Enthält Spoiler!
Das Superhelden-Genre wächst in Film und Fernsehen ebenso munter wie unaufhaltsam weiter. In der Zwischenzeit findet sich auch ein gerüttelt Maß an subversiven Parodien und Dekonstruktionen, von „Watchmen“ (die Comic-Vorlage ist natürlich nach wie vor sowohl Urvater als auch Goldstandard für jede Superheldendekonstruktion) über „Kick-Ass“ oder „Super“ im Filmbereich bis hin zu „The Umbrella Academy“ in der Serienwelt. Nun gesellt sich auch die Amazon-Prime-Serie „The Boys“ zu dieser illustren Riege. Mit der von Garth Ennis verfassten und überwiegen von Darick Robertson gezeichneten Vorlage bin ich schon ziemlich lange vertraut, ich besitze noch die deutsche Erstveröffentlichung von Panini. Die Ankündigung der Serie ging dagegen irgendwie an mir vorbei, weshalb ich erst kurz vor knapp erfahren habe, dass Billy Butcher und Co. nun auch im Live-Action-Bereich ihr Unwesen treiben.
Handlung
Eigentlich könnte alles schön sein: Hughie (Jack Quaid) ist mit seiner Freundin Robin (Jess Salgueiro) glücklich – bis diese unverhofft durch eine Unachtsamkeit des Superhelden A-Train (Jessie Usher) auf äußerst unschöne Weise getötet wird. Das führt zu einer Lebenskrise, in der Billy Butcher (Karl Urban) auf Hughie aufmerksam wird. Butcher hegt einen tiefen Groll gegen alle Superhelden und tut, was er kann, um sie zu entlarven und gegen sie zu arbeiten. Hierzu will er Hughie einspannen. Durch Zufall und dummes Glück gelingt es den beiden, den unsichtbaren Superhelden Translucent (Alex Hassell) zu töten, aber damit fangen die Probleme freilich erst an. Also beginnt Billy, seine alte Mannschaft, die „Boys“, bestehend aus Marvin alias „Mother’s Milk“ (Laz Alonso) und Frenchie (Tomer Kapon) zu reaktivieren.

Derweil wird die junge Superheldin Annie (Erin Moriarty), Codename „Starlight“, zu einem Mitglied der „Seven“, des größten Superheldenteams der Welt, bestehend aus Homelander (Antony Starr), Queen Maeve (Dominique McElligott), The Deep (Chase Crawford), Black Noir (Nathan Mitchell), A-Train und Translucent. Schon bald muss sie allerdings erkennen, dass diese Superhelden, die lange Idole für sie waren, äußerst unangenehme und geradezu verachtenswerte Personen sind, deren heroische öffentliche Persönlichkeit konträr zum wahren Gesicht steht. Zugleich begegnet Annie zufällig Hughie und die beiden kommen sich näher, ohne zu ahnen, dass sie praktisch auf unterschiedlichen Seiten stehen.
Nach und nach entdecken die Boys eine groß angelegte Verschwörung der Firma Vought, die für die Vermarktung der diversen Superhelden zuständig ist. Sie stoßen auf die stumme Kimiko (Karen Fukuhara), die als eine Art Superterroristin herangezüchtet wurde und entdecken, dass Vought und seine Vizepräsidentin Madelyn Stillwell (Elisabeth Shue) noch weitaus mehr Dreck am Stecken haben, als ursprünglich angenommen…
Comic vs. Serie
Garth Ennis ist dafür bekannt, dass er Superhelden als Genre und als Figuren nicht besonders schätzt. Zwar hat er bereits sowohl für DC als auch für Marvel gearbeitete, kümmerte sich aber primär um Antihelden wie John Constantine, den Punisher oder Hitman, die von den traditionellen kostümierten Heroen recht weit entfernt sind. Außerdem ist Ennis auch bekannt für die eher… herben Inhalte seiner Geschichten. „The Boys“ ist dafür ein Paradebeispiel. Die Serie lief von 2006 bis 2012 und zeigt Superhelden als zutiefst verachtenswerte Wesen, die übermäßig brutal und pervers sind – Alan Mooers Watchmen-Figuren sind dagegen subtil und grundsympathisch. Ich habe seinerzeit die ersten drei deutschen Bände gekauft und gelesen, hatte danach aber ehrlich gesagt keine Lust mehr. Nichts gegen herbere Inhalte, aber Ennis‘ Serie war selbst mir irgendwann schlicht zu „mean-spirited“ und zu exzessiv.

