Daredevil Staffel 1

Milde Spoiler!
daredevilNachdem sie im Kino ein extrem dominanter Faktor sind, schicken sich Superhelden nun auch an, das Fernsehen zu erobern, sei es mit tatsächlichen Superheldenserie wie „Arrow“ oder „Flash“ oder mit „Pseudosuperheldenserien“ (die im Grunde alles haben, was zum Genre gehört, außer eben den tatsächlichen Helden) wie „Gotham“ oder „Agents of S.H.I.E.L.D“. Sowohl DC als auch Marvel produzieren gegenwärtig einige Serien; während DC mehrgleisig fährt und Film- von TV-Universum trennt, sind alle Marvel-Serien ins MCU integriert. Bis vor kurzem gab es unter den diversen, gerade aktuellen Serien allerdings noch keine, von der ich gesagt hätte, dass sie wirklich überdurchschnittlich ist. „Arrow“ fand ich ziemlich bescheiden (der Titelheld ist nun einmal nicht Batman, auch wenn die Macher das noch so gerne hätten), „Agents of S.H.I.E.L.D“ war ganz unterhaltsam (vor allem in der zweiten Hälfte), brauchte aber viel Anlaufzeit, „Gotham“ hat zwar viel Potential, aber auch viele Probleme, und von „Flash“ und „Agent Carter“ habe ich bislang nur die erste Folge gesehen. Diese war jeweils zwar nicht übel, aber auch nicht so gut, dass sie mich sofort gepackt und nicht mehr losgelassen hätte.
daredvilmattMatt Murdock (Charlie Cox) bei Tag und Nacht

„Daredevil“ dagegen schlägt hier völlig aus der Reihe. Aber von Anfang an: 2013 schloss Marvel einen Deal mit dem Streaming-Dienst Netflix, der seit einiger Zeit auch erfolgreich Serien selbst produziert (die erfolgreichste ist bislang wohl „House of Cards“ mit Kevin Spacey). Marvel Studios und Netflix werden für fünf Serien (bzw. Miniserien) kollaborieren: „Daredevil“, „A.KA. Jessica Jones“, „Luke Cage“ und „Iron Fist“ – diese vier „Street-Level-Helden“ sollen sich dann schließlich á la Avengers in einer fünften Serie, „Defenders“ zusammentun.

Um es kurz zu machen: „Daredevil“ ist nicht nur die mit Abstand beste derzeitige Superheldenserie, sondern definitiv auch eines der besten Produkte der Marvel Studios. Im Grunde schafft es die Serie, all das, was der misslungene Film von 2003 mit Ben Affleck falsch gemacht hat, richtig zu machen. Und nebenbei ist „Daredevil“ auch die Serie, die „Arrow“ und „Gotham“ wohl gerne wären.

Die Handlung
Die Grundhandlung ist praktisch dieselbe wie im bereits erwähnten Film: Matt Murdock (Charlie Cox), seit einem Unfall in seiner Kindheit blind, aber ansonsten mit extrem verstärkten Sinnen gesegnet, und Foggy Nelson (Elden Henson) sind Anwälte im New Yorker Stadtteil Hell’s Kitchen und versuchen dabei, sauber zu bleiben, was allerdings nicht einfach ist, denn in der New Yorker Unterwelt mischt ein neuer, geheimnisvoller Mitspieler mit, der von einem gewitzten und ruchlosen Anwalt namens James Wesley (Toby Leonard Moore) repräsentiert wird. Bereits kurz nachdem Matt und Foggy ihre Kanzlei eröffnet haben, übernehmen sie den Fall von Karen Page (Deborah Ann Woll) und gewinnen ihn auch, woraufhin diese zu ihrer Sekretärin wird.
karenpageKaren Page (Deborah Ann Woll)

Foggy und Karen ahnen allerdings nicht, dass Matt ein Doppelleben führt, denn nachts betätigt er sich als schwarzgekleideter und noch namenloser Vigilant sehr direkt mit Verbrechen und Korruption auseinandersetzt. Dabei lernt er auch die Krankenschwester Claire Temple (Rosario Dawson) kennen, die ihm hin und wieder aushilft, wenn er von Verbrechern zu Brei geschlagen wurde, und er findet schließlich heraus, wer der große Unbekannte ist: Wilson Fisk (Vincent D’Onofrio), ein ambitionierter und extrem ehrgeiziger Gangsterboss, der danach trachtet, Hell’s Kitchen nach seinen Vorstellungen umzugestalten…

