The Vampire Diaries

Halloween 2015
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Da dieser Artikel alle sechs vollständigen Staffeln bespricht, sind Spoiler unvermeidbar. Ich habe mich allerdings bemüht, eher einzelne Beispiel zu geben statt Handlungsverläufe ausgiebig darzustellen!

Ordnen wir einmal die drei populärsten Vampirmedien der letzten Jahre auf einer Skala an: Wenn sich „Twilight“ am einen Ende des Spektrums befindet und „True Blood“ am anderen, dann ist „The Vampire Diaries“ ziemlich genau in der Mitte – und das in mehr als einer Hinsicht. Als die erste Staffel 2010 zum ersten Mal auf ProSieben ausgestrahlt wurde, habe ich mir die ersten beiden Folgen angesehen, war aber wenig begeistert, weil das Ganze bei mir zu viele Twilight-Assoziationen geweckt hat, weshalb ich beschloss, lieber bei „True Blood“ zu bleiben. Diese erste Einschätzung werde ich nun ein wenig revidieren müssen, da ich mich im Rahmen meines Artikels zu „Interview mit einem Vampir“ recht intensiv mit der Lestat/Louis-Dynamik beschäftigt habe, die auch in „The Vampire Diaries“ eine wichtige Rolle spielt. Und da die Serie ohnehin auf Amazon Prime verfügbar ist…

Beim Anschauen habe ich einige Dinge festgestellt: Die ersten drei, vier Episoden sind tatsächlich immer noch recht Twilight-ähnlich, danach nimmt die Serie allerdings an Fahrt auf, wird sehr viel interessanter und lässt Stephenie Meyers Glitzervampire ziemlich schnell hinter sich. Auch hat die Serie (zumindest auf mich) eine äußerst süchtig machende Wirkung. Das zeigt sich unter anderem auch daran, dass ich in der Zwischenzeit auf dem aktuellen Stand bin. Wie jede andere Serie hat natürlich auch „The Vampire Diaries“ diverse Höhen und Tiefen.

Konzeption
Gerade in diesem Bereich wirkt „The Vampire Diaries“ wirklich wie eine Mischung aus „Twilight“ und „True Blood“: Einerseits haben wir das High-School-Setting und das eigentlich normale Mädchen, das die Aufmerksamkeit übernatürlicher Wesen erweckt. Andererseits erinnert die Art und Weise, wie die Vampirbrüder Stefan (Paul Wesley) und Damon (Ian Somerhalder) sich beide in Elena Gilbert (Nina Dobrev) verlieben, stärker an „True Blood“. Wie Sookie Stackhouse lässt sich auch Elena zuerst mit dem „guten“ Vampir (hier Stefan, in „True Blood“ Bill Compton) ein, und dann mit dem „bösen“ (Damon und Eric Northman). Die diversen sonstigen vampirischen Verstrickungen, von den ganzen anderen übernatürlichen Kreaturen, Hexen, Werwölfe, Geister etc. gar nicht erst zu sprechen, erinnern ebenfalls an „True Blood“. Auch bezüglich des Härtegrads liegt TVD genau in der Mitte: „Twilight“ ist zahnlos und blutleer, „True Blood“ in Sachen Sex und Gewalt sehr explizit (HBO halt). TVD ist an die Begrenzungen eines öffentlichen Senders wie The CW gebunden, das heißt keine Nacktheit und keine allzu derben Ausdrücke, aber in Sachen Blut und Gewalt kommt schon das eine oder andere vor, was auch gerechtfertigt ist: Eine Vampirserie, in der kein Blut zu sehen ist, macht etwas falsch.

Das zentrale Dreiergespann: Stefan (Paul Wesley), Elena (Nina Dobrev), Damon (Ian Somerhalder)
Das zentrale Dreiergespann: Stefan (Paul Wesley), Elena (Nina Dobrev), Damon (Ian Somerhalder)

Insgesamt lässt sich trotzdem nicht leugnen, dass ich nicht unbedingt zur Hauptzielgruppe gehöre; der Fokus liegt schon in erster Linie auf den diversen romantischen Verstrickungen. Aber, ähnlich wie bei „True Blood“ und anders als bei „Twilight“, sind diese letztendlich ein wichtiges, aber nicht das einzige Handlungselement, die Figuren besitzen (mal mehr, mal weniger nachvollziehbare) Motivationen, die Antagonisten werden meistens vernünftig aufgebaut und tauchen nicht einfach irgendwann auf, damit noch irgendetwas passiert und vor allem: Es gibt tatsächlich auch interessante Nebenfiguren, die ihre eigenen Handlungsbögen haben. Wenn wir davon ausgehen, dass „Twilight“ und „The Vampire Diaries“ auf derselben grundsätzlichen Prämisse basieren, funktioniert Letzteres im Gegensatz zu Ersterem weitaus besser.

Die Vorlage
Eigentlich ist es unfair, „The Vampire Diaries“ als Mischung aus „Twilight“ und „True Blood“ zu bezeichnen. Zwar ist wohl anzunehmen, dass die Serie ohne den Erfolg von Meyers Romanen und deren Verfilmungen nicht existieren würde, die Buchvorlage ist allerdings sowohl älter als „Twilight“ als auch als Charlaine Harris‘ „Southern Vampire Mysteries“ (die Vorlage für „True Blood“). TVD basiert auf einer gleichnamigen, ursprünglich vierteiligen Jugendromanserie von Lisa J. Smith (im Zuge der Sereinadaption wurde sie 2009 fortgesetzt), die zwischen 1991 und 1992 erschien und die Stephenie Meyer, darauf wette ich, gelesen hat. Wobei man dazu auch sagen muss, die kreativen Köpfe hinter TVD mit ihrer Vorlage sehr frei umgehen. Im Grunde übernehmen sie lediglich die grundsätzliche Handlungsidee und einige Figuren bzw. Figurennamen. Das beginnt schon bei der Protagonistin: Elena Gilbert in den Romanen ist blauäugig, blond und bezüglich ihres Charakters mit der gleichnamigen Figur aus der Serie kaum kompatibel; beide sind lediglich in derselben Situation. Der Handlungsort der Romane, „Fell’s Church“, wurde in „Mystic Falls“ umbenannt, aus der von schottischen Druiden abstammenden Hexe Bonnie McCullough wurde die von den Hexen von Salem abstammende afroamerikanische Hexe Bonnie Bennett, in den Romanen hat Elena eine sehr junge Schwester namens Margret, in der Serie einen nur zwei Jahre jüngeren Bruder namens Jeremy, in den Romanen stammen Damon und Stefan aus Italien und wurden während der Renaissance zu Vampiren, in der Serie lebten sie als Sterbliche bereits in Mystic Falls und wurden zur Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs zu Vampiren. Auf dieser Art könnte ich noch ziemlich lange weitermachen. Aus Neugierde, und weil er bei der Bibliothek meines Vertrauens gerade verfügbar war, habe ich mir den ersten Band der Romanreihe zu Gemüte geführt, und nach dessen Lektüre muss ich sagen: Ich denke, die sehr freie Adaption ist eine Stärke, die Serie setzte viele der Grundideen letztendlich besser um als die Vorlage.

Der Vampir in der Serie und die übernatürliche Welt
Im Großen und Ganzen orientiert sich die Serie bei ihrer Darstellung des Vampirs an Anne Rice, mit einigen Abweichungen und ein paar Anspielungen auf die klassischen Stoker-Attribute. Insgesamt ist die Konzeption des Vampirs in der Serie der von „True Blood“ sehr ähnlich. Ein TVD-Vampir wird erschaffen, wenn er als Mensch mit Vampirblut im System stirbt und der Körper erhalten bleibt (also kein Verbrennen oder Köpfen). Danach muss er Menschenblut zu sich nehmen, um die Transformation abzuschließen. Vampire sind stärker und schneller als Menschen, und gewinnen im Alter an Kraft. Ähnlich wie in „True Blood“ können Vampire per Blickkontakt Kontrolle auf Menschen ausüben und müssen eingeladen werden, um ein Haus, das einem Menschen gehört, betreten zu können (anders als in „True Blood“ kann die Einladung allerdings nicht zurückgenommen werden). Die großen Schwächen der Vampire sind, neben dem Blutdurst (Tierblut kann als Ersatz dienen, ein Vampir, der sich nicht von Menschenblut ernährt ist aber verhältnismäßig schwach), Vervain (auf Deutsch Verbana), welches ähnlich wie Knoblauch bei Stoker wirkt, und Sonnenlicht, das sie verbrennt. Allerdings ist es möglich, mithilfe von verzauberten Ringen in die Sonne zu gehen. Nahrung ist für TVD-Vampire kein Problem. Damit macht es sich „The Vampire Diaries“ in mancherlei Hinsicht ziemlich einfach, es gibt diverse Figuren, die nach der Vampirwerdung ihr altes Leben relativ normal weiterführen. Darüber hinaus gibt es noch eine besonders interessante Eigenschaft: Vampire können ihre Emotionen (vor allem Schuldgefühle) abstellen und werden dann zu völlig rücksichtslosen Versionen ihrer selbst – was unter anderem zur Folge hat, dass alle vampirischen Protagonisten der Serie auch schon mal für eine gewisse Zeit lang Antagonisten waren.

Wie so oft haben die Vampire auch hier ihre eigene Ursprungsgeschichte, die eng mit den diversen anderen übernatürlichen Kreaturen zusammenhängt. Der Vampirismus geht von der Familie Mikaelson (auch bekannt als „the Originals“; haben inzwischen ihre eigene Spin-off-Serie bekommen), einer Wikingerfamilie, die im 10. Jahrhundert nach Amerika kam und sich dort ansiedelte, wo in der Gegenwart Mystic Falls liegt (man könnte auf den Gedanken kommen, dass die Kleinstadt eine mystischer Knotenpunkt ist, ähnlich wie Littlefingers Bordell in King’s Landing). Kurz zusammengefasst: Mutter Mikaelson war eine Hexe und hat ihren Mann und ihre Kinder zum Schutz vor Werwölfen in Vampire verwandelt, diese haben den Vampirismus dann wiederrum weiter in der Welt verbreitet. Apropos Werwölfe, diese sind relativ klassisch, bis auf die Tatsache, dass Silber ihnen nicht schadet (dafür aber Wolfswurz bzw. Wolfsbane) und dass der Biss nicht ansteckend ist (dafür aber tödlich für Vampire). Werwolf ist man durch genetische Veranlagung.

