Zum gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es drei florierende Film-Franchises, die auf den Marvel-Comics basieren: X-Men, Spider-Man und das Marvel Cinematic Universe. Die ersten beiden stammen aus Zeiten, als der Marvel-Verlag die Filmrechte seiner Figuren noch an andere Studios verkaufte, das dritte ist das Produkt der äußerst erfolgreichen Selbstverwertung durch die Marvel-Studios. Über diese Filme, die Art und Weise, wie sie vermarktet werden und so ziemlich jeden anderen Aspekt kann man viel und noch viel mehr schreiben (was ich auch bereits getan habe). Über einen Aspekt habe ich bisher allerdings noch kaum gesprochen: Die Filmmusik. Wer seit längerem meinen Blog verfolgt, weiß, dass ich ein Fan der Leitmotivtechnik bin und es mag, wenn es innerhalb des fiktionalen Universums nicht nur inhaltliche, sondern auch musikalische Kontinuität gibt. Interessanterweise ist das etwas, worauf die Filmstudios kaum achten. Im Rahmen der Artikelreihe „Marvel-Musik“ werde ich mich mit der musikalischen Gestaltung der drei oben erwähnten erfolgreichen Franchises aueinandersetzen. Dies werden keine Soundtrack-Reviews im herkömmlichen Sinn, sondern eher subjektiv gefärbte musikalische Bestandsaufnahmen, deren Fokus freilich bei der thematischen Kontinuität liegt – aus diesem Grund ist das Ganze auch jeweils nach Komponisten und nicht nach einzelnen Filmen geordnet (was bei den X-Men allerdings ohnehin keinen Unterschied macht).
Die X-Men, vertrieben von Fox, sind nicht nur das älteste und langlebigste der Marvel-Film-Franchises, sondern auch das, welches am wenigsten Kontinuität besitzt, da jeder einzelne der bisher erschienenen sechs Filme von einem anderen Komponisten vertont wurde.
Michael Kamen
Der Film, der die noch immer anhaltende Welle an Superheldenverfilmungen startete, erwies sich musikalisch als recht problematisch. Regisseur Bryan Singer wollte ursprünglich John Ottman, mit dem er bereits an „Der Musterschüler“ zusammengearbeitet hatte, für die Musik, dieser war jedoch nicht verfügbar, weshalb schließlich der 2003 verstorbene Michael Kamen angeheuert wurde. Dessen erstes Konzept, ein sehr symphonischer, von Williams‘ „Superman“ und Elfmans „Batman“ beeinflusster Score, wurde vom Studio abgelehnt, das eine abstraktere und elektronischere Herangehensweise bevorzugte, möglicherweise angelehnt an Don Davis‘ Musik für „Matrix“. Zwar gibt es Themen, diese sind jedoch unterentwickelt – auf dem kommerziellen Soundtrack-Album noch mehr als im Film – dort ist nicht einmal ein „reines“ Statement des Hauptthemas zu finden. Stattdessen gibt es viel elektronisch verfremdetes Ambiente und düstere, abstrakte Klänge.
Kamen geht thematisch einen relativ einfachen Weg: Die beiden Hauptthemen des Soundtracks gelten den X-Men und der Bruderschaft. Das X-Men-Thema ist dabei ziemlich gut gelungen, denn es klingt einerseits durchaus heroisch, andererseits aber auch verzweifelt – es scheint mitunter fast, als müsse sich das Orchester zwingen, das Thema zu spielen, ebenso wie sich die X-Men zwingen müssen, Helden zu sein. Das Bruderschafts-Thema dagegen ist eine ziemlich merkwürdige, synthetische Marschkonstruktion, die wenig eingängig ist und sich nur recht schwer vom Rest unterscheidet. Das Hauptproblem beider Themen ist allerdings der Mangel an Entwicklung. Daneben gibt es noch einige weitere sekundäre thematische Ideen, u.a. für Logan und Rogue, deren Potential allerdings ebenfalls nicht ausgeschöpft wird. Kamens Musik und seine Themen wirken zusammen mit dem Film recht gut, aus dem Kontext gerissen allerdings weniger ansprechend. Und selbst im Film erschwert die elektronische Manipulation der Musik oftmals den emotionalen Zugang, sodass Kamens Musik zu „X-Men“ recht kalt daherkommt.
John Ottman
Für den zweiten X-Men-Film konnte Singer schließlich seinen bevorzugten Komponisten gewinnen, mit dem er später auch zusammen an Filmen wie „Operation Walküre“ und „Superman Returns“ arbeitete. „X2: X-Men United“ verzichtet auf die Verwendung der elektronischen Elemente und ist rein orchestral. Von diesem stilistischen Merkmal einmal abgesehen unterscheidet sich Ottmans Herangehensweise allerdings nicht allzu sehr von der Kamens, obwohl er dessen Themen verwirft.
