Gehenna: Die letzte Nacht

Halloween 2012

Beim Sujet dieses Reviews handelt es sich um das erste aus der Welt der Dunkelheit stammende Druckerzeugnis, das ich erwarb. Damals hatte ich mich durch das PC-Spiel „Vampire: The Masquerade – Bloodlines“ endgültig in die Welt der Dunkelheit verliebt und wollte diesen faszinierenden Kosmos weiter erforschen. Bevor ich also begann, mir diverse Vampire-Regelwerke zu kaufen, versuchte ich es zuerst mit einem Roman.
Das interessante bei „Vampire: The Masquerade“ ist, dass dieses Rollenspielsystem, wie viele andere aus der Welt der Dunkelheit auch, von Anfang an ein einen Endpunkt besaß, der quasi „angesteuert“ wurde: Gehenna, die vampirische Apokalypse. Über den Verlauf der Jahre wurde der sogenannte Metaplot, der sämtliche Quellenbände des Rollenspiels miteinander verband, immer stärker und steuerte eindeutig auf ein Ende hin, das 2004 schließlich auch eintraf. In diesem Jahr bekam jedes der drei großen Spiele des White-Wolf-Verlages – „Vampire: The Masquerade“, „Werewolf: The Apocalypse“ und „Mage: The Ascension“ – sowohl einen Hardcover-Quellenband mit Weltuntergangsszenarien als auch einen Roman dasselbe Thema betreffend spendiert. Zwar bezieht sich diese Rezension spezifisch auf den Roman, allerdings wird der gleichnamige Quellenband zu Vergleichszwecken mit herangezogen, nicht jedoch die Apokalypsen der anderen Spielreihen. Zuerst einmal sei erwähnt, dass sich Roman und Quellenband nicht decken. Der Quellenband allein enthält schon vier völlig verschiedene Weltuntergangsszenarien; dem fügt der Roman noch ein fünftes hinzu. Ebenfalls erwähnt werden muss, dass dieser Roman sehr stark mit dem Metaplot arbeitet und sich auf diverse Ereignisse aus Romanen und Rollenspielbänden bezieht. Wer ausschließlich Wissen auf den beiden PC-Spielen „Vampire: The Masquerade – Redemption“ und „Vampire: The Masquerade: Bloodlines“ mitbringt, wird sich zwangsläufig irgendwann am Kopf kratzen, obwohl die Hauptfigur des Romans, der Vampirarchäologe Beckett, immerhin schon aus dem zweitgenannten Spiel bekannt ist.
Und wie entfaltete sich der Weltuntergang?
Die Gesellschaft der Vampire war noch nie angenehm; Verrat, Intrigen und Machtpoker sind allgegenwärtig, Camarilla und Sabbat, die beiden großen Vampirsekten, bekämpfen sich seit Jahrhunderten gnadenlos, jedes Individuum und jede Gruppierung strebt nach Machtgewinn. Doch so langsam wird alles extremer: Ein ganzer Clan, die Ravnos, wurde vernichtet, uralte Vampire erwachen, die Dünnblütigen übernehmen in Los Angeles die Macht und die Vorzeichen Gehennas, die im Buch Nod, der „Vampirbibel“ prophezeit werden, scheinen einzutreffen. Und dann ist da noch das Welken: Das Blut Kains scheint schwächer werden. Immer mehr Vampire, vornehmlich Ahnen, stellen fest, dass ihre Kräfte nicht mehr so zuverlässig sind wie früher und dass sie sich matt und kraftlos fühlen. Manche erleiden gar den Endgültigen Tod. Es gibt einen Weg, dem Welken zu entkommen: Die Diablerie, der vollständige Konsum des Blutes anderer Vampire, doch dabei handelt es sich innerhalb der Camarilla um eine Todsünde. In Zeiten wie diesen zeigen alle Vampire schließlich ihr wahres Gesicht: Die Camarilla wird in ihrem Bemühen, die Maskerade aufrechtzuerhalten und ihre Macht zu bewahren, immer stärker zur faschistischen Diktatur: Dünnblütige und Andersdenke werden in Lager verfrachtet, die den vom Welken geschwächten Ahnen als Büffet dienen. Währenddessen verschlingt sich der Sabbat selbst, Rudel junger Kainiten fallen über die Sabbat-Ahnen her und marodieren ohne Zurückhaltung. Als ob dies nicht genug wäre verschwinden zwei weitere komplette Clans, die Tremere und die Tzimisce, und Geschichten von einer Wolke aus purer Finsternis und von einem Nebel der Vampire vernichtet, machen die Runde.
Der Gangrel Beckett, Archäologe, Experte für vampirische Geschichte und Mythen und anerkannter Zweifler an Gehenna, macht sich, während überall das Chaos tobt, zusammen mit dem rätselhaften Ahnen Kapaneus auf die Suche nach den Ursachen. Zuerst will er noch nicht glauben, dass die Apokalypse über die Vampire hereingebrochen ist, doch schon bald bleibt ihm keine Wahl.