Drei Urvampire: Rebekah (Claire Holt), Klaus (Joseph Morgan) und Elija (Daniel Gillies)
Drei Urvampire: Rebekah (Claire Holt), Klaus (Joseph Morgan) und Elija (Daniel Gillies)

In TVD ist allerdings sehr auffällig, dass es im Grunde keinerlei religiöse Motivationen oder Hintergründe gibt, gerade, wenn man sich die Konzeption von Vampiren und Werwölfen in diversen anderen Serien, Romanen und Filmen anschaut. Im Verlauf der Serie tauchen sogar zwei unterschiedliche Jägerorganisationen auf, die aber beide ebenfalls nicht religiös motiviert sind. Insgesamt ist mit der Ursprung der Vampire hier zu unmythisch, zu direkt greifbar und auch zu unmittelbar; als übernatürliche Spezies sind die Vampire nur etwas über tausend Jahre alt. Was ebenfalls auffällig ist: Es fehlt eine soziale Struktur, ein ordnendes Element wie die Authority in „True Blood“, die Camarilla in „Vampire: The Masquerade“ etc. Angesichts der Tatsache, wie Vampire in TVD zum Teil agieren, fragt man sich, weshalb nicht schon die ganze Welt weiß, dass sie existieren. New Orleans scheint hier eine Ausnahme zu bilden, die dortigen Konflikte werden allerdings in dem bereits erwähnten Spin-off „The Originals“ thematisiert, das ich bisher nicht gesehen habe.

Struktur
„The Vampire Diaries“ hat bislang sechs komplette Staffeln á 22 Folgen (mit einer Ausnahme, Staffel 4 hat 23 Folgen), Staffel 7 läuft gerade. Jede Staffel lässt sich in drei bis vier Kapitel unterteilen; dies hat zumeist mit einer Änderung des Status Quo zu tun (ein neuer Antagonist kommt dazu, ein alter fällt weg, jemand stirbt etc.). Insgesamt muss ich sagen: Ich finde, dass die Staffeln zu lang sind. Das mag auch mit meinen Seriengewohnheiten zu tun haben, denn die meisten Serien (zumindest die nicht komödiantischen), die ich schaue, haben im Schnitt zwischen zehn und fünfzehn Folgen. TVD hat das Problem, dass die Handlungsstränge oft ein wenig zu sehr mäandern und die Staffeln gleichzeitig zu vollgepackt wirken. Oft kommt es vor, dass Plots, die viel Potential haben, zu schnell abgehandelt werden, während andere sich zu sehr ausdehnen und die Autoren zu viele Wendungen, Loyalitäts- und Interessenswechsel einbauen. Kürzere Staffeln und mehr Fokus wären hier zu begrüßen gewesen.

Staffel 1 ist vor allem damit beschäftigt, Setting und Figuren zu etablieren und dem Zuschauer Elena, Stefan und Damon vorzustellen (und das Liebesdreieck zwischen ihnen, das ja zur Grundprämisse der Serie gehört, anzudeuten). Und natürlich werden auch diverse Nebenfiguren etabliert, etwa Elenas Bruder Jeremy (Steven R. McQueen), ihre Freundinnen Bonnie Bennett (Katerina Graham) und Caroline Forbes (Candice King), ihre Tante Jenna Sommers (Sara Canning), bei der sie und ihr Bruder nach dem Tod ihrer Eltern leben, usw. Zu Beginn fungiert Damon als Antagonist, wird jedoch im Verlauf der Staffel (mehr oder weniger freiwillig) zu einem der Protagonisten, da andere Vampire auftauchen und Probleme bereiten. Gegen Ende der Staffel zeigt sich dann, dass Katerina Petrova alias Katherine Pierce (Nina Dobrev), Erzeugerin von Stefan und Damon und Ebenbild von Elena, tatsächlich diejenige ist, die die Fäden in der Hand hält. In der zweiten Staffel übernimmt sie als Hauptantagonistin, wird dann jedoch von zwei der oben bereits erwähnten Originals abgelöst, Elijah (Daniel Gillies) und Klaus (Joseph Morgan). In der dritten Staffel kommen weitere Originals dazu, in gewissem Sinne dreht sich die ganze Staffel mehr oder weniger um ihre Familiendynamik. Auch in Staffel 4 sind sie noch ziemlich prominent, danach treiben sie allerdings in ihrem Spin-off ihr Unwesen, während in TVD neue Antagonisten eingeführt werden, u.a. Silas (Paul Wesley), der erste Unsterbliche, die uralte Hexe Qetsiyah (Janina Gavankar), der Traveler Markos (Raffi Barsoumian) und der psychopathische Hexer Kai (Chris Wood).

Caroline Forbes (Candice King) und Bonnie Bennett (Katerina Graham)
Caroline Forbes (Candice King) und Bonnie Bennett (Katerina Graham)

Wie bei so vielen Serien ist die Qualität von TVD über ihren Verlauf recht wechselhaft. Staffel 1 braucht eine ganze Weile, um in die Gänge zu kommen und wird erst in der zweiten Hälfte interessant, und auch dort leidet die Spannung darunter, dass die Antagonisten, u.a. Elenas leibliche Eltern Isobel Flemming (Mia Kirshner) und John Gilbert (David Anders) nicht besonders einnehmend sind (Erstere ist ein Vampir, Letzteren hielt Elena ihr Leben lang für ihren Onkel, da sie von ihrem eigentlichen Onkel und dessen Frau adoptiert wurde). Das ändert sich mit Staffel 2: Katherine Pierce ist nicht nur eine der besten Antagonistinnen der Serie, sie ist auch einer der interessantesten Charaktere. Ähnliches trifft auf die diversen Mikaelsons zu. Insgesamt würde ich sagen, dass Staffel 2 mit die stärkste der Serie ist. Staffel 3 ist auch noch in Ordnung. In Staffel 4 und 5 geht es allerdings relativ stark abwärts, was zum einen an immer uninteressanteren Widersachern und zum anderen an zum Teil eher unglücklicher Charakterentwicklung liegt. Gerade die Auf-und-Ab-Beziehung Elena/Damon, die ab Staffel 4 in den Mittelpunkt rückt, wird irgendwann fürchterlich lästig. Ebenso kehren immer wieder getötete Figuren zurück, sodass es inzwischen kaum noch einen Charakter gibt, der nicht mindestens einmal über den Jordan gegangen ist. Erfreulicherweise ist Staffel 6 aber wieder ziemlich stark, sodass sie zusammen mit Staffel 2 die wahrscheinlich beste Staffel darstellt, während Staffel 5 der Tiefpunkt der Serie ist. Staffel 6 schafft es, die richtigen emotionalen Saiten anzuschlagen und dafür zu sorgen, dass man sich wieder stärker für die Charaktere interessiert – nicht alle, aber einige. Das Ende der fünften Staffel mischt gewissermaßen die Karten neu, Staffel 6 macht das Beste daraus.

Figuren
Ich habe mit „The Vampire Diaries“ ein Problem, das ich öfter mit diversen Serien, Filmen und Romanen habe: Ich mag die zentrale Protagonistin nicht besonders. Elena leidet an einer ähnlichen Krankheit wie Sookie Stackhouse und (würg) Bella Swann – das scheint irgendwie normal zu sein für junge Frauen, die in einem Liebesdreieck mit übernatürlichen Wesen feststecken: Sie sind als „Damsel in Distress“ quasi vorprogrammiert, und haben darüber hinaus die Tendenz, äußerst selbstbezogen zu sein. Elena hat dafür sogar einige nachvollziehbare Gründe: Sie hat tatsächlich viele geliebte Menschen verloren, und darüber hinaus ist sie als Petrova-Doppelgängerin stets eine Zielscheibe; jede übernatürliche Wesenheit scheint hinter ihrem Blut her zu sein. Diese Charaktereigenschaft von ihr nimmt allerdings mit jeder Staffel massiv zu. Spätestens ab Staffel 4 hat Elena die Tendenz, alles, aber auch wirklich alles immer nur auf sich zu beziehen, wobei sie völlig übersieht, dass auch andere Leute Probleme haben. Das allein wäre noch nicht so problematisch, aber Elena ist nun einmal als positive Protagonistin konzipiert, und darüber hinaus auch noch so fürchterlich selbstgerecht. Inzwischen fragt man sich, weshalb sie überhaupt noch Freunde hat, die alles für sie opfern. Besonders die arme Bonnie wird gerne mal einige Folgen lang ignoriert, bis man sie wieder braucht. Und, noch schlimmer, Elenas absolut selbstsüchtigen Handlungen haben oft keinerlei Folgen. Hierzu ein spezielles Beispiel: In Staffel 4 veranlasst sie, dass einer der Originals getötet wird (was bedeutet, dass alle seine Nachkommen, also mehrere hundert oder gar tausend Vampire, ebenfalls sterben), um eine einzige Person zu retten. Die Serie thematisiert die Folgen dieser Tat einfach nicht, sie wird im Folgenden praktisch ignoriert. Dementsprechend ist es schon irgendwie passend, dass die Qualitätssteigerung von Staffel 6 unter anderem damit zusammenhängt, dass Elena quasi zur Nebenfigur wird. Ich möchte allerdings festhalten, dass das alles nichts mit Nina Dobrev zu tun hat, die in der Serie wirklich sehr gut spielt. Tatsächlich spielt sie nicht nur die ungeliebte Protagonistin, sondern auch eine meiner Lieblingsfiguren: Katherine Pierce (bzw. Katerina Petrova), die den Vorteil hat, als Antagonistin konzipiert zu sein; ihre Charaktereigenschaften passen zueinander, sie ist eine einnehmende und tragische Schurkin, eine absolute Überlebenskünstlerin. Gerade bei der Darstellung der diversen Petrova-Doppelgänger (in Staffel 5 rennen drei von der Sorte durch die Gegend) zeigt Dobrev, wie nuanciert sie spielen kann, sodass man die optisch identischen Figuren problemlos als unterschiedliche Charaktere wahrnehmen kann. Am interessantesten ist es, wenn Katherine sich als Elena oder umgekehrt ausgibt.