Abermals gibt es ein X-Men-Thema, das sogar eine gewisse Ähnlichkeit zu Kamens aufweist, allerdings eindeutiger heroisch ist. Mir persönlich gefällt dieses X-Men-Thema von den vier, die zur Auswahl stehen, am besten, das Problem ist allerdings abermals die Verarbeitung: „X2: X-Men United“ gibt, so gut er auch sonst ist, leider kaum Gelegenheit, dieses Thema wirklich sinnvoll einzusetzen, da die X-Men den Film über in Kleingruppen unterwegs sind. Meistens taucht das Thema nur fragmentarisch auf, es fehlen leider die wirklich heroischen Einsätze, die dieses Thema am Anfang des Films zu fordern scheint. Es gibt noch weitere Themen, u.a. für Magneto, Mystique und Lady Deathstrike, doch diese haben alle ähnliche Probleme wie das Hauptthema des Films: Sie wirken unterentwickelt. Darüber hinaus sind sie relativ schwer wahrnehmbar und nicht besonders markant. Möglicherweise spekulierte Ottman ja darauf, diese Themen im zweiten X-Men-Sequel weiterentwickeln zu können, wozu es aber nie kam. Trotz dieser Probleme ist der zweite Soundtrack der Reihe in meinen Augen weitaus zugänglicher und besser hörbar als der erste. Sehr viel mehr als bei Kamen wäre hier Potential gewesen, das hätte ausgebaut werden können…
John Powell
Da Bryan Singer statt eines dritten X-Men-Films lieber „Superman Returns“ drehen wollte (und John Ottman gleich mitnahm), sprang Brett Ratner ein und lieferte ein eher enttäuschendes Finale der Trilogie. Ein Aspekt von „X-Men: The Last Stand“, das jedoch absolut nicht enttäuschend ist, ist die von John Powell komponierte Musik, wenn man davon absieht, dass es abermals kaum Kontinuität zum Vorgänger gibt.
Powell gilt, wie sich an diesem speziellen Score zeigt, zurecht als einer der besten und innovativsten Abkömmlinge der Hans-Zimmer-Schule, aus der auch die nächsten beiden X-Men-Komponisten stammen. Als er an die Aufgabe, für einen X-Men-Film den Soundtrack zu komponieren heranging, entschied er sich wohl dafür, aus den Vollen zu schöpfen, denn seine Arbeit ist unheimlich komplex, beeindruckend und wartet mit tollen Themen auf. Vom zurückhaltenden, eher elektronischen Ansatz Kamens entfernte sich Powell noch weiter, als John Ottman dies Tat, und wartet stattdessen mit voller, orchestraler Wucht auf. Seine Musik wirkt dabei mitunter fast schon verschwenderisch, wie sich zum Beispiel an Angels Thema zeigt. Besagter Mutant hat im Film eigentlich nur drei, vier recht kurze Auftritt, bekommt aber ein brillantes Leitmotiv, das ohne Probleme einen Angel-Solofilm hätte stemmen können.
Für die X-Men komponierte Powell abermals ein neues Gruppenthema, das vage an Ottmans erinnert, allerdings ein wenig energetischer und dafür weniger heroisch ist. Und wie bei Ottman ist es ein wenig unterentwickelt, da es, aufgrund der Handlung, einfach nicht oft genug zum Einsatz kommen kann; dennoch gibt es die eine oder andere nette Action-Variation und auch einen angemessenen traurigen Einsatz bei Tod und Begräbnis von Charles Xavier.
Der eigentliche Star, und ebenso das dominanteste Leitmotiv, ist jedoch das Phönix-Thema, ein zugleich bedrohliches und tragisches Stück, das gekonnt in die Struktur des Soundtracks eingewoben und kreativ variiert wird.
Somit ist Powells Arbeit sowohl der thematisch befriedigendste als auch der komplexeste X-Men-Score – in der Tat bin ich der Meinung, dass dieser Soundtrack für dritten X-Men-Film zu gut ist.
Harry Gregson-Williams
Wie auch John Powell entstammt Harry Gregson-Williams der Hans-Zimmer-Schule und gehört in den Augen vieler zu den besten „Absolventen“ – allein schon wegen seiner Musik zu Ridley Scotts „Königreich der Himmel“. Seine Arbeit für das erste X-Men-Spin-off (Regie: Gavin Hood), in dessen Zentrum freilich kein anderer als der klauenbewährte Kanadier Wolverine steht, ist allerdings sowohl von „Königreich der Himmel“ als auch von den X-Men-Soundtracks von John Powell und John Ottmann qualitativ ziemlich weit entfernt; die Musik zu „X-Men Origins: Wolverine“ lässt sich am besten als „Gregson-Williams auf Autopilot“ beschreiben. Gregson-Williams wendet sich von den eher organischen Ansätzen seiner Vorgänger ab und baut mehr auf Elektronik. Leider ist das Ergebnis eher dröge. Am hervorstechendsten ist noch das Thema für Logan, das durchaus gut ins Ohr geht – für einen Helden wie Wolverine allerdings ein wenig unpassend klingt, da es sich irgendwie nach „Königreich der Himmel“ und „König der Löwen“ anhört. Davon einmal abgesehen ist „X-Men Origins: Wolverine“ leitmotivisch ziemlich uninteressant. Es gibt noch einige, kaum entwickelte weitere Ideen, etwa den Ansatz eines Liebesthemas, doch diese sind nicht wirklich hervorstechend.