Mit „Gehenna“ bemüht sich der Autor Ari Marmell, der zuvor zwar schon Quellenbände, aber noch keinen Roman verfasst hat, viele der losen Enden des Metaplots aufzugreifen. Neben Beckett tauchen auch viele andere Vampire-Signatur-Charaktere auf, u.a. die Lasombra-Erzbischöfin Lucita, der Brujah-Archont Theo Bell, die Toreador Victoria Ash, der Venrue und Camarilla-Gründer Hardestadt und, und, und. Marmell bemüht sich, ein möglichst breites Bild des Weltuntergangs zu zeichnen, was dafür sorgt, dass es mitunter sehr kurze Kapitel und viele Szenen- und Perspektivwechsel gibt. Der Kenner freut sich natürlich über die vielen Anspielungen, aber, wie oben bereits erwähnt, für jemanden, der sich nur sporadisch mit „Vampire: The Masquerade“ beschäftigt hat, ist das Ganze möglicherweise ein wenig überfordernd. Manche Anspielungen sind gar völlig unnötig, etwa die Erwähnung Jan Pieterzoons und der Gründung der Nephtali. Dies ist eine Anspielung auf das Szenario „Nachtschatten“ aus dem Gehenna-Quellenband, das mit dem Roman allerdings nicht kompatibel ist. Sehr viel gelungener sind da andere Anspielungen, etwa die Verweise auf „Das rote Zeichen“ oder „Nächte der Prophezeiung“.
Um „Gehenna“ richtig bewerten zu können, muss man sich auch darüber im Klaren sein, was der Roman ist und was er nicht ist. Trotz vieler Anspielungen ist „Gehenna: Die letzte Nacht“ weit davon entfernt, sämtliche Handlungsstränge aus 13 Jahren Vampire-Publikationen aufzugreifen. Wer ein „absolutes“ Ende sucht, wird darüber hinaus wohl enttäuscht sein, der Roman endet relativ offen, und obwohl wirklich eine Menge passiert und auch eine Menge in die Brüche geht, wird man manchmal doch das Gefühl nicht los, es handle sich lediglich um einen Prolog zu Gehenna, was möglicherweise auch damit zusammenhängt, dass lediglich zwei Vorsintflutliche auftauchen. Marmell hat sich offenbar bemüht, die Ansätz aus den Gehenna-Szenarien des Quellenbandes zu meiden; weder Lilith (die im Mythos von „Vampire: The Masquerade“ eine äußerst wichtige Stellung innehat), noch Saulot, noch der Vorsintflutliche der Tzimisce spielen eine Rolle.
Wer auf ein persönliches und charakterlich tiefschürfendes Ende hofft – immerhin wird „Vampire: The Masquerade“ als Spiel um persönlichen Horror angepriesen – wird wahrscheinlich ebenfalls enttäuscht. Es gibt einfach zu viele Figuren, als dass der Roman wirklich in die Tiefe gehen könnte. Am besten wird noch Beckett dargestellt, aber selbst dessen Charakterisierung wird oft zugunsten anderer Dinge zurückgestellt und hätte noch besser ausfallen können.
Stattdessen ist „Gehenna: Die letzte Nacht“ mehr Action denn Horror. Die Protagonisten müssen gegen die Zeit und den Weltuntergang anrennen und von Schauplatz zu Schauplatz hetzen, was der Spannung durchaus dienlich, der Atmosphäre aber abträglich ist. Horror, Abgründigkeit und dergleichen sind zwar vorhanden, aber eher am Rand und werden nicht ausgelotet. Es kommt also alles auf die Erwartungshaltung an: Spieler und Spielleiter, deren Rollenspiele eher auf Action und Spannung á la „Underworld“ ausgelegt waren, könnten mit „Gehenna: Die letzte Nacht“ vollauf zufrieden sein. Ein unterhaltsamer, spannender Roman ist Ari Marmells Debüt allemal, ob er allerdings dem Weltuntergang gerecht wird oder überhaupt gerecht werden kann ist eine andere Frage, denn die 400 Seiten sind eindeutig zu wenig. Letztendlich wäre es vielleicht nicht verkehrt gewesen, eine ganze Gehenna-Trilogie für diesen Anlass zu verfassen, möglicherweise auch in Form einer Anthologie, sodass das Ende der Vampire aus verschiedenen Perspektiven gezeigt werden kann, ohne dass alle Handlungsstränge letztendlich zusammengeführt werden müssen.
Wie dem auch sei, letztendlich gibt es kein einheitliches Gehenna, sondern fünf Versionen davon, die alle unterschiedliche Schwerpunkte setzen und dennoch z.T. lediglich wie ein Fragment von etwas Größerem wirken, das wohl nie das Licht des Tages (oder die Dunkelheit der Nacht) erblicken wird. Das hat sowohl Vor- als auch Nachteile. Ari Marmells Roman ist letztendlich nicht DAS , sondern nur EIN Ende, und ein relativ offenes dazu.
Fazit: „Gehenna: Die letzte Nacht“ ist ein spannender und unterhaltsamer Roman, liefert aber nicht das definitive Ende von „Vampire: The Masquerade“, sondern nur ein mögliches, das sich mit einigen Aspekten stärker beschäftigt als mit anderen, manches nur knapp anschneidet und anderes ganz fallen lässt. Letztendlich ist es fast eher ein Prolog zu Gehenna.

Halloween 2012:
Prämisse
Hellraiser
Hellraiser: Inferno
Hellraiser: Revelations
Sodium Babies
Die zehn besten Horror-Soundtracks
American Horror Story
Finale

Siehe auch:
Vampire: The Masquerade
Kindred: The Embraced (Clan der Vampire)