Viel interessanter als Elena: Katherine Pierce/Katerina Petrova (Nina Dobrev)
Viel interessanter als Elena: Katherine Pierce/Katerina Petrova (Nina Dobrev)

Insgesamt sind es, wie so oft, die diversen sekundären Hauptcharaktere, die weitaus interessanter sind als die eigentliche Protagonistin. Wie ich bereits sagte, ich gehöre weniger zur Zielgruppe, und für meinen Geschmack liegt der Fokus zu sehr auf den diversen romantischen Beziehungen und Dreiecksverhältnissen. Ironischerweise finde ich, dass TVD oft besser darin ist, nicht-romantische Beziehungen darzustellen als romantische. Die Dynamik zwischen Stefan und Damon finde ich zum Beispiel weitaus interessanter als die zwischen Stefan und Elena oder Damon und Elena. Über den Verlauf der Serie hat sich mehr oder weniger gezeigt, dass die Brüderbeziehung die eigentliche Grundlage der Serie ist – oder zumindest geworden ist. Erfreulicherweise sind sowohl Damon als auch Stefan weitaus interessanter als, sagen wir, Edward Cullen. Gerade Stefan könnte leicht als ähnlich konzipiert wahrgenommen werden, ist aber weitaus facettenreicher und einnehmender – und hat tatsächlich auch eine sehr, sehr dunkle Seite, die irgendwann ordentlich zu Tage tritt.
Ein weiteres Beispiel für die gelungenen nicht-romantischen Beziehungen findet sich in Staffel 6: Die Freundschaft, die sich zwischen Bonnie und Damon entwickelt, war definitiv eines der Highlights und hat auch dafür gesorgt, dass Bonnie als Charakter wirklich unverzichtbar wird.

Eine meiner weiteren Lieblingsfiguren ist außerdem Caroline, die in Staffel 1 noch relativ flach bleibt und vor allem von Damon als Blutkonserve benutzt wird. In Staffel 2 wird sie zum Vampir und ab diesem Zeitpunkt wird sie als Charakter interessant, macht eine glaubwürdige Entwicklung durch und wird auf authentische Weise zu einer besseren Person. Nicht, dass sie nicht auch diverse Fehler macht, aber sie bleibt dabei um so vieles angenehmer und weniger selbstgerecht als Elena. Die völlig dysfunktionale Dynamik der Familie Mikaelson ist natürlich auch äußerst spaßig – Klaus übertreibt es manchmal ein wenig, Rebekah (Claire Holt) ist hin und wieder etwas nervig, aber trotzdem interessant; ich denke jedoch, mein Favorit ist Elija.

Im Verlauf von sechs Staffeln sammeln sich natürlich viele, viele Figuren an, manche gelungen, andere weniger gelungen. Selbst diejenigen, die für die Plots tatsächlich alle wichtig sind aufzuzählen würde hier schon den Rahmen sprengen, von weniger wichtigen (aber natürlich oft interessanteren) Rollen gar nicht erst zu sprechen. Lange Rede, kurzer Sinn: In Sachen Figuren ist TVD sehr wechselhaft, das hat aber auch den Vorteil, dass es fast immer Figuren gibt, an denen man doch interessiert ist.

Fazit: Da habe ich wohl ein Guilty-Pleasure-Fandom gefunden (und das, obwohl ich nicht einmal danach gesucht habe). Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich darüber freuen soll. „The Vampire Diaries“ ist eine sehr wechselhafte Serie, die mal ausgezeichnet funktioniert und mal auch überhaupt nicht – aber sie hat es geschafft, meine Aufmerksamkeit zu fesseln – warum auch immer.

So finster die Nacht

Halloween 2015
Enthält Spoiler!

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Der Roman
„So finster die Nacht“ (Originaltitel: „Låt den rätte komma in“) ist ein 2004 (in Deutschland 2007) erschienener Roman des schwedischen Autors John Ajvide Lindqvist. Unter den vielen, vielen Vampir-Medien der letzten zehn bis fünfzehn Jahre ist Lindqvists Roman ziemlich einzigartig, weil er sich von den meisten anderen Darstellungen des untoten Blutsaugers ziemlich unterscheidet. Lindqvist nimmt sich des sympathischen, mit sich hadernden Vampirs an, allerdings in einem völlig anderen Kontext als beispielsweise Anne Rice und ihre Nachfolger. Anders als bei den meisten anderen spielt die Interaktion zwischen mehreren Vampiren hier keine Rolle. Die grundsätzliche Handlungskonzeption könnte gut zu einem Kinderbuch passen, tatsächlich erinnere ich mich dunkel an ein Kinderbuch mit ähnlicher Thematik, das ich einmal besaß, der Titel fällt mit aber einfach nicht mehr ein.

Der zwölfjährige Oskar wird in der Schule oft gehänselt, hat kaum Freunde, die Eltern sind getrennt und er lebt bei seiner Mutter, die aber nur wenig Zeit für ihn hat. Eines Tages begegnet Oskar dem Mädchen Eli, das nebenan wohnt. Eli ist ein merkwürdiges Mädchen, sie lässt sich nie bei Tag blicken, kann einen Zauberwürfel in sehr kurzer Zeit lösen und wirkt insgesamt komisch. Trotzdem – oder gerade deshalb – entwickelt sich bald eine Freundschaft zwischen den beiden Außenseitern. Aber natürlich kommt es früher oder später, wie es kommen muss: Oskar findet heraus, dass Eli ein Vampir ist und Blut zum Überleben braucht.

Oskar (Kåre Hedebrant) und Eli (Lina Leandersson) in "So finster die Nacht"
Oskar (Kåre Hedebrant) und Eli (Lina Leandersson) in „So finster die Nacht“

„So finster die Nacht“ mag zwar ein Kind als Protagonisten haben, aber Lindqvists Vampirroman ist definitiv kein Kinderbuch. Dafür sorgt vor allem Håkan, Elis erwachsener Begleiter, der für sie sorgt und ihr Blut beschafft. Im Grunde ist Håkan eine weitaus ambivalentere Figur als Eli, die im Grunde keine Wahl hat und töten und Blut trinken muss, um zu überleben. Håkan dagegen ist pädophil, versucht gegen seine Neigungen anzukämpfen, liebt Eli und tötet für sie, obwohl er weiß, dass diese Liebe völlig einseitig ist. Er ist letztendlich eine äußerst tragische Figur, die ein noch tragischeres Ende nimmt. Auch sonst ist „So finster die Nacht“ mitunter ziemlich explizit. Der Fokus liegt letztendlich in erster Linie auf der Beziehung zwischen Eli und Oskar und auf Oskars Problemen und seinen Umgang mit Elis Zustand. Nicht zu Unrecht wird „So finster die Nacht“ gerne als Sozialdrama mit Vampiren beschrieben. Gerade in Sachen Charakterzeichnung ist Lindqvist sehr begabt und sorgt dafür, dass die Figuren authentisch und nachvollziehbar sind, ohne zu viel Zeit auf Nebenschauplätze zu verschwenden.

Die Vampirdarstellung bleibt relativ traditionell, Sonnenlicht ist äußerst schädlich, normale Nahrung kann nicht konsumiert werden, Blut ist überlebensnotwendig und um ein Haus oder eine Wohnung zu betreten ist eine Einladung vonnöten. Um zum Vampir zu werden reicht es, von einem gebissen zu werden und zu überleben. Eli selbst ist, trotz fortgeschrittenen Alters, ein ziemlich fragiles und hilfsbedürftiges Geschöpf, das auf Håkan angewiesen ist; dieser beschafft ihr das Blut, das sie zum Überleben benötigt.

Fazit: „So finster die Nacht“ sticht angenehm aus der Masse der Vampirromane hervor und ist das gelungene Porträt zweier Außenseiter, die zueinander finden.

Die Verfilmungen
Lindqvists Roman wurde zwei Mal verfilmt, einmal in seiner Heimat Schweden und einmal in den USA. Bei der schwedischen Version führte Tomas Alfredson Regie, während Lindqvist selbst das Drehbuch schrieb. Die Hauptrollen spielen Kåre Hedebrant (Oskar) und Lina Leandersson (Eli). Insgesamt hält sich der Film sehr genau an den Roman, Veränderungen gibt es kaum, nur ein paar Auslassungen. Einige Dinge, die im Roman explizit erklärt werden, bleiben im Film vage, zum Beispiel Elis Geschlecht. Der Film deutet lediglich an, dass Eli vielleicht gar kein Mädchen ist, im Roman wird dagegen ausdrücklich klargestellt, dass Eli tatsächlich ein kastrierter Junge ist. Auch Håkans Beziehung zu Eli wird im Film nur in Andeutungen thematisiert, sein Hintergrund wird nicht erläutert und er kehrt nach seinem Fenstersturz auch nicht als höchst verstörender Vampir zurück.

Das amerikanische Remake (oder die Zweitverfilmung des Romans, je nach Sichtweise) „Let Me In“ wurde nach der Ankündigung stark kritisiert, nach dem Kinostart erhielt es allerdings auch viel Lob. Regie führte Matt Reeves, Lindqvist war abermals am Drehbuch beteiligt, das er zusammen mit dem Regisseur verfasste. Die amerikanische Version spielt auch in Amerika, statt Schweden ist New Mexico der Handlungsort, Oskar trägt den Namen Owen (gespielt von Kodi Smit-McPhee), während Eli nun Abby (gespielt von Chloë Grace Moretz) heißt. Interessanterweise hat die Änderung des Handlungsortes relativ wenig Folgen: Das verschneite und triste New Mexico des Films könnte genauso gut Schweden sein.

Owen (Kodi Smit-McPhee) und Abby (Chloë Grace Moretz) in "Let Me In"
Owen (Kodi Smit-McPhee) und Abby (Chloë Grace Moretz) in „Let Me In“

Inhaltlich setzt „Let Me In“ im Vergleich zur schwedischen Adaption allerdings durchaus andere Akzente. Im Großen und Ganzen ist die amerikanische Version weitaus stärker komprimiert als die schwedische. Diese setzt die meisten Szenen sehr buchgetreu um, „Let Me In“ tut das zwar auch, streicht aber viel mehr Szenen, darunter die meisten der kleineren Nebenschauplätze und Subplots. Interessanterweise liegt der Fokus deswegen trotzdem nicht stärker auf der Beziehung und Interaktion von Owen und Abby, diese wirkt in der schwedischen Version plastischer und besser ausgearbeitet, was auch daran liegt, dass sie weitaus dialogreicher ist. Während „So finster die Nacht“ eher ein Drama mit Horror-Elementen ist, in dessen Zentrum die Charaktere stehen, rückt Regisseur Matt Reeves Atmosphäre und Horror stärker in den Mittelpunkt. „So finster die Nacht“ ist beispielsweise ein sehr kalter, aber auch ziemlich realistisch aussehender Film, „Let Me In“ dagegen wirkt oft, besonders in den orange ausgeleuchteten Nachtszenen, geradezu surreal und ist auch in der Gewaltdarstellung expliziter. Während Elis Vampirnatur nur durch tierische Laute vermittelt wird, bekommt Abby raubtierhafte bzw. klassisch „vampirische“ Züge, wenn sie mit Blut konfrontiert wird.

