Musik-Duell: Gravity vs. Verblendung

Die Soundtracks der beiden Filme „Verblendung“ (komponiert von Trent Reznor und Atticus Ross) und „Gravity“ (aus der Feder von Steven Price) besitzen, zumindest oberflächlich betrachtet, einige Gemeinsamkeiten. Beide sind von traditioneller, orchestraler und leitmotivischer Filmmusik ziemlich weit entfernt. Beide sind ziemlich unangenehm, kaum oder gar nicht melodiös und setzen stark auf Elektronik und Synth-Texturen. Sie sind, um es zurückhaltend zu formulieren, schwer zugänglich, und beide gehören nicht zu den Filmmusiken, die ich gerne in meiner Freizeit höre; ich bin prinzipiell kein Fan von Ambience-Scores.
Zwischen beiden gibt es in meinen Augen allerdings einen signifikanten Unterschied: Steven Price‘ Musik funktioniert im Film, während die des Duos Reznor/Ross es nicht tut.
Wäre es nach mir gegangen, hätte „Gravity“ den Oscar vermutlich nicht gewonnen, was natürlich stark mit meinen persönlichen Vorlieben zusammenhängt, aber eines lässt sich in meinen Augen nicht leugnen: Die Musik, die Price komponiert hat, passt genau so, wie sie ist, ausgezeichnet zu genau DIESEM Film und ist die ideale Untermalung. Der Soundtrack von „Verblendung“ gefällt mir nicht einfach nur nicht, er versagt meiner Meinung nach als Filmmusik vollständig. Das hängt mit zwei eng verbundenen Aspekten zusammen, nämlich der Art der Musik einerseits und ihrem Einsatz im Film andererseits.
Trent Reznor und Atticus Ross schrieben nicht, wie normalerweise üblich, die Musik genau auf die Szenen zugeschnitten, stattdessen lieferten sie bei David Fincher etwa drei Stunden Material ab, das sie, inspiriert von der Romanvorlage, dem Drehbuch oder beidem, komponiert hatten, sodass Fincher es nach seinem Gutdünken im Film platzieren konnte. Ich kann verstehen, weshalb Regisseure dieses Vorgehen wählen, auch wenn ich absolut kein Fan davon bin: Es gibt ihnen eine größere Flexibilität, macht nachträgliches Umschneiden des Materials einfacher, Synchpoints spielen eine weitaus weniger gewichtige Rolle etc. Diese Technik wurde beispielsweise auch bei „Inception“ verwendet, und obwohl ich diesen Soundtrack keineswegs für Zimmers beste Arbeit halte, im Gegenteil, wurden die Kompositionen doch so eingesetzt, dass sie im Film halbwegs funktionieren.
Hier kommt allerdings der zweite Knackpunkt: Die eigentliche Musik. Was Reznor und Ross da abgeliefert haben, sind absolut minimalistische, repetitive Klänge. Als Musik sagen sie für mich nichts aus und wecken praktisch keine Emotionen. Die einzige Emotion, die geweckt wird, ist undefiniertes Unbehagen.
Filmmusik hat grundsätzlich zwei Aufgaben: Emotionen vermitteln und die Geschichte des Films erzählen, bzw. diesen dabei zu unterstützen, seine Geschichte zu erzählen. Manche Komponisten geben dem einen oder anderen Aspekt den Vorzug, wirklich gute schaffen es, beide Aspekte meisterhaft miteinander zu verbinden. Reznor und Ross versagen letztendlich auf beiden Ebenen, da keines der Stücke, das sie komponiert haben, in irgendeiner Form wirklich heraussticht. Mehr noch, sie sind alle fast völlig austauschbar. In den meisten Fällen hätte man die Musik zu den einzelnen Szenen beliebig austauschen können, ohne dass sich der Effekt auf den Zuschauer in irgendeiner Form ändert – es sind immer die gleichen, dröhnenden elektronischen Klänge, die eher einer zweiten Soundeffektspur gleichen als Musik. Für mich funktioniert das in diesem Film fast nie. Gelungene Spannung entsteht kaum, und oftmals schadet die Musik dem Film sogar. Das gravierendste Beispiel ist die Szene, in der sich Harriet und Henrik Vanger nach vielen Jahren wiedersehen. Die Musik ist fast identisch mit derjenigen, die erklingt, als Mikael Blomkvist von Martin Vanger in dessen Folterkeller geführt wird – das zerstört den emotionalen Effekt, den diese Szene haben sollte, vollkommen. Und das ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Interessanterweise war der Soundtrack etwas, das viele Filmkritiker positiv hervorhoben, was ich absolut nicht verstehen kann (im Gegensatz dazu verrissen die meisten Soundtrack-Rezensenten das Album). Ich persönlich denke, dass Komponisten wie Alexandre Desplat oder Howard Shore (mit beiden hat Fincher in der Vergangenheit schon zusammengearbeitet), etwas weitaus besseres abgeliefert hätten, das den Film auch wirklich unterstützt.
„Gravity“ dagegen ist zwar ebenfalls über weite Strecken harsch, abstrakt und unangenehm, aber die Musik ist keinesfalls innerhalb der Szene austauschbar; wenn man sich den Film ansieht, merkt man, dass genau die Musik, die in der Szene gespielt wird, für diese auch komponiert wurde. Steven Price‘ Musik ist zwar nicht wirklich leitmotivisch (obwohl es doch wiederkehrende Konstrukte gibt), aber sie erzählt die Geschichte und, vor allem, sie spiegelt die Emotionen der Protagonisten wieder. Und wenn es nötig ist, etwa als Dr. Ryan Stone der Schönheit des Alls gewahr wird, lässt Price Harmonie zu, die dies wiederspiegelt. Gerade wegen der oberflächlichen Ähnlichkeit dieser beiden Filmmusiken lohnt sich der Vergleich, um zu zeigen, dass es mir nicht nur darum geht, dass die Musik in „Verblendung“ nicht meinen Geschmack trifft, denn das tut Steven Price‘ Score ebenfalls nicht. Aber er funktioniert.
Enden möchte ich mit dem Zitat des Soundtrack-Rezensenten Jonathan Broxton von Movie Music UK (dessen Review des Verblendung-Scores sehr zu empfehlen ist), der meine Ansicht bezüglich der Musik von „Verblendung“ nicht nur teilt, sondern das Ganze auch sehr gelungen auf den Punkt bringt: „This obsession with not spoon-feeding the audience emotional content via music is one of the most bizarre and misguided opinions of recent years; film is all about audience manipulation, making them empathize with the characters on screen. Directors have no qualms about manipulating the audience’s emotions by, for example, using colored filters in the cinematography, or by using a quick-cut editing style, so why is the music singled out as being as a scapegoat for the Hollywood schmaltz machine? When I watch a movie or listen to its score, I WANT to be moved, to be scared, to be exhilarated, to feel the joyous rapture of love, and a million other emotions. That’s the whole point.“ (Quelle: http://moviemusicuk.us/2011/12/27/the-girl-with-the-dragon-tattoo-trent-reznor-and-atticus-ross/)
Sieger: „Gravity“

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