Professor Tolkien war ein gnadenloser Perfektionist, was sich im „Herrn der Ringe“ immer und immer wieder zeigt. Oftmals bemerkt man es beim Lesen gar nicht, mit wie viel Detailarbeit Mittelerde konstruiert ist – was auch der Grund ist, weshalb sich Tolkiens Werk in meinen Augen nach wie vor von allem anderen, was es im Genre Fantasy gibt, abhebt. Diese Detailversessenheit zeigt sich nicht nur in den Kunstsprachen, die Tolkien für Mittelerde kreierte, sondern auch in vielen anderen Aspekten. Seine geographischen Angaben sind beispielsweise so genau, dass Karen Wynn Fonstad einen historischen Atlas des fiktiven Kontinents erstellen konnte. Ein weiteres Beispiel findet sich in seinem Einsatz der Figurensprache: Jede Figur spricht, gemäß ihrer Art und ihres Hintergrunds, genau passend. Die anachronistischen Hobbits verwenden eine vergleichsweise moderne Diktion, während Elrond, Galadriel oder Denethor in weitaus altertümlicherem Tonfall reden. Manche Figuren, etwa Aragorn oder Gandalf, wechseln hin und her, je nach dem, von und mit wem sie gerade sprechen. Und dann sind da noch Figuren wie Smaug oder Saruman, die (mit voller Absicht) wie Politiker des 20. Jahrhunderts klingen. Wenn bei Tolkien ein bestimmtes Wort vorkommt, dann kann man sich sicher sein, dass er genau weiß, warum er es an dieser Stelle haben wollte.
Ebenso Beeindruckend ist die genaue Ausarbeitung des Kalenders und der Daten, wie sich an Denethors fortschreitendem Wahnsinn zeigt. Der Truchsess von Gondor konsultiert immer wieder den Palantír und bekommt von Sauron einige präzise ausgewählte Informationen, die ihm vorgaukeln, der Feind hätte den Ringträger in seine Gewalt bekommen. Dies lässt sich mit den Ereignissen im Handlungsstrang von Frodo und Sam perfekt synchronisieren, es ist aufgrund der Struktur der Romane lediglich ein wenig schwierig. Diese und viele weitere Beispiele für Tolkiens Genauigkeit im Detail werden in Tom Shippeys „J. R. R. Tolien: Autor des Jahrhunderts“, einem Standardwerk, das man als Tolkien-Fan gelesen haben sollte, ausführlich erläutert.
In den Verfilmungen geht diese Detailgenauigkeit leider oft verloren. Vieles kann aufgrund des Medienwechsels gar nicht adaptiert werden, weil dem Film schlicht die Mittel fehlen, es darzustellen. Im Film wäre es zum Beispiel kaum möglich, die Handlungsstränge wie in der Vorlage aufzuteilen. Anderes opfert Peter Jackson der Dramaturgie, etwa die geographischen Details: In den Filmen liegen alle Ort sehr viel näher beisammen, als es bei Tolkien der Fall war. Wo im Roman zwischen Barad-dûr und dem Schicksalsberg viele Meilen liegen, scheinen sie in den Filmen direkte Nachbarn zu sein. Auch hat Jackson hin und wieder einen Hang zur Übertreibung. Wo bei Tolkien mitunter zu wenig Sinn fürs Dramatisch ist (man denke nur an die Auslassung der Zerstörung Isengarts) ist bei Jackson oftmals zu viel, wodurch wiederum einiges an Detailreichtum verloren geht – vor allem die Darstellung Denethors ist hier exemplarisch. Ich denke, Jacksons geht es öfter um den Effekt, während Tolkien sehr auf innere Stimmigkeit versessen war.
Es gibt jedoch einen Aspekt der Filme, bei denen sich Tolkiens Detailversessenheit direkt wieder findet, und das ist die Musik. Zugegebenermaßen sind Howard Shores Kompositionen rein musikalisch nicht unbedingt die komplexesten, vor allem, wenn man sich die Begleitung ansieht. Zwar sind sie nicht so simpel und minimalistisch wie das, was man von Hans Zimmer und Co. zu hören bekommt, mit den elaborierten Kompositionen eines John Williams oder Jerry Goldsmith können sie aber nicht mithalten, was allerdings auch gar nicht nötig ist. In gewissem Sinne ähnelt Shores Musik diesbezüglich ein wenig den Figuren im „Herrn der Ringe“, die ebenfalls nicht die komplexesten sind, da Tolkien eine mythische Geschichte erzählen wollte und sich deshalb des einen oder anderen Archetypus bediente.
Stattdessen bringt Shore etwas anderes mit: Einen unvergleichlichen Sinn dafür, wie Tolkiens Geschichte mit Musik zu erzählen ist. Während für die Komposition eines Soundtracks meistens einige wenige Monate oder gar nur Wochen veranschlagt werden, nahm sich Shore für jeden der bisherigen fünf Mittelerde-Scores mindestens ein Jahr und schuf einen leitmotivischen Klangteppich, der es mit Tolkiens Detailarbeit durchaus aufnehmen kann. In der Tat fällt mir kaum ein anderer Filmkomponist ein, der die Leitmotivtechnik derart wirkungsvoll einzusetzen vermag, wie Howard Shore es in seinen Hobbit- und Herr-der-Ringe-Soundtracks tut. Genial ist zum Beispiel der Kniff, bereits frühzeitig Themen anzudeuten, die dann in späteren Filmen ihre volle Blüte entfalten, oder Personen, Orte und Ereignisse mit musikalischen Mitteln – sei es durch Begleitung, durch thematisch Verwandtschaft oder Instrumentierung – miteinander zu verknüpfen. Darüber hinaus findet Shore für jede Figur und jedes Volk genau die richtigen Töne.
Auch hier gilt: Vieles fällt dem „normalen“ Hörer gar nicht auf, und ich würde lügen, würde ich behaupten, dass ich die gesamte Komplexität von Shores Komposition selbst erfasst hätte. Dafür gibt es schließlich Doug Adams‘ „The Music of the Lord of the Rings Films“, dem hoffentlich ein „The Music of the Hobbit Films“ folgt, inklusive einer Rarities-Archive-CD, den unveröffentlichte Aufnahmen gibt es nun wahrlich genug.
Ich habe ja bereits geschrieben, dass ich wahrscheinlich keine Herr-der-Ringe-Soundtrack-Reviews schreiben werde, weil ich über die Musik einfach zu viel weiß und diese Artikel gnadenlos ausufern würden. Ich habe allerdings vor Shores Meisterschaft demnächst am Beispiel der Themen für Gondor näher zu erläutern, die in meinen Augen eines der hervorragendsten Beispiele für seine Art sind, Tolkiens Geschichte mit musikalischen Mitteln zu erzählen.
Siehe auch:
Historischer Atlas von Mittelerde
The Music of the Lord of the Rings Films
Rückforderung der Natur
Der Hobbit: Eine unerwartete Reise – Soundtrack
Der Hobbit: Smaugs Einöde – Soundtrack