Wie in „So finster die Nacht“ werden jedoch Håkans Hintergrund (die Figur bleibt hier namenlos) und Abbys Geschlecht auch in „Let Me In“ nur subtil angedeutet. Abby wirkt zudem noch „weiblicher“; Lina Leandersson ist im Film eine ziemlich androgyne Erscheinung, ihre Gesichtszüge sind ziemlich neutral und mit kurzen Haaren könnte sie auch sehr gut als Junge durchgehen. Chloë Grace Moretz dagegen sieht weitaus mädchenhafter aus.

Fazit: Insgesamt sind beide Filme ziemlich nah an der Vorlage. „So finster die Nacht“ konzentriert sich dabei stärker auf die Charaktere und das Drama und setzt die Vorlage noch genauer um, während „Let Me In“ die Handlung stärker komprimiert und den Fokus auf Atmosphäre und Horror legt und der visuell interessantere Film ist.

Crimson Peak

Halloween 2015
Enthält leichte Spoiler!

peak
Story: Edith Cushing (Mia Wasikowska), Tochter des reichen amerikanischen Unternehmers Carter Cushing (Jim Beaver), sieht als Kind den Geist ihrer verstorbenen Mutter, der sie vor „Crimson Peak“ warnt. Viele Jahre später versucht sie sich als Autorin und erregt dabei die Aufmerksamkeit von Sir Thomas Sharpe (Tom Hiddleston), der mit ihrem Vater ins Geschäft kommen möchte. Carter Cushing findet schon bald heraus, dass Sir Thomas eine dunkle Vergangenheit hat und möchte nicht, dass seine Tochter mit ihm verkehrt, als er allerdings kurz darauf brutal ermordet wird, entschließt sich Edith, Thomas zu heiraten und mit ihm in das altehrwürdige Anwesen seiner Familie zu ziehen. Doch schon bald häufen sich merkwürdige Vorkommnisse, Thomas‘ Schwester Lucille (Jessica Chastain) verhält sich merkwürdig, Edith sieht Geister und dann erfährt sie auch noch, dass das Anwesen aufgrund der roten Lehmvorkommen auf dem Grundstück den Spitznamen „Crimson Peak“ trägt…

Kritik: Dieser Film steht schon länger auf meiner Liste: Guillermo del Toro, Tom Hiddleston, und dann auch noch ein viktorianisches Setting? Her damit. Zuvor allerdings ein Wort der Warnung: Um von „Crimson Peak“ nicht enttäuscht zu werden, sollte man auch nicht mit den falschen Erwartungen an den Film herangehen, die zum Beispiel durch die Trailer geweckt werden könnten, die sich eher auf die Horror-Aspekte des Films konzentrieren; stattdessen sollte man lieber hören, was der Regisseur sagt, der „Crimson Peak“ als „Gothic Romance“ beschreibt. Es kommen zwar Geister vor, diese sind aber eher eine Randerscheinung und stehen nicht wirklich im Fokus der Geschichte. Ironischerweise (und sicher mit Absicht) erläutert Edith selbst zu Beginn des Films, welcher Natur er ist. Sie spricht dabei zwar über ihr Romanmanuskript, aber was sie sagt, trifft auch auf den Film selbst zu: Es ist eine Geschichte mit Geistern, keine Geistergeschichte. „Crimson Peak“ ist nicht „Die Frau in Schwarz“; wer einen reinrassigen Horrorfilm erwartet, könnte enttäuscht werden.

Was Guillermo del Toro mit „Crimson Peak“ geschaffen hat, ist eine Liebeserklärung an die „Gothic Novel“, die nicht hinterfragt oder parodiert, sondern die Thematik einfach durchspielt. Der Horror der „Gothic Novel“ kommt zumeist aus zwei Quellen: Entweder es handelt sich um eine äußere, übernatürliche Bedrohung (Geister, Vampire, etc.), oder aber es ist eine „innere“ Bedrohung, in Form von Wahnsinn oder Verderbtheit. Trotz des Vorhandenseins von Geistern handelt „Crimson Peak“ letztendlich von Letzterem. Die größte Schwäche des Films ist wohl, dass man den Twist bzw. die Lösung des Rätsels ziemlich problemlos erahnen kann, besonders, wenn man gewisse Genre-Kenntnisse besitzt. Interessanterweise ist das Werk, an das ich beim Schauen des Films immer wieder denken musste, Edgar Allan Poes „Der Untergang des Hauses Usher“, statt einer richtigen Geistergeschichte.

Wie dem auch sei, natürlich gibt es ein Gebiet, auf dem „Crimson Peak“ vollkommen zu überzeugen weiß, und das ist die Atmosphäre. Wie kein Zweiter versteht es Guillermo del Toro, eine grandiose Stimmung aufzubauen. Selbst im ersten Akt, der noch in Amerika und der „normalen“ Welt spielt, herrscht ein Atmosphäre sehr subtiler Bedrohung. Das titelgebende Herrschaftshaus übertrifft schließlich alle Erwartungen – was für ein grandioses Setting. Die Idee mit dem roten Lehm, durch den Haus regelrecht zu bluten scheint, ist brillant, und auch sonst verkörpert Allderdale Hall bzw. Crimson Peak die Qualitäten eines gotischen Schauplatzes: Pracht und Verfall, Kunst und Verderben. Ebenfalls gelungen ist der langsame, subtile Spannungsaufbau, der wohl für manche Zuschauer ein wenig zu viel war; diese stempelten „Crimson Peak“ sofort als langweilig ab. Mir hat das aber gut gefallen – auch das gehört zu den Stilmitteln der Gothic Novel.

Ebenso weiß „Crimson Peak“ schauspielerisch zu überzeugen, auch wenn Tom Hiddleston und Jessica Chastain ein wenig unterfordert wirken. Und schließlich wären da noch die Geister, die zwar nur spärlich auftauchen, aber unverkennbar als Kreaturen aus einem Film von Guillermo del Toro zu erkennen sind. Viele von del Toros Monster haben eine spezielle Eigenart, die man bereits vom Pale Man aus „Pans Labyrinth“ oder dem Todesengel aus „Hellboy: Die goldene Armee“ kennt, und das trifft auch auf die Geister dieses Films zu.

Fazit: „Crimson Peak“ ist zwar kein Meisterwerk á la „Pans Labyrinth“, aber eine gelungene Liebeserklärung an die Gothic Novel, die zwar unter einer eher konventionellen Geschichte und einem recht schwachen Twist leidet, aber atmosphärisch grandios daherkommt. Wer viktorianischen Horror mag, kommt trotz der Schwächen voll auf seine Kosten.

Trailer

Aktuell: Trailer zu Episode VII


Eigentlich kommt er ziemlich spät, dieser Trailer, wenn man bedenkt, dass die ersten beiden „nur“ Teaser waren, die noch verhältnismäßig wenig verraten haben. Dieser Trailer spoilert den Film zwar (glücklicherweise) nicht völlig und verrät auch sonst nicht sooo viel über die Handlung, aber er zeigt doch immerhin etwas mehr, vor allem aus der zweiten Hälfte des Films.

Apropos: Über Handlung ist immer noch nicht allzu viel bekannt, es gibt Gerüchte, die mehr oder weniger zutreffen, Halbwahrheiten, Ansatzpunkte und Fankonstruktionen, aber es ist immer noch schwierig, eine wirkliche Inhaltsangabe des Films anzufertigen. Angesichts der Tatsache, dass zu Marketingzwecken heutzutage oft schon der halbe Film in Form kurzer Youtube-Clips im Netz landet, ist das hier deutlich angenehmer.

Aber nun zum eigentlichen Trailer: Am Anfang werden, etwas ausführlicher als bisher, die beiden neuen Protagonisten Rey (Daisy Ridley), Schrottsammlerin auf Jakku, und Finn, ein Deserteur der Sturmtruppen der Ersten Ordnung, vorgestellt. Ähnlich ist es mit Kylo Ren, dem Antagonisten, dessen Status als Vader-Fanboy hier noch einmal unterstrichen wird. Anschließend folgen vor allem Eindrücke der Action (Millenium Falke vs. Tie Fighter), Han Solo, der bestätigt, dass die Handlung der alten Trilogie wahr ist, der Hyperraum und ein Fokus auf das Wort WARS in Star Wars.

Besonders interessant ist die musikalische Untermalung, in der zweiten Hälfte sind zwei neue Variationen bekannter Williams-Themen zu hören, einmal das Han/Leia-Liebesthema und einmal das Machtthema. Bei beiden handelt es sich allerdings nicht um neue Williams-Versionen dieser Melodien, sondern um speziell für den Trailer bearbeitete Stücke. Die Variationen klingen auch nicht sehr nach Williams, sie haben einen modernen, etwas plumpen Charakter, der hier (auch wegen der Vertrautheit) dennoch ziemlich gut funktioniert. Zur Titeleinblendung ist dann noch kurz ein Fragment des Main Title zu hören.

Insgesamt: Sehr schöner Trailer, der allerdings nicht die emotionale Wucht des Letzen hatte. Trotzdem: Ich kann den Kinostart kaum mehr abwarten.

Aktuell: Das Tor zur Hölle öffnet sich im Heimkino

Halloween 2015
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Nach Jahren des Wartens kommen nun die ersten drei Hellraiser-Filme ungeschnitten in einer luxuriösen Sonderedition (inklusive der Barker-Kurzfilme „Salomé“ und „The Forbidden“ und Bonusmaterial in Form von Featurettes und Interviews) auf Blu-Ray heraus. Für Fans der Filmreihe (wie mich) ist das natürlich ein sehr freudiges Ereignis, das allein wäre allerdings noch kein Grund, dem extra diesen Artikel zu widmen. ABER ich bin an dieser Veröffentlichung (wenn auch nur im Kleinen) beteiligt, denn zu ihr gehört ein umfassendes Booklet, dessen Texte zum Großteil von mir bzw. aus diesem Blog stammen – weshalb ich denke, dass es gerechtfertigt ist, das hier auch zu erwähnen.

Besagte Sonderedition erscheint voraussichtlich am 6. November in zwei Fassungen (normal und limitierte Lacquered Velvet Edition mit zusätzlichem Material wie Poster und Sammelkarten) und kann bei BMV-Medien bestellt werden (da die Hellraiser-Filme ab 18 sind, ist selbstverständlich ein Altersnachweis vonnöten).

Der König in Gelb

Halloween 2015
königgelb
Viele Autoren, die zu Lebzeiten produktiv und erfolgreich sind, werden nach ihrem Tod oft relativ schnell vergessen. Manche haben immerhin das Glück, zumindest für ein Werk in Erinnerung zu bleiben und Spuren zu hinterlassen. Robert W. Chambers ist hierfür ein gutes Beispiel. Der 1865 geborene und 1933 gestorbene Autor verfasste über 80 Werke, die während seines Lebens sehr populär waren, doch in der Zwischenzeit erinnert man sich an Chambers vor allem wegen der Kurzgeschichtensammlung „Der König in Gelb“, und das auch nicht einmal so sehr wegen der Geschichten selbst, sondern eher wegen ihres Einflusses.