„Daredevil“ und das MCU
„Daredevil“ ist Teil des Marvel Cinematic Universe, diese erste Staffel funktioniert allerdings auch vollkommen auf sich selbst gestellt. Dennoch, die Anspielungen sind da, allerdings bleiben sie sehr subtil und werden dem Zuschauer nie mit dem Holzhammer übergebraten. Einige der Verweise bekommt man noch gut mit, Wesley spricht einmal von einem magischen Hammer und einem Typ in Rüstung, während Foggy Captain America erwähnt. Andere sind subtiler. Im Büro des Reporters Ben Urich (Vondie Curtis-Hall) sieht man anhand der Zeitungsartikel, dass er sowohl über die Ereignisse von „Der unglaubliche Hulk“ als auch „The Avengers“ berichtet hat, und Matt Murdock ist im selben Waisenhaus aufgewachsen wie Skye aus „Agents of S.H.I.E.L.D.“. Auf gewisse Weise basiert die Handlungsgrundlage der Serie sogar auf „The Avengers“: In der Realität mochte Hell’s Kitchen früher tatsächlich ein sehr problematisches Viertel gewesen sein, heute ist es dort allerdings ziemlich friedlich. Im MCU dagegen hat der Alienangriff auf New York und die damit verbundene Zerstörung Hell’s Kitchen quasi in die 80er Jahre zurückgeworfen. Hier wird ein interessantes Konzept aufgeworfen: Gangster und zwielichtige Geschäftsmänner profitieren von den Entwicklungen: Die Superhelden zerstören etwas und sie springen ein, bauen es wieder auf und verdienen dabei, während sie ihrerseits relativ sicher sind, da sie im Grunde viel zu klein und unwichtig sind, als dass jemand wie Captain America oder Iron Man sich mit ihnen beschäftigen würde. Das Straßenlevel und die gewöhnliche Kriminalität wurden im MCU bislang nicht thematisiert; „Daredevil“ füllt hier eine Lücke auf grandiose Weise.

Umsetzung
Von allen MCU-Produkten ist „Daredevil“ mit Abstand das düsterste, grimmigste und blutigste – insgesamt kommt Netflix mit sehr viel mehr weg als andere Sender. Diese Düsternis wirkt allerdings niemals aufgesetzt oder erzwungen, stattdessen ergibt sie sich ganz natürlich und passend aus der erzählten Geschichte.
foggyFoggy Nelson (Elden Henson)

Dennoch werden die bisherigen Traditionen des MCU keineswegs ignoriert. Dazu gehören vor allem die starken Charaktere, und auch Humor ist vorhanden, mitunter allerdings sehr viel grimmiger als bisher. Was „Daredevil“ darüber hinaus auszeichnet, ist der strikte Fokus: Die erste Staffel weiß genau, welche Geschichte sie erzählen möchte und tut dies auch schnörkellos, im Gegensatz zu einer Serie wie „Gotham“, die sich viel zu sehr in ihren zu zahlreichen Handlungssträngen verheddert.

Inhaltlich und stilistisch orientiert sich „Daredevil“ sehr stark an den prägenden Frank-Miller-Geschichten der 80er Jahre (damals, als Frank Miller noch wusste, wie man gut Comics schreibt), und obwohl Matt das ikonische Teufelskostüm erst in der letzten Folge anlegt, sind doch alle wichtigen Ingredienzien, die Daredevil als Figur ausmachen, vorhanden. Auch optisch sind die Parallelen zu den Daredevil-Comics der 80er und zu Zeichnern wie David Mazuchelli und Frank Miller nicht von der Hand zu weisen. Die Atmosphäre ist stets bedrohlich, die Schatten sind stark und ausdrucksfähig, die Bildsprache ist grandios und alles wirkt auf eine Art realistisch, die es im Marvel-Universum bisher nicht gab. Die Action ist zumeist sehr bodenständig, dreckig und direkt, wenn Matt einen Schlag abbekommt, schüttelt er das nicht einfach so ab, man merkt als Zuschauer, dass es weh tut.
wesleyJames Wesley (Toby Leonard Moore)