Unglaublich, aber wahr: Die Serie schafft diesbezüglich Abhilfe. Showrunner David Kripke hält sich keinesfalls sklavisch an die Vorlage. Zwar behält er sowohl Setting als auch Figuren bei, hat aber keine Hemmungen, Elemente abzuändern und die Inhalte ein wenig zu entschärfen. Das tut dem Material tatsächlich gut, denn so gelingt es ihm, gerade die „Seven“, die in der Vorlage wirklich völliger Abschaum sind, interessanter zu machen. Auch die Boys selbst, bei Ennis ebenfalls nicht gerade Sympathieträger, werden ein wenig sympathischer und nachvollziehbarer. Die Adaption ist nach wie vor gewalttätig, abgedreht und voller kaputter Figuren, nur nicht ganz so exzessiv überzeichnet, wie es in den Comics der Fall ist. Durch diese Anpassung gewinnt „The Boys“ enorm.
Umsetzung der Antihelden
„The Boys“ zeigt, ähnlich wie „Game of Thrones”, wie weit Serien in der Zwischenzeit gerade bezüglich der Effekttechnik gekommen sind – bei einer Superheldenserie ein durchaus essentieller Bestandteil. Durch ihre geerdete Natur hatten es die Marvel-Netflix-Serien da leichter, während die Effekte bei anderen Serien mitunter recht wechselhaft waren. „The Boys“ ist zwar noch nicht auf dem Niveau eines Superhelden-Blockbusters und inszeniert auch keine größeren Materialschlachten, aber was die Serie liefert, sieht durch die Bank weg gut aus. Besonders Homelanders Hitzblick muss sich wirklich nicht vor dem Gegenstück aus den Snyder-Filmen verstecken.
Das Herzstück der Serie sind trotz allem die Charaktere, was dank des hervorragenden Casts auch wunderbar funktioniert. Hughie ist dabei die traditionelle – nun, man möchte fast „Heldenfigur“ sagen, aber angesichts der Thematik wäre dieser Begriff vielleicht nicht ganz passend. Ein amüsanter Insider-Gag am Rande: Hughie in den Comics ist visuell Simon Pegg nachempfunden. Dieser ist inzwischen natürlich zu alt, um einen Mittzwanziger zu spielen, darf aber in einer kleinen Rolle als Hughies Vater auftreten. Als Mentor und zugleich Gegenstück des Protagonisten fungiert Billy Butcher. Beide verbindet der Hass auf Superhelden und der Durst nach Rache, da beide die zentrale Person ihres Lebens durch einen Superhelden verloren haben. Hughie ist die Figur, die einen klassischen Handlungsbogen hat und letztendlich lernt, dass Rache die Sache auch nicht besser macht. Am Ende rettet er sogar A-Trains Leben, anstatt ihn für die fahrlässige Tötung seiner Freundin sterben zu lassen. Im Gegensatz dazu bleibt Billy Butcher, den Karl Urban in all seinem Zynismus wirklich hervorragend darstellt, bei seinem Vorhaben und ist bereit, alles und jeden für seine Rache zu opfern.
Die andere Point-of-View-Figur der Serie ist Annie alias Starlight, die dem Publikum Einblick in die Welt der Superhelden gewährt. Zu Beginn erlebt man sie als naive Idealistin, die zu den Helden der „Seven“ aufblickt, aber schon bald feststellen muss, dass diese mit den Idealen, die sie verkörpern, nichts gemein haben. Im Verlauf der Serie wächst der Konflikt in ihr; einerseits möchte sie zu dieser Welt gehören, auf die sie ihr ganzes Leben vorbereitet wurde, aber andererseits will sie dieser Welt, deren wahres Gesicht sie nun kennt und die darüber hinaus von einer skrupellosen Firma völlig kontrolliert wird, auch entkommen.