Die Sammlung enthält (zumindest in meiner Ausgabe) sieben Geschichten: „Der Wiederhersteller des guten Rufes“, „Die Maske“, „Am Hofe des Drachen“, „Das Gelbe Zeichen“, „Die Jungfer d’Ys“, „Das Paradies der Propheten“ und „Die Straße der vier Winde“. Eine Genre-Zuordnung ist nicht ganz einfach, die Geschichten haben alle ein übernatürliches Element und sind im weiteren Sinne Horror, passen aber nicht wirklich zur Schauerliteratur der Zeit („Der König in Gelb“ erschien 1895). Stattdessen besitzen einige der Kurzgeschichten, in erster Linie die ersten vier, ein Lovecraft’sches Element, das ihrer Zeit gewissermaßen voraus ist. Die restlichen Geschichten sind eher abstrakt-romantisch denn wirklich gruselig, in „Die Jungfer d’Ys“ verliebt sich der Protagonist beispielsweise in einen Geist.

„Die Wiederherstellung des guten Rufes“, „Die Maske“, „Am Hof des Drachen“ und „Das Gelbe Zeichen“ werden durch ein Element verbunden, den titelgebenden „König in Gelb“. Es handelt sich dabei um ein Theaterstück, dessen erster Akt noch recht trivial ist, während die Lektüre des zweiten Aktes, selbst wenn man nur wenige Worte liest, einen wegen der schrecklichen Wahrheiten, die er enthüllt, unweigerlich in den Wahnsinn treibt. Dies geschieht zum Beispiel mit dem Protagonisten von „Die Wiederherstellung des guten Rufes“. Mit dem Theaterstück ist eine bösartige Entität verbunden, die ihm seinen Namen gibt. Natürlich enthüllt keine der Geschichten, um welche schrecklichen Wahrheiten es sich eigentlich handelt, was es wirklich mit dem titelgebenden König auf sich hat oder worum es in dem Stück eigentlich geht – es werden nur ein paar sehr kurze Auszüge wiedergegeben, die allesamt aus dem ersten Akt stammen.

Das ruft sicher nicht nur bei mir Erinnerungen an Lovecrafts Necronomicon und seine zerstörerischen Götter hervor. Es stimmt allerdings nicht, dass Chambers den „Cthulhu-Mythos“ oder das Necronomicon inspirierte, wie manch einer behauptet – Lovecraft las „Den König in Gelb“ erstmals 1927, zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits „The Hound“, „The Festival“ und diverse andere Geschichten geschrieben, die zum Mythos gerechnet werden und in denen das Necronomicon bereits auftaucht. Dennoch war er von Chambers Geschichten fasziniert und versteckte einige Anspielungen in seinen eigenen Werken, manchmal ziemlich offensichtlich, andere subtiler. In „History of the Necronomicon“ wird beispielsweise angemerkt, dass besagtes Werk Chambers inspiriert haben könnte. Darüber hinaus tauchen diverse Elemente aus „Der König in Gelb“ in Lovecrafts Geschichten (zum Beispiel in „The Whisperer in Darkness“) auf, unter anderem die mysteriöse Stadt Carcosa, Hastur, der See von Hali oder das Gelbe Zeichen. Interessanterweise stammen die erwähnten Eigennamen nicht von Chambers selbst, dieser entlehnte sie aus einigen Kurzgeschichten von Ambrose Bierce.

Nach Lovecrafts Tod konzipierte August Derleth Lovecrafts Geschichten zum „Cthulhu-Mythos“ und integrierte Chambers‘ Werk darin: Hastur wurde zu einem der „Great Old Ones“, der König in Gelb zu einem seiner Avatare etc.; somit tauchten Elemente aus „Der König in Gelb“ nun auch kontinuierlich in den Geschichten anderer Autoren auf. Einige Autoren entdeckten allerdings auch Chambers‘ ursprüngliches Werk und versuchten, daran statt an Lovecraft und Derleth anzuknüpfen. In der Zwischenzeit sind diverse Kurzgeschichtensammlungen erschienen, die die Thematik von Chambers‘ Werk fortsetzen (zum Beispiel „The King in Yellow: An Anthology“ oder „A Season in Carcosa“), diverse Autoren haben versucht, das titelgebende Theaterstück zu „rekonstruieren“, darunter Lin Carter und Thom Ryng) und auch sonst tauchen Anspielungen immer wieder auf, etwa in den Werken von Marion Zimmer Bradley oder George R. R. Martin. Es existiert sogar ein Wiki zum „Gelben Mythos“ (siehe hier).

Letztes Jahr erhielt Chambers‘ Kurzgeschichtensammlung darüber hinaus noch einen Popularitätsschub aus ungeahnter Quelle: In der hochgelobten ersten Staffel der Anthologieserie „True Detective“ tauchen immer wieder Verweise auf den „König in Gelb“ auf, vor allem in der zweiten Episode, in der die Ermittler Rust (Matthew McConaughey) und Cole (Woody Harrelson) das Tagebuch eines ermordeten Mädchens untersuchen, das mit Verweisen und Zitaten aus Chambers Text gefüllt ist. Es finden sich im Verlauf der Serie noch diverse weitere Erwähnungen und Verweise, die dann in einem Finale kulminieren, das an einem Ort stattfindet der, wie könnte es anders sein, als Carcosa bezeichnet wird. Was „True Detective“ ohnehin interessant macht ist, dass gewisse Aspekte der Serie (bzw. der ersten Staffel) doch stark an Chambers und vor allem an Lovecraft erinnern; nicht per se das Charakterdrama, aber einige andere Elemente. Rust hätte gut als Lovecraft’scher Protagonist funktionieren können, und auch die Art und Weise, wie Atmosphäre aufgebaut wird und wie der Kult handelt erinnert an den Schriftsteller aus Providence. „True Detective“ ist natürlich nicht dem Genre „kosmischer Horror“ zuzuordnen, das Lovecraft quasi begründete, aber hin und wieder gibt es doch zumindest sehr subtile Hinweise, dass da mehr sein könnte als nur die profane Welt…

Fazit: Selbst Freunden von Lovecraft’schem Horror ist „Der König in Gelb“ vielleicht zu zahm und zu abstrakt – die Geschichten werden erst richtig interessant, wenn man ihre Wirkung kennt. Dennoch: Als Fan von Lovecraft (oder „True Detective“) sollte man Chambers‘ Werk gelesen haben.

Fiebertraum

Halloween 2015
fevredream
Unglaublich, aber wahr: George R. R. Martin hat auch Werke verfasst, die nichts mit der Welt von Eis und Feuer zu tun haben. Tatsächlich war er in einigen Genres aktiv, darunter auch Horror. 1982 erschien mit „Fiebertraum“ („Fevre Dream“) ein Vampirroman aus seiner Feder – und ein äußerst lohnenswerter noch dazu, denn auch Martin leistete seinen Beitrag zum immer populärer werdenden sympathischen Vampir.

Die Handlung beginnt im Jahr 1857, im Zentrum steht Abner Marsh, ein sehr fähiger, wenn auch äußerst unattraktiver Mississippi-Kapitän. Nach einer Pechsträhne erhält Marsh von dem mysteriösen Joshua York ein Angebot, das er einfach nicht ablehnen kann: York schlägt ihm vor, einen Flussdampfer zu finanzieren, wie ihn der Mississippi noch nie gesehen hat und auf dem sie gemeinsam das Sagen haben. Die einzige Bedingung ist, dass Marsh Yorks seltsame Angewohnheiten akzeptiert und keine Fragen stellt. Das Ergebnis der Zusammenarbeit ist die Fevre Dream, ein opulentes Schiff, das schon bald zur Legende werden und die schnellsten Dampfer auf dem Mississippi schlagen könnte. Doch besagte Angewohnheiten Yorks beginnen schon bald, Marsh massiv zu stören, unter anderem verschwindet York immer wieder, verzögert so die Abfahrt und bringt neue, merkwürdige Passagiere an Bord. Schließlich kommt Marsh hinter das Geheimnis seines Partners: Dieser ist ein Vampir, der sein Schicksal nicht anerkennt und versucht, seine Artgenossen mithilfe eines Blutersatzes vom Töten abzubringen. Marsh erklärt sich schließlich dazu bereit, seinem Partner zu helfen. In Damon Julien, einem Jahrtausende alten Blutsauger, haben sie allerdings einen übermächtigen Gegner, der keinerlei Interesse daran hat, seine Lebensweise zu ändern…

Inhaltlich unterscheidet sich „Fiebertraum“ sehr stark von den Romanen, für die Martin vor allem populär ist, stilistisch gibt es allerdings diverse Parallelen. Wie in „A Song of Ice and Fire“ gibt es POV-Charaktere, durch deren Augen der Leser das Geschehen ausschließlich sieht; hier sind es Abner Marsh und Sour Billy Tipton, der menschliche Helfer von Damon Julien, wobei Letzterer eindeutig ein sekundärer Protagonist ist, während der Fokus auf Marsh liegt. Und wie in „A Song of Ice and Fire“ ist die Erzählung sehr breit angelegt und darüber hinaus auch sehr gut recherchiert, es dauert eine Weile, bevor man als uneingeweihter Leser erfährt, worum es eigentlich geht. Der Horror-Aspekt wird erst in der zweiten Hälfte des Romans dominant, dann aber richtig, denn mit Damon Julien ist definitiv nicht zu Spaßen. Den ersten Teil nutzt Martin vor allem, um die Eigenheiten der Zeit und des Settings sehr detailliert zu beschrieben, was manch einen ungeduldigeren Leser vielleicht abschrecken könnte. Auf mich hatte es allerdings eher den gegenteiligen Effekt, Martin schafft es, Setting und Atmosphäre äußerst plastisch zu gestalten und die Geschehnisse interessant darzustellen. Das gilt auch für Abner Marsh, der erfreulicherweise kein klischeehafter Protagonist ist, sondern äußerst authentisch und sympathisch daherkommt. Ebenso sind die beiden Vampire äußerst interessante Figuren.