Das bedeutet natürlich nicht, dass diese Staffel vollkommen ohne Schwächen wäre. So sterben gegen Ende zwei wichtige Figuren, deren Tod in meinen Augen viel zu früh geschieht, da sie noch unglaublich viel Potential hatten. Auch wirken die Ereignisse des Finales ein wenig überhastet und juristisch wenig haltbar (auch wenn das definitiv nicht mein Fachgebiet ist). Und schließlich bleibt die Musik fast völlig anonym und generisch – das alles ist aber letztendlich Kritik auf sehr hohem Niveau.

Figuren und Darsteller
Man kann nicht genug betonen, wie grandios diese Figuren und ihre Darsteller sind. Egal ob es um die zentralen Charaktere oder nur um die Nebenakteure geht, sie hinterlassen alle einen bleibenden Eindruck. Besonders hervorzuheben sind natürlich die beiden Hauptkontrahenten, Matt Murdock und Wilson Fisk, wobei beide in dieser Staffel noch nicht unter ihren Comicnamen Daredevil und Kingpin agieren. Auf Matt als Hauptfigur liegt natürlich der Fokus. Die Serie geht dabei einen interessanten Weg: Matt ist quasi von Beginn an als Vigilant tätig; die erste Szene zeigt den Unfall mit radioaktivem Müll, der ihn erblinden lässt und ihm gleichzeitig seine Supersinne gibt, dann macht die Serie einen Sprung zur eigentlichen Handlung. Matts Werdegang wird im Verlauf immer wieder in Rückblicken gezeigt, ohne es zu übertreiben. Das sorgt schließlich dafür, dass man ihn als Zuschauer versteht und mitfiebert, wobei Charlie Cox natürlich ebenfalls seinen Teil dazu beiträgt und Ben Affleck weit hinter sich lässt.
wilsonWilson Fisk (Vincent D’Onofrio)

Was der Serie besonders hoch anzurechnen ist, ist ihr Umgang mit Wilson Fisk, der sich hier zum wahrscheinlich besten MCU-Schurken mausert; die einzige Konkurrenz ist Loki. Auf jeden Fall ist Fisk der facettenreichste und ernstzunehmendste MCU-Widersacher und wird von Vincent D’Onofrio hervorragend dargestellt. Vor allem ist Fisk nicht einfach nur der Widersacher von Daredevil, sondern fast gleichberechtigte Hauptfigur, auch seine Vergangenheit wird beleuchtet, ebenso wie seine Motivation. Fisk wird dabei als sehr vielschichtiger Antagonist gezeichnet; als Zuschauer lernen wir ihn erst als sehr unsicheren Menschen kennen, der ein wenig schüchtern ist und Probleme damit hat, eine Frau anzusprechen, und erst nach und nach kommen die finsteren Seiten zum Vorschein – dann aber richtig. Wilson Fisk in dieser Serie ist ein Visionär, ein Mörder, er leidet unter Kontrollzwang und hat Probleme, sein Temperament zu kontrollieren. Vor allem aber ist er als Schurke nachvollziehbar, ohne jemals seine Bedrohlichkeit aufzugeben. Weiterhin interessant ist, dass der romantische Subplot der Serie ihm und nicht etwa Matt gilt. An dieser Stelle muss natürlich auch Ayelet Zurer als Vanessa Marianna gelobt werden, die exzellent mit D’Onofrio zusammenspielt.

Fazit: „Daredevil“ ist düster, mitreißend, spannend, hervorragend besetzt und weiß vollständig zu überzeugen; die Serie um den Mann ohne Furcht ist eine der besten MCU-Produktionen auch die gegenwärtig beste Superheldenserie. Ich freue mich bereits auf die nächste Staffel und hoffe, dass die anderen Marvel/Netflix-Serien einen ähnlichen Standard erreichen.