Gerade strukturell weiß „The Boys“ wirklich zu überzeugen. Die Staffel ist (vielleicht auch aus finanziellen Gründen) recht schlank und verfügt nur über acht Episoden, geht mit der Zeit aber sehr gut um. Nichts fühlt sich unnötig in die Länge gezogen, zugleich bekommen die Handlungsstränge aber ausreichend Zeit. Freilich, einige der Figuren kommen noch etwas kurz, der Fokus liegt eindeutig auf Hughie, Billy Butcher, Annie und Homelander (und auch The Deep und A-Train haben ihre kleinen Sub-Plots), aber weitere Staffeln werden da mit Sicherheit noch Abhilfe schaffen und die anderen Mitglieder der Boys und der „Seven“ in den Fokus rücken.
Sieben Helden sollt ihr sein
Die „Seven“ sind natürlich eine recht offensichtliche Anspielung auf die Justice League, die zwar nicht immer aus sieben Mitgliedern besteht, aber doch immer wieder zu dieser Zahl zurückkehrt, sei es in der ursprünglichen Aufstellung, in Grant Morrisons JLA-Serie oder in der animierten Serie „Justice League“ (die beiden letztgenannten sind nach wie vor die besten Inkarnationen der Liga). Bei den meisten Mitgliedern der „Seven“ muss man nicht lange raten, wer das Vorbild ist: Homelander ist eine eindeutige Superman-Parodie, versehen mit einem Schuss Captain America (Fun Fact: Im Zuge des Events „DC vs. Marvel“ in den 90ern verschmolzen Captain America und Superman tatsächlich für kurze Zeit zu einer Figur, dem „Super Soldier“). Queen Maeve basiert natürlich auf Wonder Woman, Black Noir (der in dieser ersten Staffel kaum eine Rolle spielt und nur dadurch auffällt, dass Homelander ihn offenbar schätzt und dass er Klavier spielen kann) auf Batman, The Deep auf Aquaman, A-Train auf Flash und Lamplighter, der bereits zu Beginn der Serie ausscheidet und dessen Platz Starlight einnimmt, auf Green Lantern. Translucent, der eine Neuschöpfung für die Serie ist und in den Comics nicht vorkommt, ist weniger eindeutig zuordenbar, könnte aber Martian Manhunter ersetzen; Unsichtbarkeit ist schließlich eine der vielen Superkräfte des marsianischen Helden. Starlight schließlich erinnert ein wenig an Stargirl, Supergirl oder Powergirl, während ihre Kräfte mit denen von Dr. Light vergleichbar sind (gemeinte ist hier das weibliche Justice-League-Mitglied, nicht der männliche Titans-Schurke gleichen Namens).

Natürlich werden die Helden kräftig dekonstruiert. Homelander besitzt nichts von der Zurückhaltung eines Clark Kent, sondern ist übermäßig arrogant und löst, trotz seiner vielen Kräfte, fast jedes Problem mit seinem Hitzeblick, was besonders bei der missglückten Flugzeugrettung zu ernsthaften Konsequenzen führt. Queen Maeve begann als idealistische junge Heldin, ähnlich wie Starlight, wurde jedoch vom Superhelden-Lebensstil verdorben, leidet an einem Burnout und hat sich in die Gleichgültigkeit zurückgezogen. A-Train ist ein Junkie, Translucent ein Perverser, der seine Fähigkeiten nutzt, um in der Damentoilette zu spannen, und im Fall von The Deep wird mit Aquamans Ruf der Nutzlosigkeit gespielt. Auch fungieren die „Seven“ nicht als unabhängige Gruppe, die die Welt vor Bedrohungen schützt, sondern sie arbeiten für die Firma Vought, die das Heldentum inszeniert, um Geld zu verdienen. Tatsächliches Heldentum, die Rettung Unschuldiger und der Kampf gegen das Verbrechen sind da bestenfalls Nebensache und schlimmstenfalls komplett gestellt.
Fazit: „The Boys“ ist das gelungenste Stück Superhelden-Unterhaltung im Serienbereich seit der dritten Staffel von „Daredevil“. Der Adaption gelingt es, durch das Zurückschrauben es Exzess-Faktors, die Vorlage zu übertreffen und die Figuren interessanter und tiefgründiger zu gestalten. Empfehlung für alle, die auf subversive Superhelden-Parodien stehen.