Apropos Vampire: Diese sind bei Martin eine eigene Spezies, die sich parallel zu den Menschen entwickelt hat, das heißt, dass Menschen nicht verwandelt werden können, man wird als Vampir geboren. Viele der klassischen Eigenschaften spielen deshalb auch keine Rolle, wirklich wichtig sind nur zwei: Der Blutdurst (hier als „der rote Durst“ bezeichnet, der Vampire zum Töten treibt) sowie die Anfälligkeit gegenüber Sonnenlicht. Einige der inhaltlichen Ideen greifen bereits einiges vorweg, was in den folgenden Jahrzehnten durch andere Werke populär werden sollte. Das von Joshua York erfundene Elixier, das den roten Durst bekämpft, kann wohl getrost als Vorläufer des Tru Blood in Charliane Harris‘ „Southern Vampire Mysteries“ und der darauf basierenden TV-Serie „True Blood“ betrachtet werden, während die Idee, dass der biblische Kain der Urvater der Vampire ist, von „Vampire: The Masquerade“ aufgegriffen und popularisiert wurde.

Joshua York steht als mit seiner Natur hadernder „guter“ Vampir derweil in der Tradition von Sir Francis Varney und Louis de Point du Lac. Anders als sonst bei Martin ist Damon Julien wirklich eindeutig böse und der Schurke, bleibt als solcher aufgrund seiner Konzeption allerdings stets interessant; Julien ist alt und ausgebrannt, hegt einen Todeswunsch und klammert sich gleichzeitig an sein Leben. Jegliche Ähnlichkeit zu Menschen, die er vielleicht einmal besessen haben mag, ist schon vor langer Zeit verschwunden. Auch hier haben sich die Macher von „Vampire: The Masquerade“ bei der Konzeption der uralten Vampire deutlich an Martin orientiert.

Fazit: „Fiebertraum“ ist der Beweis, dass George R. R. Martin auch schon ein großartiger Autor war, bevor er sein Magnum Opus verfasste. Hier finden sich bereits viele der stilistischen Stärken von „A Song of Ice and Fire“, zusätzlich zu einer gelungenen Variation des Vampirs und einer verdammt spannenden, atmosphärisch grandiosen Geschichte. Wer nach einem guten Vampirroman sucht, macht mit „Fiebertraum“ nichts falsch.

Lovecrafts Vermächtnis: Das Necronomicon

Halloween 2015
necro
Anmerkung: Im Verlauf meines Studiums habe ich es immer mal wieder geschafft, Hausarbeiten über Themen zu schreiben, die mir besonders am Herzen liegen. Bei diesem Artikel handelt es sich um eine davon, die ich bearbeitet, gekürzt und von Zitaten und dem wissenschaftlichen Apparat befreit habe. Für den Fall, dass dieser Text Interesse an der Thematik geweckt hat, habe ich die Bibliographie der verwendeten Werke ans Ende des Artikels gepackt.

Howard Phillips Lovecraft gehört mit Sicherheit zu den einflussreichsten Autoren des 20. Jahrhunderts – oder zumindest zu den Autoren, die am häufigsten imitiert und deren Ideen weiter verfolgt werden. Gerade in den Bereichen Horror und Science-Fiction – die Genres, denen Lovecrafts Geschichten selbst ebenfalls am ehesten zuzuordnen sind – stößt man immer wieder auf Spuren des Schriftstellers aus Providence. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Lovecraft verfügte, dass seine Geschichten und Ideen weiterverwendet werden durften und sollten, was befreundete Autoren bereits zu seinen Lebzeiten taten. Nach seinem Tod nahm dies noch viel größere Ausmaße an, viele Autoren wurden zu direkten „Nachfolgern“ Lovecrafts und bauten direkt auf seinen Geschichten auf.

Eine der wohl populärsten Erfindungen Lovecrafts ist das Necronomicon, ein verbotenes Buch mit fürchterlichem Inhalt, verfasst von dem verrückten Araber Abdul Alhazred, das in vielen seiner Geschichten eine wichtige Rolle spielt oder doch zumindest erwähnt wird. Das Necronomicon ist auch das Element aus Lovecrafts Schaffen, das bei anderen Autoren am häufigsten verwendet wird. Es taucht oftmals – und sei es nur als Anspielung – in Geschichten auf, die augenscheinlich gar nichts mit der von Lovecraft geschaffenen Mythologie zu tun haben – ein Beispiel ist Stanley G. Weinbaums Roman „The New Adam“, aber selbst in einer Episode der Zeichentrickserie „Justice League Unlimited“ wird es einmal beiläufig erwähnt. Darüber hinaus hat es praktisch ein Eigenleben entwickelt, da sich lange der Glaube hielt, beim Necronomicon handle es sich um ein wirklich existierendes und nicht um ein fiktives Buch. In den Jahrzehnten nach Lovecrafts Tod entstanden sogar mehrere Ausgaben des Necronomicons, die von sich behaupteten, das „echte“ zu sein.

Das Necronomicon in Lovecrafts Geschichten
Wie bereits erwähnt zählt das Necronomicon, neben Orten wie dem fiktiven Arkham, zu den immer wiederkehrenden Elementen in Lovecrafts Geschichten. Zwar ist es nicht das einzige fiktive okkulte Werk in seinen Geschichten, aber mit Abstand das bekannteste. Zum ersten Mal tauchte es in der 1922 erschienen Geschichte „The Hound“ auf, es gab allerdings in anderen Geschichten bereits erste „Vorzeichen“, etwa in „Polaris“ (1918) oder „The Statement of Randolph Carter“ (1919) – in beiden ist die Rede von mysteriösen Manuskripten und Büchern. In „The Nameless City“ von 1921 wird darüber hinaus bereits Abdul Alhazred, der Autor des Necronomicons, erwähnt, ebenso wie ein später dem Necronomicon zugeordneter und von Alhazred verfasster Zweizeiler, der auch in „The Call of Cthulhu“ wieder auftaucht: „That is not dead which can eternal lie,/And with strange aeons even death may die.”

In „The Hound“ schließlich erfolgte die erste namentliche Erwähnung des Necronomicons, und zusätzlich wird Abdul Alhazred als Autor genannt, ansonsten gibt es allerdings kaum weitere Informationen zum finsteren Grimoire. Stattdessen führt Lovecraft hier schon die Art und Weise ein, wie das Necronomicon in kommenden Erzählungen oftmals verwendet werden sollte, denn in vielen Geschichten, in denen es vorkommt, ist es nicht wirklich für die Handlung relevant, stattdessen wird es benutzt, um die Atmosphäre des Unheimlichen und Verbotenen aufzubauen oder zu verstärken. Oftmals erinnern die merkwürdigen Vorkommnisse, die die Protagonisten Lovecrafts erleben, sie an Dinge, die sie im Necronomicon gelesen haben. In „The Hound“ wird zum Beispiel ein Amulett gefunden, das den Erzähler an eine Textstelle aus dem verbotenen Buch erinnert.

„Fragment“ des Necronomicon (kann als Wanddekoration oder RPG-Requisit käuflich erworden werden)

Ähnliche Einsätze des Necronomicons finden sich in Geschichten wie „The Call of Cthulhu“ oder „At the Mountains of Madness”, in denen das Buch selbst ebenfalls kaum handlungsrelevant ist, sondern eher dazu dient, die Atmosphäre zu schüren und der Erzählung Tiefe zu verleihen. Gerade bei Letzterer fühlt sich der Protagonist beim Anblick der Antarktis an eine Beschreibung aus dem Necronomicon erinnert, und später kommt er zu dem Schluss, dass die „Elder Things“, die die Expedition in der Antarktis gefunden hat, wohl die Grundlage für die Schilderungen im Necronomicon sind.

Es gibt allerdings auch Geschichten, in welchen das Necronomicon und sein Inhalt eine wichtige Rolle für den Plot spielen und nicht nur „Dekoration“ sind. Eine solche ist „The Case of Charles Dexter Ward“. Bei dem in dieser Geschichte enthaltenen Auszug handelt es sich um zwei Formeln, mit deren Hilfe es möglich ist, die Toten aus ihren chemischen Salzen wiederzuerwecken und diese Wiedererweckung rückgängig zu machen. Beide Formeln werden lediglich in einer fiktiven und somit unverständlichen Sprache wiedergegeben, sie enthalten jedoch den Namen des dunklen Gottes Yog-Sothoth, der in einigen anderen Geschichten eine größere Rolle spielt, u.a. in „The Dunwich Horror“. Besagte Geschichte ist auch die einzige außer „The Festival“, in welcher sich ausführliche (und auch verständliche) Zitate aus dem Necronomicon finden. In „The Festival“ steht das Necronomicon praktisch im Zentrum der Handlung, die Geschichte arbeitet jedoch in erster Linie mit Atmosphäre: Der Protagonist nimmt in der fiktiven Stadt Kingsport an einem unheimlichen Ritual, das um das Necronomicon und merkwürdige, geflügelte Kreaturen herum aufgebaut ist, teil. Letztendlich wehrt er sich, fällt in einen Fluss und wacht im Krankenhaus wieder auf. Am Ende der Geschichte sucht er ein anderes Exemplar des Necronomicon auf und liest dort einen Abschnitt, der seine Erlebnisse genau widerspiegelt.

Die in „The Dunwich Horror“, eine der wenigen Lovecraft-Geschichten mit einem „Gut-gegen-Böse-Schema“, wiedergegebene Stelle ist noch länger und auch hier ist das Necronomicon ein Teil der Handlung: Mithilfe des verfluchten Buches möchte Wilbur Whateley seinem Vater, dem finsteren Gott Yog-Sothoth, den Zugang zur Welt der Menschen ermöglichen. Besagte Stelle stammt von Seite 751 des verbotenen Buches, und ist, im Vergleich zu anderen Geschichten, verhältnismäßig eindeutig, vor allem, was die „Great Old Ones“ angeht, neben Yog-Sothoth selbst werden auch Shub-Niggurath und Cthulhu erwähnt.

Da das Necronomicon in seinen Geschichten immer häufiger auftauchte, verfasste Lovecraft 1927 einen kurzen, nicht immer ganz ernst gemeinten Abriss der Geschichte des verbotenen Buches, um in seinen Verweisen konsistent zu bleiben. Darin enthüllt er den ursprünglichen Titel des Werkes – Al Azif (abgeleitet von Geräusch, das nächtliche Insekten machen und das für das Heulen von Dämonen gehalten wurde) – und macht Angaben zur Entstehung und zum Autor, ebenso wie zur weiteren Verbreitung. So kommt der Name „Necronomicon“ nicht von Alhazred selbst, sondern von Theodorus Philetas, der das Buch im 10. Jahrhundert ins Griechische übersetzt hat. In diesem historischen Abriss finden sich auch immer wieder historische Persönlichkeiten wie Olaus Wormius oder John Dee (die Idee, dass Letzterer eine englische Übersetzung des Necronomicons anfertigte, stammt allerdings von Frank Belknap), die das Necronomicon weiter verbreiteten und übersetzten. Tatsächlich werden die historischen Persönlichkeiten, die, wie John Dee, in Lovecrafts Geschichten mit dem Necronomicon zu tun haben, genau gleich behandelt wie die fiktiven Figuren und Ereignisse, was abermals für die Verwischung der Grenze zwischen Fakt und Fiktion sorgt. Das Necronomicon bei Lovecraft ist also, wenn es für die Handlung wirklich eine Rolle spielt, immer eine Quelle von verbotenem Wissen – mitunter ist es allerdings recht unzuverlässig. In manchen Fällen sind dies lediglich Informationen, in anderen aber auch wirkungsvolle Zaubersprüche.

