Dracula aus anderer Perspektive Teil 1: „Anno Dracula“

Nachdem ich in meinem letzten Artikel die „Twilight-Saga“ nach Strich und Faden heruntergeputzt habe, muss ich nun wohl auch Alternativen empfehlen.
Zur Zeit wird der Buchmarkt ja geradezu von „Bis(s)“-Klonen ertränkt, die zwar nicht alle unbedingt Meyers religiöse Ansichten teilen (und in denen die Vampire bis zuweilen auch vorehelichen Sex haben dürfen), aber davon abgesehen handelt es sich meistens um ebenso kitschiges und für mich unbrauchbares Material.
Der Vorteil der Twilight-Manie ist, dass im Rahmen des Hypes auch einige ältere Werke neu aufgelegt werden, die wirklich etwas taugen. Und wer weiß, vielleicht ist ja auch unter den Neuerscheinungen hin und wieder das eine oder andere Kleinod versteckt.
Eines der brauchbaren älteren Werke ist der Roman „Anno Dracula“ von Kim Newman, der zusammen mit seinen beiden Fortsetzungen „Der Rote Baron“ und „Dracula Cha-Cha-Cha“ unter dem Namen „Die Vampire“ in einem Band herausgebracht wurde.
In dieser Trilogie, bzw. dem ersten Band, entwirft Kim Newman eine faszinierende alternative Zeitlinie, beginnend im viktorianischen London: Van Helsing und seinen Mitstreitern ist es nicht gelungen, Dracula zu töten, weshalb der Vampirgraf sich an die verwitwete Queen Victoria heranmacht und kurz darauf zum neuen Prinzgemahl wird und eine Vampirdiktatur in Großbritannien errichtet. Die Vampire leben von nun an vollkommen öffentlich und werden Teil des Alltags.
Doch auch wenn die Herrschenden Vampire sind, geht nicht alles völlig problemlos. Denn in den Straßen Whitechapels geht ein Mörder um, der Vampirprostituierte tötet und von der Bevölkerung „Silver Knife“ genannt wird. In einem Schreiben gibt er sich allerdings selbst den Namen „Jack the Ripper“.
Um die öffentliche Ordnung nicht zu gefährden, werden zwei Ermittler auf die Spur des Rippers angesetzt: Die Vampirahnin Geneviève Dieudonné und Charles Beauregard, ein Mitglied des Diogenes-Clubs.
Zwar ist Kim Newmans Schreibstil bei Weitem nicht so angenehm und leicht zu lesen wie der von Stephenie Meyer, aber dafür hat Anno Dracula so viel mehr zu bieten als die „Bis(s)-Reihe“. Denn neben interessanten Hauptcharakteren und einer atmosphärischen Geschichte zeigt Kim Newman mit diesem Roman auch seine Kenntnis und umfassende Liebe zur viktorianischen Literatur sowie zum Vampir in allen Medien.
Ganz ähnlich wie Alan Moores Comic „Die Liga der Außergewöhnlichen Gentlemen“ handelt es sich bei „Anno Dracula“ um eine große Zusammenkunft verschiedener literarischer und filmischer Figuren. Neben Dracula selbst und anderen Figuren aus Bram Stokers Roman (wie zum Beispiel Arthur Holmwood, Mina Harker oder Jack Seward) tauchen unter anderem auch Charaktere wie Mycroft Holmes (Sherlock Holmes Bruder aus Arthur Conan Doyles Romanen und Kurzgeschichten), Inspektor Lestrade (ebenfalls Arthur Conan Doyle), Basil Hallward (der Maler des „Bildnis des Dorian Gray“ von Oscar Wilde), Doktor Jekyll (aus Stevensons „Der seltsame Fall des Doktor Jekyll und Mister Hyde) und noch Haufenweise weitere Figuren dieser Epoche auf. Natürlich bedient sich Kim Newman auch an dem reichen Vampirfundus, der sich in den letzten hundert Jahren angehäuft hat. So ist Lord Ruthven (der erste Gentlemanvampir aus John Polidoris Novelle „Der Vampir“) Premierminister von Großbritannien und Graf Orlok (aus Murnaus Stummflim „Nosferatu“) fungiert als Wächter des Towers von London, in dem regimefeindliche Vampire interniert werden.
„Anno Dracula“ ist, auch wenn nicht ganz leicht zu lesen, ein hochintelligenter und extrem gut ausgearbeiteter Roman, der sich für jeden Liebhaber von viktorianischer und/oder Vampirliteratur zu lesen lohnt.

Siehe auch:
Dracula aus anderer Perspektive Teil 2: „Der Vampir“ und „Vlad“
Dracula aus anderer Perspektive Teil 3: „Auf Draculas Spuren“
Dracula aus anderer Perspektive Teil 4: „Bram Stoker’s Dracula“
Dracula aus anderer Perspektive Teil 5: „Der Rote Baron“
Dracula aus anderer Perspektive Teil 6: „Dracula Cha-Cha-Cha“

2 Gedanken zu “Dracula aus anderer Perspektive Teil 1: „Anno Dracula“

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