hellraiser II“, sondern auch an „The Scarlet Gospels“ und die Hellraiser-Comics von Boom!-Studios. Zudem passt Holmes als Opfer der Box thematisch weniger gut ins Raster als die oben erwähnten Figuren aus den Filmen, da es bei ihm keine hedonistischen Triebe im engeren Sinne sind, die ihn dazu verleiten, die Cenobiten zu beschwören, sondern eher Wissendurst und die innere Leere nach seinem Beinahe-Tod. Dennoch bemüht sich Kane, diese Aspekte miteinander zu verknüpfen bzw. einander gleichzusetzen. In Bezug auf die Polarität von Lust und Schmerz, die im Kern des Hellraiser-Franchise liegt, bleibt Watson eher außen vor und gewissermaßen distanziert, auch wenn er natürlich emotional stark involviert ist.
Fazit: „Sherlock Holmes and the Servants of Hell” ist ein gelungenes, mit viel Liebe zum Detail versehenes Crossover, dem es gelingt, beiden Hälften der Gleichung gerecht zu werden. Autor Paul Kane schafft es, sowohl den Doyle-Tonfall zu treffen als auch die sadomasochistischen Elemente Clive Barkers zu vermitteln. Im letzten Drittel nimmt das Spektakel vielleicht ein wenig zu sehr Überhand weshalb auch dieser Roman eher dem Genre „Dark Fantasy“ statt „Horror“ zuzuordnen ist, aber alles in allem ist diese Pastiche ein deutlich besserer Hellraiser-Roman als „The Scarlet Gospels“.