Das Necronomicon und der „Cthulhu-Mythos“
Beim sogenannten „Cthulhu-Mythos“ handelt es sich um eine thematische Kategorisierung der Geschichten Lovecrafts. In den Werken, die dem „Cthulhu-Mythos“ zugeordnet werden, spielen die von ihm geschaffenen, bedrohlichen und enorm mächtigen fiktiven Götter – Cthulhu, Yog-Sothoth, Azathoth etc. – eine Rolle. Er ist praktisch das, was hinter dem Necronomicon steht und die Quelle des Wahnsinns seines Autors. So gehören die meisten der oben aufgezählten Werke zu den „Mythos-Geschichten“, in denen das Necronomicon zumeist als mehr oder minder zuverlässige Wissensquelle fungiert – somit ist es, neben den unbegreiflichen Gottheiten, eines der Elemente, die die eigentlich für sich stehenden Geschichten verbinden.

Diese Einordnung ist jedoch alles andere als unumstritten. Zuerst einmal ist es nicht immer eindeutig, ob eine Geschichte zum Mythos gehört. „The Dream-Quest of Unknown Kadath“ unterscheidet sich beispielsweise stilistisch und inhaltlich stark von der „typischen“ Mythos-Geschichte wie „The Call of Cthulhu“, mit Azathoth und Nyarlathotep tauchen aber zwei Mythos-Götter auf. Ganz ähnlich verhält es sich mit „The Hound“ oder „The Festival“, in denen Mythos-Bestandteile wie Abdul Alhazred und das Necronomicon erwähnt werden, der Mythos an sich aber keine Rolle zu spielen scheint oder lediglich sehr vage angedeutet wird. Andere Geschichten, vor allem aus den früheren Jahren von Lovecrafts Tätigkeit, weisen dagegen bereits inhaltliche oder stilistische Merkmale späterer, eindeutiger „Mythos-Geschichten“ auf, enthalten aber noch keine direkten Verweise, etwa „Dagon“ oder „The Temple“. Die Zuordnung, welche Geschichten zum „Cthulhu-Mythos“ gehören und welche nicht, ist somit nicht eindeutig.

Weiteres „Fragment“ des Necronomicon

Darüber hinaus ist der Begriff „Cthulhu-Mythos“ selbst ziemlich umstritten. Er wurde von Lovecrafts Freund und Nachlassverwalter August Derleth geprägt und stammt nicht von Lovecraft selbst. In der Tat nahm Lovecraft seine Pseuodmythologie, wie sich anhand mehrerer Aussagen belegen lässt, wohl nicht besonders ernst. Viele der Aspekte stammen in der Tat von Derleth, der selbst auch „Mythos-Geschichten“ schrieb und für die zentrale Stellung Cthulhus verantwortlich ist – Lovecraft verwendete den tentakelgesichtigen Gott verhältnismäßig selten, und er ist auch nicht das dominanteste oder mächtigste Wesen seines „Pantheons“. Er selbst bezeichnete die Mythologie, wenn auch scherzhaft, als „Yog-Sothothery“. In der Tat wurde das Konzept „Cthulhu-Mythos“ von vielen Nachfolgern Lovecrafts weitaus ernster genommen als von diesem – und zum Teil wohl auch falsch verstanden, was wohl letztendlich auf Derleth zurückzuführen ist.

Das Missverständnis besteht letztendlich in der Uminterpretation der Großen Alten, die Derleth vornahm. Er klassifizierte sie als böse Wesenheiten und führte, als Gegenstück, die den Menschen wohlgesonnenen „Old Beings“ oder „Elder Gods“ ein, die es in dieser Form bei Lovecraft niemals gegeben hat – diese Begriffe beschreiben in Lovecrafts Geschichten unterschiedliche Gruppen, und auf keine davon passt Derleths Definition. Lovecraft selbst verstand den „Cthulhu-Mythos“ niemals als einen Konflikt „Gut gegen Böse“, sondern thematisierte die Begegnungen einzelner Individuen mit gewaltigen, chaotischen Kräften, auf die sie durch Zufall, Wissensdrang oder Unachtsamkeit stoßen. Zumeist endet dieser Zusammenstoß damit, dass die beteiligten Menschen sterben oder wahnsinnig werden; die destruktiven und unverständlichen Götter können nur selten direkt bekämpft werden. Gerade „The Call of Cthulhu“, wohl eine der bekanntesten Geschichten Lovecrafts, ist hier exemplarisch, Lovecraft stellt dort die Frage, ob der Mensch damit umgehen kann, dass er als Einzelner oder als Spezies völlig unbedeutend ist. Dies wird durch übermächtige Götter versinnbildlicht, die der Mensch nicht einmal verstehen kann.

Andere Autoren nahmen später weitere Modifikationen vor, die ebenfalls nicht mit Lovecrafts Absichten konform waren, aber die Wahrnehmung des „Mythos“ prägten. So versuchte Lin Carter, Lovecrafts Götter in einer Hierarchie unterzubringen oder sie den vier Elementen zuzuordnen. Trotz, oder gerade wegen des Missverständnisses, ist der „Cthulhu-Mythos“ der Aspekt von Lovecrafts Schaffen, der seine Nachfolger am meisten inspirierte. Bei ihnen ist er allerdings weniger Ausdruck der persönlichen Philosophie als viel mehr Selbstzweck.

Das Necronomicon bei anderen Autoren
Die Frage nach literarischem Einfluss des Werkes eines Autors auf die Nachfolgenden lässt sich äußerst schwer beantworten, weil dieser „Einfluss“ kaum oder gar nicht messbar ist. So finden sich in vielen Werken, die zu den Genres Science Fiction, Horror oder Fantasy gehören, gewisse Merkmale, die von Lovecraft inspiriert worden sein könnten.

Lovecrafts Einfluss erstreckt sich allerdings nicht nur auf die Literatur: In Guillermo del Toros Film „Hellboy“ etwa tauchen ebenfalls böse, schlafende Götter auf, die beim Erwachen drohen, die Welt zu zerstören, die Handlung von Ridley Scotts „Prometheus“ gleicht der von „At the Mountains of Madness“ und selbst in Werken wie George R. R. Martins Buchreihe „A Song of Ice and Fire“, die von der Konzeption doch sehr weit von Lovecraft entfernt ist, gibt es Elemente, die man als Anspielung auf ihn verstehen könnte – in diesem Fall die Religion des „Drowned God“, in Verbindung mit dem Wappen des Hauses Greyjoy (ein Krake), welches besagten Gott verehrt und der „Taufformel“ „What is dead may never die, but rises again, harder and stronger.“ Der Zweizeiler Abdul Alhazreds aus „The Nameless City“ und „The Call of Cthulhu“ könnte gut als Vorlage gedient haben. Sogar das Necronomicon selbst taucht des Öfteren in Werken auf, die nicht zum Mythos gehören, etwa in dem bereits erwähnten Roman „The New Adam“ oder der Filmreihe „The Evil Dead“.

Das „Necronomicon“ (auch „Necronomicon Ex-Mortis“) in den Evil-Dead-Filmen

Weitere Autoren, die zwar nicht den „Cthulhu-Mythos“ weiterstricken, aber doch merklich von Lovecrafts beeinflusst wurden, sind zum Beispiel Kurt Vonnegut jr. oder Ray Bradbury. Insgesamt ist die Feststellung des Lovecraft’schen Einflusses auf die nach ihm kommenden Autoren leichter festzustellen als bei vielen anderen, vor allem natürlich, weil viele andere Autoren bis heute die Tradition Lovecrafts fortführen und den Mythos kontinuierlich erweitern, wobei das Necronomicon stets ein wichtiges Element dieser Fortführung ist.

Da es eine schier unüberschaubare Anzahl an Lovecraft-Nachfolgern gibt – schon zu seinen Lebzeiten ermunterte er Autoren wie Robert Howard oder Clark Ashton Smith dazu, sich Elemente wie das Necronomicon zu „borgen“, während er seinerseits Dinge aus deren Geschichten in seinen Erzählungen einbaute – werde ich hier nur ein paar ausgewählte Beispiele aufzählen.

So manch ein Autor setzt das Necronomicon nur als Beiwerk ein, um, wie so oft bei Lovecraft, die Atmosphäre zu unterstützen und eine Verbindung zum Vorbild zu schaffen. Dies ist in Brian Stablefords „Das Innsmouth-Syndrom“ der Fall, in welcher das Necronomicon nur beiläufig erwähnt wird. Auch in der Geschichte „Der runde Turm“ ist das Vorkommen des Necronomicons eher beiläufig, auch wenn es die Nachforschungen des Protagonisten Armitage Harper in eine neue Richtung lenkt und zudem auf „History of the Necronomicon“ anspielt. Das Necronomicon wird hier im Zusammenhang mit anderen fiktiven Werken des Okkulten erwähnt, allerdings wird seine Sonderstellung gegenüber den anderen verbotenen Büchern hervorgehoben, vor keinem anderen hat Harper einen ähnlichen Respekt. Ganz ähnlich verhält es sich in „Der große Fisch“, wo das Necronomicon ebenfalls für die Handlung keine Rolle spielt und nur erwähnt wird, um noch mehr typische Lovecraft-Elemente zu haben.