Auch Gregson-Williams kümmert sich nicht wirklich um musikalische Kontinuität zu den anderen Filmen; zugegebenermaßen gibt allerdings auch so gut wie keine Gelegenheit, eines der Leitmotive von Kamen, Ottman oder Powell aufzugreifen.
Henry Jackman
Für den Ausflug in die Gründungszeit der X-Men wandte sich Regisseur Matthew Vaughn an einen weiteren Zimmer-Zögling. Mit Henry Jackman hatte er bereits an „Kick-Ass“ gearbeitet, und diese Partnerschaft setzten sie fort.
Jackman orientierte sich abermals nicht an bereits bestehenden leitmotivischen Konstrukten (mit einer Ausnahme, in dem Stück Mobilise for Russia zitiert er kurz Kamens X-Men-Thema), wählte aber einen ähnlichen Ansatz wie Michael Kamen: Der Soundtrack wird von zwei Themen dominiert, einem heroischen Gruppenthema für die X-Men und einem eher negativen Thema, das allerdings nicht Sebastian Shaw, dem eigentlichen Schurken des Films, gilt, sondern Magneto.
Jackmans Musik, die stark von der E-Gitarre dominiert wird, ist unterhaltsamer als Gregson-Williams‘ Wolverine-Material, allerdings ist es auch ein ziemlich stereotyper Remote-Control-Soundtrack, der seinen Zweck im Film erfüllt, darüber hinaus allerdings kaum etwas zu bieten hat. In der Tat teilt er viele Schwächen des derzeitigen RCP-Outputs: Die Themen klingen mitunter eher wie die Begleitung zu einem Thema als wie ein richtiges Leitmotiv (eine Schwäche, die zum Beispiel auch Ramin Djawadis „Kampf der Titanen“ plagt). Im Fall von Magnetos E-Gitarren-lastigem Thema trifft dies in der Tat zu. Das, was im fertigen Soundtrack Magnetos Thema ist, war ursprünglich die Begleitung, Matthew Vaughn gefiel die vorgesehene Melodie allerdings nicht, weshalb aus der Begleitung das Thema wurde. Interessanterweise funktioniert das bei Magnetos Thema allerdings noch recht gut, es ist zwar sehr simpel, aber unleugbar kräftig und distinktiv, während das Jackmans X-Men-Thema äußerst austauschbar und uneigenständig daherkommt, besonders, wenn man es mit den anderen drei von Kamen, Ottman und Powell vergleicht.
Marco Beltrami
Egal wie man zu Marco Beltramis Musik für Wolverines zweiten Solo-Film steht, eins ist nicht zu leugnen: Sie unterscheidet sich fundamental von allem, was bisher im Franchise zu hören war. Beltrami, der für The-Wolverine-Regisseur James Mangold u.a. die Musik für „Todeszug nach Yuma“ komponierte und mit „Hellboy“ und „Blade II“ auch schon Comicerfahrungen sammelte, wählte für diesen Film einen Ansatz, der das Hören dieses Soundtracks außerhalb des Films zu einer eher schwierigen Erfahrung macht. Beltrami setzt weniger auf Leitmotive und mehr auf extrem harsche orchestrale Strukturen, versetzt mit japanischen Instrumenten wie der Taiko-Trommel. Das Endergebnis ist zweifellos interessant und funktioniert im Film halbwegs akzeptabel, ist allerdings als reines Hörerlebnis ziemlich anstrengend.
Ein Thema für Wolverine existiert zwar, allerdings ist es recht fragmentarisch, unmarkant und sehr schwer herauszuhören, am deutlichsten kommt es im vorletzten Stück des Albums, Where To?, zur Geltung. Interessanterweise ist es Harry Gregson-Williams‘ Wolverine-Thema gar nicht so unähnlich – es stellt sich nur die Frage, ob das absichtlich oder zufällig ist.
Ausblick und Fazit
Durch die Komponistenwechsel existiert im X-Men-Film-Franchise leider fast keine stilistische oder leitmotivische Kontinuität. Kamen, Ottman, Powell, Gregson-Williams, Jackman und Beltrami versuchen gewissermaßen alle, das Rad jedes Mal neu zu erfinden, mit gemischten Resultaten. Das könnte sich allerdings ändern. Bryan Singer kehrt für „X-Men: Days of Future Past“ zu Marvels Mutanten zurück, und es wurde bereits bestätigt, dass er John Ottman mitbringt. Ich erwarte zwar nicht, dass Ottman die Themen der anderen Komponisten verwendet (obwohl ich es begrüßen würde), aber ich denke, die Chancen stehen nicht schlecht, dass er zumindest sein eigenes Material als Grundlage verwendet und so ein wenig Kontinuität ins X-Men-Universum bringt.
Siehe auch:
Marvel-Musik Teil 2: Iron Man
X-Men: Days of Future Past – Soundtrack
X-Men
X-Men: First Class
Wolverine: Weg des Kriegers