Es gibt jedoch auch Gegenbeispiele. Schon in Jens Schumachers „Der Hügel von Yhth“ ist das Necronomicon als Ausgangspunkt einer Recherche von größerer Bedeutung. „Ein Porträt Torquemadas“, verfasst von Christian von Aster, stellt diesbezüglich allerdings ein noch lohnenderes Objekt dar, da das Necronomicon in dieser Geschichte eine wichtige und darüber hinaus ziemlich einzigartige Rolle spielt, durch die von Aster gleichzeitig die Popularität des verbotenen Buches kommentiert. In dieser Geschichte entdeckt der Kunsthistoriker Felix Ney, dass mit einem Bild des Malers Guiseppe del Candini, das den spanischen Großinquisitor Tomas de Torquemada zeigt, etwas nicht stimmt. Am Ende findet er heraus, dass Torquemada ein Anhänger des Cthulhu-Kultes war und die katholische Kirche von dem finsteren Gott seit Jahrhunderten beeinflusst wird. Was ihn zu dieser Entdeckung geführt hat, ist ein übermaltes Buch im Hintergrund des Bildes. Nachdem er die Übermalung abgekratzt hat, entdeckt er das ursprünglich gemalte Buch. Er bringt das Bild zu bibliophilen Antiquaren, denen es in der Tat gelingt, besagtes Buch nur anhand des Aussehens als eine Ausgabe des Necronomicons zu identifizieren. Die Handlung wird also durch das Necronomicon ausgelöst, allerdings nicht direkt durch den Inhalt, sondern vielmehr durch die bloße Existenz auf einem Gemälde. Nicht das, was ein Leser im Necronomicon findet, zählt hier, sondern die bloße Natur des Werkes. Darüber hinaus ist das Necronomicon in der erzählten Welt, ähnlich wie in der Realität, bekannt und so markant, dass es nur anhand einer unbeschrifteten Abbildung erkannt werden kann. Somit spiegelt Christian von Aster die Realität wieder, in der sich das Necronomicon ebenfalls verselbstständigt hat. Und ebenso vermischt er wie Lovecraft Realität und Fiktion, indem er real existierend historische Figuren wie Tomas de Torquemada mit dem Necronomicon in Verbindung setzt.

Eine weitere Geschichte, in der das Necronomicon eine wichtige Rolle spielt, ist „Die Glocke im Turm“ von Lin Carter, basierend auf einer Idee oder einem Fragment Lovecrafts. In dieser Geschichte ist das Necronomicon gleich in doppeltem Sinn das handlungsauslösende Element. In der Rahmenhandlung bringt der junge William dem eigentümlichen Lord Northam eine Ausgabe des Necronomicons, was diesen dazu veranlasst, William von seinen Erfahrungen mit den dunklen Künsten zu berichten. Dort ist das Necronomicon abermals handlungsauslösend; nachdem Northam lange versucht hat, durch Drogen sein Bewusstsein zu erweitern, stößt er auf „das verabscheuungswürdige und grässliche Necronomicon“ , das hier erneut als das finsterste aller finsteren Bücher dargestellt wird. Northam entdeckt dort ein Ritual, das ihm einen Einblick in andere Welten gewähren soll und das er schließlich durchführt.

Außergewöhnlich an dieser Geschichte ist, dass es, außer der Erwähnung des Necronomicons und Abdul Alhazreds, keinen wirklichen Bezug zum „Cthulhu-Mythos“, keine Erwähnung der „Great Old Ones“ oder ähnliches gibt, was für die Geschichten der Lovecraft-Nachfolger eher selten ist. Insofern steht „Die Glocke im Turm“ eher in der Tradition von Geschichten wie „The Hound“ oder „The Festival.“
Es zeigt sich also, dass das Necronomicon zwar kein unverzichtbarer, aber doch ein häufig verwendeter Bestandteil der Geschichten in Lovecraft’scher Tradition ist. Oftmals wird es nur erwähnt um, wie Lovecraft es selbst oft tat, die Atmosphäre zu steigern, manchen Autoren wie Christian von Aster gelingt es allerdings auch, das Necronomicon als wichtigen Bestandteil der Handlung zu verwenden. Die Verwendung des Necronomicons bei anderen Autoren, vor allem wenn es in Werken geschieht, die, wie die Evil-Dead-Filme, nichts mit Lovecraft zu tun haben, hat darüber hinaus auch den Nebeneffekt, dass uneingeweihte Konsumenten dadurch zu dem Schluss kommen könnten, es gäbe für das Necronomicon eine reale Grundlage.

Necronomicon-Fälschungen
Obwohl Lovecraft selbst mehrfach zu Protokoll gegeben hat, dass das Necronomicon seine Erfindung ist, hält sich nach wie vor der Glaube, es handle sich dabei um ein real existierendes Werk. Das liegt zum einen an Dingen wie der oben geschilderten Präsenz bei anderen Autoren sowie gefälschten Anzeigen oder Bibliothekseintragungen, zum anderen aber auch daran, dass es in der Tat Bücher im Handel gibt, die von sich behaupten, das echte Necronomicon zu sein, was zeigt, wie stark das Necronomicon in Lovecrafts Schaffen ist. Lovecraft selbst hatte auch mit dem Gedanken gespielt, die Nachfragen zu befriedigen, indem er das Necronomicon selbst schrieb, kam jedoch zu dem Schluss, dass es einerseits zu viel Aufwand wäre (den Angaben seiner Geschichten zufolge hätte das Buch mindestens 800 Seiten) und dass andererseits die Andeutungen und die Ungewissheit viel mehr Grauen erzeugten, als jeder Text, den er schreiben konnte.

Das Simon-Necronomicon
Das Simon-Necronomicon

Zwei dieser Werke besitze ich: „Das Buch der Toten Namen: Necronomicon“ (auch als „Hay-Wilson-Langford-Turner-Necronomicon“ bezeichnet) und das Necronomicon von Simon. Ersteres wurde bereits von einem der Autoren, Colin Wilson, als Fälschung bestätigt. Wilson veröffentlichte 1992 einen Aufsatz, der sich explizit mit der Schaffung des „Buchs der toten Namen“ beschäftigt und den Titel „The Necronomicon: The Origin of a Spoof“ trägt. Bei beiden Werken handelt es sich, da es sich nicht um die Nachahmung eines existierenden Objekts handelt – stattdessen wird etwas Fiktives „real“ – um einen sogenannten „Hoax“, was sich ehesten mit dem Begriff „Spottfälschung“ übersetzen ließe.

Sowohl das „Buch der toten Namen“ als auch das Simon-Necronomicon müssen sich erst einmal mit der Tatsache auseinandersetzen, dass das okkulte Werk, das darzustellen sie behaupten, in erster Linie in den eindeutig fiktiven Geschichten Lovecrafts vorkommt. In gewissem Sinne werfen beide Werke Lovecraft implizit selbst Fälschung vor: Während allerdings das gewöhnliche „Hoax“ Fiktion als Wahrheit präsentiert, fälsche Lovecraft, in dem er Fakt als Fiktion darstellt. Während das „Buch der toten Namen“ sich noch bemüht, dieses Problem mit umstrittenen und weit hergeholten Anekdoten aus Lovecrafts Biographie zu erklären, versucht das Simon-Necronomicon nicht einmal, diesen Umstand irgendwie zu thematisieren.

Die wichtigste Frage, die sich nun im Zusammenhang mit den beiden Necronomicon-Fälschungen stellt, ist die nach den inhaltlichen Verknüpfungen zwischen den beiden Werken und Lovecrafts Geschichten. Die Anzahl der inhaltlichen Verknüpfungen zu Lovecraft im Simon-Necronomicon ist verhältnismäßig gering. Das Werk besteht in erster Linie aus Anrufungen, Bannsprüchen, Ritualanleitungen u.ä., diese richten sich zumeist allerdings nicht an Lovecrafts Götter, sondern an Götter wie Nergal, Ishtar oder Marduk, die in Altmesopotamien oder Syrien verehrt wurden. Die Verbindungen zu Lovecrafts Werk, die tatsächlich vorhanden sind, wirken eher wie nachträglich eingearbeitet. Keines der Zitate aus „The Festival“, „The Call of Cthulhu“ oder „The Dunwich Horror“ findet sich im Simon-Necronomicon, ebenso wenig wie die Yog-Sothoth-Formel aus „The Case of Charles Dexter Ward“ oder andere wiedergegebene Inhalte aus „At the Mountains of Madness“, „The Hound“ oder irgendeiner anderen Geschichte von Lovecraft. Stattdessen werden nur immer wieder, in unterschiedlichen Zusammenhängen, einige Namen der „Great Old Ones“ genannt, in leicht abgeänderter Schreibweise, die laut Simon sumerisch ist; Cthulhu heißt im Simon-Necronomicon Kutulu, Azathoth trägt den Namen Azag-thoth und Shub Niggurath wird Shub Ishniggarab geschrieben. Der Text beschränkt sich auf diese drei, die meisten anderen Entitäten Lovecrafts, etwa Nyarlathothep oder Yog-Sothoth, finden keine Erwähnung. Darüber hinaus scheinen die meisten Referenzen ziemlich willkürlich hinzugefügt und bestehen aus eingestreuten Sätzen oder Teilsätzen, die sogar vage nach Lovecraft Inhalten klingen, wie etwa „The Dead Kutulu, Dead but Dreaming“ oftmals werden die Namen von Lovecrafts Göttern nur zusammen mit anderen aufgezählt.

Das Buch der Toten Namen
Das Buch der Toten Namen

Im Gegensatz dazu beruft sich das „Buch der toten Namen“ sehr viel stärker auf Lovecraft, seine Götter werden eindeutig und häufig beim Namen genannt, und die Beschwörungen und Rituale richten sich an sie. Und in der Tat beziehen sich einige der kurzen Kapitel auf Erwähnungen aus Lovecrafts Geschichten; die Beschreibung von „Leng in der kalten Einöde“ etwa taucht am Rande in „At the Mountains of Madness“ auf, ein Teil der Yog-Sothoth-Beschwörung aus „The Dunwich Horror“ findet sich ebenso wie der „Erkennungssatz“ der Cthulhu-Kultisten aus „The Call of Cthulhu“ – laut besagter Geschichte ist dieser allerdings gar nicht Teil des Necronomicon. Der Rest ist, salopp gesagt, Standard-Okkultismus, gewürzt mit den Namen einiger Mythos-Götter.

Das „Buch der toten Namen“ hat also weitaus mehr mit den Geschichten Lovecrafts zu tun als das Simon-Necronomicon, beide haben allerdings ein Detail gemeinsam, das sie von Lovecraft entfernt: Die grundsätzliche Auffassung des „Cthulhu-Mythos“. Hier orientieren sich beide nicht an Lovecraft selbst, sondern an August Derleths Sichtweise auf Lovecrafts Geschichten. Das trifft besonders auf das „Buch der toten Namen“ zu, das Derleths „Elder Gods“ als den Menschen wohlgesonnene Gegenspieler der „Great Old Ones“ aufgreift. Letztendlich sind sowohl das „Buch der toten Namen“ als auch das Simon-Necronomicon nicht nur Fälschungen, sie sind sogar ziemlich fehlerhafte Fälschungen, die mit dem, was sie zu sein behaupten, wenig zu tun haben. Daher eignen sie sich nicht dazu, das verbotene Buch zu sein, das Lovecraft zu seinen Geschichten inspirierte, da sie nur die Interpretation eines Nachahmers enthalten.

Bibliographie

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